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16. Kapitel

Pastor Bohlen

Unterdessen war Reimer auf Urlaub nach der Heimat gefahren. Er fand die Eltern still und bedrückt. Sie sprachen seltener miteinander als früher. Der Vater war ja immer schweigsam gewesen; aber nun war auch die Mutter verstummt, die früher alles, was ihr Sorge machte und ihr durch den Sinn fuhr, in den Vater hineingeredet hatte. Hatte er auch nicht viel geantwortet, so hatte es doch ihre Seele befriedigt. Wie zwei Hirten immer wieder, immer wieder um ihre Herde gehn, die ihnen beiden gehört, so waren sie immer nebeneinander um die kleine Herde ihrer Kinder gegangen. Aber jetzt ging jeder für sich. Jetzt sah jeder ein jedes Kind nur mit seinen eignen Augen an; und ihre Augen waren sehr verschieden voneinander. Die Mutter wunderte sich über ihre Kinder und schalt sie, war aber für alle guter Hoffnung. Der Vater liebte sie; aber war in Not um sie. Am meisten waren die stillverborgenen Gedanken um den Geflohnen beschäftigt; und auch hier war der Gegensatz: die Mutter klagte um ein ungerecht beschuldigtes und unglückliches Kind, der Vater war zerrissen um ein verdorbenes. Emma ging immer noch zu Schuster Ehlers, aber es war klar, daß sie jetzt mit ruhigerer Seele von da zurückkam. Sie hatte sich in diesem innigen neuen Glauben jetzt zurechtgefunden und eingelebt, und hatte nun Stärkung darin. Dazu ging sie auch noch sonntäglich in die Kirche und hörte Pastor Bohlens Predigten, der ein klares, kraftvolles Wort von der Menschen Sünde sprach, aber ein kräftigeres noch von Gottes Gnade. Auch das tat ihr gut. Als der Krieg ausgebrochen war, war sie zuerst sehr still gewesen, und die Eltern hatten schon gefürchtet, daß es schlimmer mit ihr würde, ja, daß sie ganz verwirrt würde. Als aber Harm und Reimer in den Krieg gezogen waren, und hier und da ein Bekannter fiel, und sie die herzzerreißende Angst der Mutter sah, da kam im Gegenteil eine Kraft über sie. Sie stellte sich dicht an die Mutter, wie wenn es die bedrohte Stelle wäre, half ihr vom Morgen bis Abend, und versuchte sogar, in unbeholfenen Worten ihr Mut einzureden. Und so, indem ihr Glaube ihr nun half ... daß der liebe Gott über den Teufel, trotz all seiner behenden Ausflüchte bei beharrlichem Beten und Singen die Oberhand behielte ... und sie kräftig mitarbeitete, und die tapfre Art der Mutter wieder mehr Einfluß auf sie gewann, wurde sie körperlich kräftiger und blühte auf, und ihre Anfälle wurden seltener, und die Mutter ließ sie ungestört, ja hörte es nicht ungern, wenn sie in der Küche, im Garten oder unter der Kuh, mit rührend gottesfürchtiger Stimme ein geistlich Verslein von unsres Heilands Tod und Gottes Erbarmen sang. Freilich das liebe Lachen, das ihrem ernsten gotischen Prinzessinnengesicht so wunderbar gut gestanden, weil ihr Gesicht eigentlich zu ernst zu irgendeinem Lachen war, das war verschwunden. Aber den Knecht, über den sie sonst mit jedermann gesprochen hatte, und zwar völlig harmlos, sprach sie nun, seit sie gesundete, nicht mehr. Die Mutter meinte erst, sie hätte ihren Glauben an ihn aufgegeben und dies wäre nun abgetan. Als sie aber eines Tages ihrerseits von ihm anfing, da wurde ihr Kind rot und warf einen scheuen Blick auf die Mutter. Und da sah die Mutter, wie es um sie stand, daß sie den Knecht liebte, und daß sie sich ihrer Liebe jetzt bewußt war. Da erschrak sie erst sehr. Nachher aber, da sie darüber nachdachte, schien es ihr in ihrem tapfern weiblichen Sinn, daß sie sich fast darüber freuen könne: so war ihr Kind doch in diesem auf dem Weg der Natur und Gesundheit, daß sie liebte, wie andre Weiber; und sie summte an diesem Tag ein wenig bei ihrer Arbeit, was sie lange nicht getan hatte.

Dies alles und was sonst geschehen war, erzählte sie ihrem jungen Sohne Reimer, der in seiner hübschen Uniform, mit seiner noch etwas schmalen, knabenhaften Figur mit kurzgeschnittenem Haar ihr gegenübersaß. Wie war der Junge gewachsen! Und was war er verständig geworden, und was hatte er für schmucke, feurige Augen! Nein, wie selig sie war! So einen schmucken Jungen gab es weit und breit nicht! Es war eine Veränderung zum Erstaunen! Was wohl noch aus ihm werden würde! Sie war so voll von Verwunderung, daß sie unter dem Vorwande, sie hätte noch im Stall zu tun, komme aber gleich wieder, nach dem Stall ging und zum erstenmal nach langer Zeit wieder in ihrer frischen, fordernden Art zu ihrem Mann sagte: »Was sagst du nun zu Reimer?!«

Der sah gedankenverloren auf, verstand sie aber sogleich und sagte, ein wenig ermuntert von ihren Augen: »Ja, wenn er glücklich durch den Krieg kommt...«

Sie hatte so die Ansicht vom Krieg, daß man den meisten Kugeln entgehen könne, wenn man sich rasch dreimal umdrehte, und daß man überhaupt durch Klugheit und Gewandtheit ziemlich sicher wäre, und wer war klüger, als er? »O,« sagte sie, »warum nicht? Der wird sich schon durchschlagen!« Und sie sah ihn in der alten, lieben, ermunternden Weise an, die ihm das Herz bewegt hatte, als er zweiundzwanzig war und um sie gefreit hatte.

»Ja, du!« sagte er in demselben Ton, in dem er ihre Ermunterungen damals erwidert hatte. Mehr brachte er in seiner Weise nicht über die Lippen; und das Lächeln, das er versuchte, war traurig.

Da kam sie wieder nach der Küche und sprach mit ihrem Jungen und freute sich an dem zarten, schmucken Mannsbild; denn obgleich sie über fünfzig war, war sie noch ein völlig frisches Weib. »Weißt du,« sagte sie, »was die große Veränderung an dir ist?«

»Nun?« sagte er und sah sie neugierig an; denn er sprach nicht allein gern über andre Menschenseelen, am liebsten sprach er über sich selbst.

»Du bist nicht mehr so sicher und so prahlig,« sagte sie neckend.

Er erkannte es selbst, da sie es sagte, wurde ein wenig rot und lächelte: »Ja ... Mutter,« sagte er, »all die vielen, neuen Menschen, und darunter so viele ältere, die man kennen lernt, und dann die Offiziere, unter denen mancher mächtig klug ist! Und man wird ja auch älter, Mutter!« Und dann wurde er sehr ernst und sagte: »Und weißt du, Mutter: so einfach ist es ja auch nicht! Als wir damals den Vorstoß nach Dover zu machten ... wir fuhren aus, als es dunkel war ... ich war munter und guter Dinge ... war nichts als Neugierde. So um drei Uhr nachts kamen wir in die Gegend, wo die Engländer ein Minenfeld gelegt hatten und Netze und Ketten. Sie konnten auch jeden Augenblick aus dem Dunkel auftauchen ... jeden Augenblick. Ich stand am Torpedorohr; das war mein Platz. Wir waren ganz allein ... das kleine, schwarze Boot und die neunzig Mann auf dem weiten, mächtigen, nachtdunklen Meer! Da sah ich plötzlich, wie der Obermaat ... er ist ein verheirateter, ernster, schöner Mann ... seine Mütze in der Hand hatte ... nur einen Augenblick lang ... und mit gebeugtem Kopf stand; sieh, da merkte ich erst, was mit uns war ... daß es auch anders kommen konnte ... daß ich da in der nächsten Minute treiben konnte, da auf der Welle oder auf jener andern, ein stiller Toter. Davon wird man älter, Mutter.«

Sie erschrak und schwieg und war eine Weile nach ihrer Art ganz aus dem Weg geworfen. Dann schüttelte sie den Kopf, als wenn sie solche Gedanken von sich stieße, und sagte mit großem Aufatmen: »Wenn du so etwas sagst, kann ich dich nicht brauchen! Geh ... ich muß in den Stall, und habe keine Zeit mehr für dich.«

In den ersten vierundzwanzig Stunden stand er so im Hause und Hof und Garten umher und fragte mit großer Neugierde nach allem und jedem. Und ging in die Küche zur Mutter und beschwerte sich mit großen Worten, daß sie ihm nicht geschrieben hätten, daß sie zwei neue Obstbäume gepflanzt hatten und daß Nachbar Jahn die Wand seiner Scheune hatte flicken lassen. Er sagte, sie müßten ihm alles und jedes schreiben. Wie er sich sonst ein Bild machen könne?! Wie er sonst mit ihnen leben könne?! Denn ob in Wilhelmshaven oder hier unter ihnen: er lebe immer mit und unter ihnen. Er ging um alle Ecken und sah in alle Winkel und kuckte jeden an, als wenn er ihm durchs Herz sehen wollte, und fragte so viel, daß das Mädchen abends ganz ärgerlich sagte, sie habe ihm erzählen müssen, was sie bisher noch keinem Menschen erzählt, wonach auch kein Mensch sie gefragt hätte; aber sie hätte es tun müssen; er hätte eine Art zu fragen: er frage das Kalb aus der Kuh.

Aber mit dem Prahlen war es in der Tat nicht mehr so. So ein Kann-Alles, Weiß-Alles war er nicht mehr. Er war nachdenklicher und bedenklicher geworden und war ins Stutzen und Verwundern gekommen, und stand nach seinem Fragen oft in Sinnen und Schweigen, einen überernsten Ausdruck in dem jungen Gesicht. Das ihm angeborne von den Vätern ihm vererbte Gut, das ihn so reich und groß gemacht hatte, wurde nun vom Leben und von der Welt bestürmt, und geriet ins Wanken, und kämpfte mit der Welt und schwerer Wirklichkeit.

Als er alles besehn und genau durchforscht hatte, ging er ins Dorf, um Pastor Bohlen zu besuchen, der ihn in den letzten Jahren in Deutsch, Geschichte und Englisch unterrichtet hatte. Danach wollte er zu seiner Liebsten gehn.

Pastor Bohlen, schon über fünfundzwanzig Jahre in der Gemeinde, stammte aus dem Nachbarkirchspiel und war der Sohn eines armen Mädchens; und war im Hause seines Großvaters, eines Wattarbeiters, Fischers und Strandläufers, sehr arm und kümmerlich groß geworden. Er hatte mit diesem Großvater, der ein rauher, rücksichtsloser und leidenschaftlicher Mensch war, von klein auf ins Watt und ins Boot gemußt, oft dürftig gekleidet, immer schlecht genährt; und wenn der Großvater sich dann, was häufig am Tag geschah, einen Schluck aus der Branntweinflasche gegönnt hatte, hatte er sie auch seinem Enkel gereicht. Der Knabe war sehr begabt gewesen, so sehr, daß man in den Dörfern der Umgegend von ihm als von einem Wunderknaben sprach, und so waren sich denn sechs oder sieben Landleute einig geworden und hatten ihn auf die Lateinschule geschickt. Dort war es noch gut gegangen; er hatte auch ein gutes Abgangsexamen gemacht. Dann aber, als er Student war und sich selbst überlassen – er war von breitem, mächtigem Körper und großer, urwüchsiger Kraft – war die haltlose, unordentliche Natur seines Großvaters in ihm hervorgebrochen und er war in ein zeitloses, nachtwandlerisches Leben hineingeraten und leider auch ins Trinken, und war spät zum Examen gekommen. Dann, im Amt und weiterhin ledig, ganz sein eigner Herr, war es eine Zeitlang schlimm geworden. Er lief bei Tag und Nacht, wie Ebbe oder Flut es ihm bestimmte, die eine Gewalt über ihn zu haben schienen, viel in dem Vorland und im Watt umher und wurde zwar ein sehr guter Kenner des ganzen Strandlebens und ein geschätzter Ratgeber der Deichbehörden und der beste Freund aller Wattarbeiter,

Strandläufer und Hirten; aber er betrank sich oft auf diesen weiten, nassen und kalten Wegen, indem er bald allzulang in einer jener etwas unordentlichen Deichwirtschaften saß, bald, auf seinem Weg allein, der mitgenommenen Flasche so zusprach, daß er nächtlicherweile taumelnd ins Dorf heimkehrte. Allmählich aber, so mit den Jahren, gelang es ihm, eine Art Ordnung in seine Leidenschaft zu bringen, sie in eine Art Form zu gießen, derart, daß doch wenigstens sein Leben und sein Amt nicht ganz darüber in die Brüche gingen. Er war nun schon lange das, was man einen Quartalstrinker nennt. So etwa nach einem Vierteljahr, in dem er sich völlig nüchtern hielt, überfiel ihn tagelang die Gier, und er trank sich im verschwiegenen Hause toll und voll. Am dritten Tag hörte er damit auf und geriet sogleich, nachdem er ausgeschlafen hatte, in eine bittre Reue hinein, und las, noch in unordentlichem Haar und Anzug, einen Tag und eine Nacht lang in der Bibel, und zwar die allerschlimmsten Stellen, die es da gibt, und so, daß es ihm tüchtig auf den bloßen, sündigen Schädel herabhagelte. Am andern Tag aber, gegen Abend, erholte er sich allmählich und fand sich wieder als Mensch. Und dann holte er die Werke Fritz Reuters aus dem Schrank, und fand sich an dem Humor dieses edlen Menschen, der dasselbe Leiden wie er hatte durchs Leben schleppen müssen, wieder zu Menschengüte, Fleiß und Tüchtigkeit zurück, und zu seinen Möwen und Kiebitzen, Fledermäusen und allem Nachtgetier, das er liebte und das er in seiner dumpfen, unruhigen Seele aufsuchte. Die Gemeinde ertrug ihn, und nicht nur das: sie liebte ihn und hielt auf ihn. Sie dachte über sein Gebrechen menschlich und nannte es »seine Krankheit«. Sie erkannte, daß er das hatte, was viel wertvoller ist als Gerechtigkeit und schnurgrades Leben: das heiße und hilfreiche, tapfere und tüchtige Herz. Es war wie ein Übereinkommen in der ganzen Gemeinde, daß man verhinderte, daß sein Gebrechen über die Feldmark des Kirchspiels hinaus beredet und beurteilt wurde. Manches Kind des Kirchspiels, das am Sonntagabend, das Bündel mit der Wäsche unterm Arm, das Elternhaus verließ, erhielt noch an der Tür die Weisung: »Und dann erzähl' nicht, daß Pastor Bohlen wieder krank gewesen ist. Das geht die andern Leute nichts an!« Er war nun schon an sechzig Jahre, ein großer, breitschultriger, hagerer Mann von gebeugter, schlechter Haltung, mit großem, bartlosem Gesicht, in dem gütige Augen klug und tief flimmerten. Sein Haar, in dünnem Kranz rund um die kahle Stirn, war schon grau.

Das Pastorat war noch ein altes Strohdach, und da Pastor Bohlen auf Besserungen nicht drängte und das Kirchspiel gerne Geld sparte, etwas verfallen. Die alte breite Doppeltür hing stark schief, und die Glocke bimmelte klapprig, und setzte, nachdem sie schon eine Zeitlang geschwiegen, aus irgendeiner Ursache mit noch klapprigerem Ton wieder von neuem ein. Mitten in der Lehmdiele war ein Loch, daß man darüber zu Fall kommen konnte.

Die Haushälterin, eine ältere, gutmütige und einfache Frau, ließ sonst niemand zu Pastor Bohlen, wenn er seinen schlimmen Zustand hatte. Sie sagte dann den Besuchern: »Er ist krank,« oder »er ist noch krank,« oder »er ist noch nicht wieder so weit; aber morgen kannst du kommen,« oder »geh nur hinein ... er ist wieder hübsch, und liest in dem Reuterbuch.« Da sie sich aber heute morgen etwas mit ihm gezankt hatte, mußte sie sich rächen – wie der Mensch das so an sich hat – und sagte: »Geh du nur hinein; er ist ja wohl so weit! Und sonst schadet es auch nichts ... weder dir noch ihm ... Ihr seid ja auch alte Bekannte.«

Es war dem sehr ordentlichen und stark gerechten Reimer Ott in seiner schönen, blanken Uniform ein wenig ungemütlich; aber er war zu unsicher, um die Aufforderung abzulehnen und fortzugehen. Also ging er mit seinen jungen, federnden Schritten über die halbdunkle Diele um das wohlbekannte Loch herum und klopfte an und ging hinein.

Es war eine große Stube oder fast ein Saal mit niedriger, dunkler Decke; rund herum an den Wänden standen Schränke mit allerlei ausgestopftem Strandgetier und ihren Eiern und andere Sammlungen; an der einen Wand stand auf dünnen Beinen ein eiserner sogenannter Beilegeofen. In der Mitte stand der große Tisch, an dem er so manche Stunde mit Pastor Bohlen gesessen und Weltweisheit mancher Art genossen hatte. Es war von den Linden, die dicht vor dem niedrigen Fenster standen, in dem niedrigen, tiefen Raum halbdunkel.

Pastor Bohlen saß groß und breit und hager, mit noch wüstem Haar und trübe schimmernden Augen, vor dem Tisch, beide Arme aufgestützt, und las in der Bibel, und wühlte und ordnete dazwischen in einer Menge allen Gold- und Silbergeräts und Schmucks, das auf der Tischplatte lag, das ihm die Gemeinde gebracht hatte, um es der Reichsbank zur Verfügung zu stellen. Darunter war ein großer alter Trinkbecher, den die Brandgilde hergegeben hatte. Das alte, goldene Gerät leuchtete seltsam scheu in dem Schein der Abendsonne, die dünn und spärlich in den Raum drang und mit ihrem letzten Finger noch eben seinen Rand erreichte.

Er schrak zusammen, als die Tür ging, und er seinen Schüler sah. Er schüttelte den Kopf und sagte bedrückt: »So siehst du mich, mein Junge ...«

Reimer Ott sagte rasch und betreten: »Soll ich wieder gehen, Herr Pastor Bohlen?«

Pastor Bohlen schüttelte wieder den Kopf: »Nein,« sagte er, »bleibe nur! Setz' dich ... da ... auf die Seite ... wie in alten Zeiten! ... Du weißt es ja doch schon lange ... sie wissen es ja alle ...« Er versuchte sein Haar glatt zu streichen und zog seinen Rock zurecht, und starrte vor sich hin. »Ich kann nichts dagegen machen,« sagte er. »Es kommt das Frösteln über mich, das ich damals als Kind im Watt hatte, wenn mein Großvater mich stundenlang auf dem Rücken oder an seiner Hüfte trug, und dann ist es da.«

Reimer Ott dachte: ›Wenn ein Mensch nur will, muß er widerstehn können,‹ und sagte verlegen: »Ich weiß, Herr Pastor Bohlen.«

Aber Pastor Bohlen war noch in seinem Stand der Reue und der Gewissensqual. »Ja, du sagst: ›ich weiß.‹ Und bist jung und stark, und denkst: ›er hätte es überwinden können!‹ Und das ist auch wahr. Ich ... mit meinen breiten Schultern und meinen starken Händen ... sieh doch, was für Arme ich habe! Nein, nein ... Gott hat mich wohl in der Tiefe aufwachsen lassen, aber er hat mir diese Arme gegeben ... ich sollte mir selbst heraushelfen. Aber ich bin träge gewesen; ein fauler Knecht bin ich gewesen!« Und indem er sein Haar mißhandelte und mit den Zähnen knirschte, stöhnte er unter Tränen: »Was bin ich? Was bin ich meinem Volk in diesen Jahren seiner Heimsuchung? Unsere Jugend liegt in Not und Schmutz, und fällt und stirbt. Unsere Frauen weinen; unsere Kinder leben ohne Freude. Und ich ... was tu' ich? Ich war vor einem Jahr beim Propsten und sagte, er solle mich gehn lassen in den Krieg ... so könnte ich noch etwas tun für mein Volk ... aber der Propst sagte, ich wäre zu alt ... ich sollte bleiben und meines Amtes walten.«

Reimer Ott sagte mit herzlich bewegter Stimme, in großem hervorbrechenden Mitleid: »Lieber Herr Pastor Bohlen, sagen Sie doch nicht, daß Sie nichts nützen! Sie helfen so vielen in dieser großen Gemeinde mit Ihren Predigten ... nun gar in dieser schweren Zeit ... und noch mehr mit Ihrem täglichen Zuspruch! Denken Sie einmal nach: Wenn Sie und Ihr Amt und die Kirche in der Mitte des Dorfes nicht da wären ... wieviel würde fehlen! Gar nicht zu reden von dem, was Sie so vielen einzelnen sind, mit jedem klugen, freundlichen Wort, das Sie ihnen sagen! Was haben Sie allein schon an meiner Schwester Emma und an mir getan? Wenn Sie nicht da wären, würde das Beste im ganzen Kirchspiel fehlen!«

Aber Pastor Bohlen wollte nichts davon hören; er saß noch in der Asche, und es war ihm innere Lust und Gier, sie sich noch dicker aufs Haupt zu werfen. Er schüttelte den Kopf und stöhnte: »Ach rede nicht so! Ich weiß, ich bin ein schlechter Knecht; ich bin nichts ... gar nichts!« Er vergrub sein Gesicht in seine Hände. »Denk doch nach ... wieviel versäume ich allein schon durch meine Krankheit! Als der Junge vom Briefträger unter den Wagen kam und starb und die arme Mutter laut weinend durchs Dorf ging und andere Leute sie zu trösten versuchten ... wo war da Pastor Bohlen? Der lag da in seiner Stube auf der Bank und trank ... Und als der Verdacht über Eggert Ott von Haus zu Haus lief und diese schreckliche Gefahr und Not über eurem Haus stand und jedermann hätte hinzuspringen müssen zu helfen, vor allem ich, der Pastor, wo war da Pastor Bohlen? Er lag und trank. Und nun verfolgen mich diese Begebenheiten, dieser tote Knabe und dein Bruder Eggert, der durch die Welt irrt, bei Tag und Nacht, und quälen mich. Nein, ich bin nichts wert ... gar nichts! Ich sollte diesen Becher, den der dumme Tönjes Arps mir brachte, obgleich er an meinen Augen sah, daß meine Notzeit mal wieder da war, und der mit seinem Gleißen mich verführte, daß ich ihn gleich, wie er fort war, bis zum Rand füllte und hinuntergoß ... ich sollte mir die Stirn damit einschlagen ... ja, das sollte ich! Aber das ist ja noch größere Sünde ... so davonlaufen! Und so sitze ich nun hier und lasse mir das Herz zerreißen von dem schrecklichen Wort Gottes!« Und er nahm den goldenen Becher in seine mächtige Faust und schlug damit auf die Bibel, daß die ganze Stube bebte. »Wenn die Engländer in Jütland landen und dringen in Schleswig ein, hält mich kein Propst und kein Bischof, dann nehme ich mein Gewehr ... meinen Seehunder ... und geh mit. Dann weiß ich, wozu ich da bin, ich armer Mensch!« Er knirschte mit den Zähnen und die Tränen strömten über sein Gesicht.

Reimer Ott war blaß geworden und bebte über den ganzen Körper. Tiefe Reue und Qual eines Menschen mit grauem Haar, dazu diese sonderbaren eigenen Ausbrüche einer inneren Natur, waren ihm etwas Neues, etwas Furchtbares. Es stand ihm der Atem still und er suchte mit seiner kühnen, ernsten Seele nach den Gründen, nach irgendeiner Erkenntnis, nach irgendeiner Erklärung, nach einem Glauben. Und plötzlich sagte er mit herzlicher Stimme: »Herr Pastor Bohlen, ich habe es niemals so erkannt ... ich habe es vielleicht überhaupt noch nicht gesehen ... aber jetzt sehe ich es, nämlich, daß Sie als ganze Persönlichkeit und in jeder einzelnen Äußerung ein Mensch mit einem großen schrecklichen Erbe sind! Es ist wirklich eine Krankheit, Herr Pastor, und nichts weiter ... ein Erbe ... und Ihre eigene Schuld ist nicht groß!« Er atmete hoch und schwer auf: »Ich bitte Sie, seien Sie gut gegen sich selbst!«

»Ja,« sagte Pastor Bohlen und seine Haltung und Stimme wurden etwas ruhiger: »Ich habe ein schweres Erbe. Ja, ich weiß. Vielleicht, wenn ich in meiner Kindheit in gute Hände gekommen wäre, so hätte ich das alte Erbe unterdrücken können. Wenn ich auch immer dagegen hätte kämpfen müssen, ich hätte es vielleicht öfter und besser besiegt. Aber nun war ich, das frierende und hungernde Kind, dem schlimmsten Lebensführer überlassen. Wenn du ein Mann wirst, mein Junge, dann sorge dafür, daß keinem Kind ein Unrecht geschieht! Das kann eine Menschenseele in einem ernsten, tüchtigen Volk wohl verlangen, daß sie in der Kindheit wohl behütet und gezogen wird! Ja, das sollte das erste des Staates sein. Wozu haben wir ihn sonst?«

Reimer Otts Augen leuchteten von einem schönen Licht: »Gerade das will ich tun, Herr Pastor, wenn ich älter geworden bin! Und ich danke Gott für diesen Augenblick ... denn so, so in der Tiefe, hatte ich es noch nicht gesehn, wie ich es jetzt sehe! Und nun ... wenn es so ist, Herr Pastor Bohlen, wenn es eine Not ist, die mit Ihnen geboren ist, und viel mehr Sünde an Ihnen begangen ist, als daß Sie sie selbst begingen, so sollten Sie sich ermuntern.«

Aber Pastor Bohlen schüttelte traurig den großen grauen Kopf. »Ach, Reimer, mein Junge,« sagte er, »ich bin ein armer hinfälliger Mensch, ich bin in allem hinfällig und unordentlich ... in allem!« Und mit Tränen in den Augen sagte er: »Sieh ... ich will es dir bekennen! Gerade dir ... was ich noch keinem Menschen gesagt habe! gerade dir, ihrem Sohn ... Sieh, als ich noch jünger war, zu der Zeit, als du und Emma, die Zwillinge, geboren waren, da war deine Mutter krank gewesen ... bei der Geburt ... und seitdem kam ich häufiger zu deinen Eltern. Dein Vater war auf dem Felde, und ich saß bei deiner Mutter und euch Kindern. Deine Mutter meinte, ich käme euretwegen so oft ... und wohl hatte ich Freude, besonders an euch beiden; denn ihr wart ein paar drollige Kinder. Aber ich will dir nun bekennen, damit ich nichts verstecke, weder vor mir noch vor Gott ... daß ich damals deiner Mutter wegen zu euch kam. Ich habe sonst kein Weib geliebt; aber sie hatte ich lieb. Sie hat es nicht gemerkt ... Gott sei Dank! Aber sieh ... mit mir ... mit mir stand es so!«

Da richtete sich Reimer Ott auf und sagte eilig und freudig: »Da irren Sie sich, Pastor Bohlen! Meine Mutter hat es wohl gemerkt, und hat es in ihrer Weise mit mir beredet, und zwar vor einem Jahr, in der Küche. Sie bespricht alles mit mir, und ich bin ihr dankbar dafür, und sie weiß, daß ich mit andern nicht darüber rede. Sie sagte: ›In den Tagen, als du und Emma klein waret, da kam Pastor Bohlen häufiger zu uns, als jetzt. Er tat, als wenn er euretwegen käme, aber ich merkte wohl, daß er meinetwegen kam! Und ich sage dir, mein Sohn Reimer, darauf bilde ich mir was ein! Denn Pastor Bohlen ist doch, ganz abgesehen von dem, was er für ein Amt hat und was er auf der hohen Schule gelernt hat, der vornehmste Mensch im Dorf, euer Vater natürlich ausgenommen, und was seine Krankheit angeht: ist da einer im ganzen Kirchspiel, der ohne Sünde ist?! ... Weißt du, was Pastor Bohlens einziger Fehler ist?! Nicht, daß er alle Vierteljahr sich mal satt trinkt, sondern daß er sich von dieser seiner Not und Krankheit auch nachher, wenn der Angriff vorüber ist, so niederhalten läßt! Wenn er getrunken hat, so soll er sich mit Reue und Qual nicht aufhalten, sondern mit beiden Füßen wieder ins Leben und in seine Arbeit hineinspringen! Wieviel versäumt er denn durch seine Krankheit? Es sind im ganzen Jahr vier Wochen, daß er krumm liegt; die ganzen übrigen elf Monate ist er treu bei seiner Arbeit; wie keiner sonst! Was tun denn die Bauern hier den ganzen Winter lang?! Sie stehn und sitzen umher, und schwatzen oder machen sich unnütze Gedanken!‹ So sagte meine Mutter, und dann sagte sie noch: ›Ich möchte ihm dies alles mal sagen, aber ich komm' nicht dazu, weil ich weiß, es schmerzt ihn, daß ich an seine Krankheit rühre! Hör': Du bist ja so'n hellischer Kerl und kannst Seelen behandeln ... wie du sagst ... sag' du es ihm! Und wenn es wirklich dazu kommt, daß du es ihm sagst und ich dann vielleicht nicht mehr bin, dann sag' ihm auch noch, daß es mir eine Ehre und Freude gewesen ist, daß er mich einmal gern gehabt hat vor allen anderen Frauen im Kirchspiel, und daß er sich gut gegen mich benommen hat! Ja, das sag' ihm!«

Pastor Bohlen hatte den Kopf in die Hand gelegt und weinte.

»Sie sollten dann und wann zu ihr gehn, Herr Pastor,« sagte Reimer Ott feurig. »Wenn ein Mensch dem anderen helfen kann, dann kann meine Mutter es!« Seine Augen strahlten von Liebe und Stolz auf seine Mutter.

Pastor Bohlen ließ die Hände von den Schläfen sinken und sagte mit ruhigerer Stimme – es war, wie wenn ein Sturm ausgerast hätte: »Ich danke dir, mein Junge ... du hast mir wohl getan ... ich danke dir! Und nun geh! Hör', warst du schon bei deiner kleinen Freundin im Nachbarhaus?! ... Und klettere doch mal in den Dachreiter der Kirche und sieh nach, ob du die Worte lesen kannst, die auf der alten Klingelglocke stehn, kein Mensch kann sie enträtseln ... Ich will hier noch ein wenig so stillsitzen und nachdenken ... du kannst mir noch den Band Reuter geben, du weißt ja, wo er steht ... gib mir den dritten Band ... ich will ein wenig in der ›Stromtid‹ lesen.«

Reimer Ott gab ihm das Buch und ging aus der Stube.

Die alte Wirtschafterin sah aus der Küche und fragte – sie hatte wohl ein schlechtes Gewissen –: »Wie war er? Ist er wieder hübsch?«

»Er macht sich jetzt hübsch,« sagte er, nickte ihr zu, und ging mit seinen jungen federnden Schritten an dem Loch in der Diele vorbei und aus dem Hause.

Draußen stand er eine Weile an der Gartenpforte, ganz benommen von dem, was er erlebt hatte. Es war das erstemal, daß er ein ganzes Menschenleben übersehn hatte, und es schien ihm, er hätte erfahren, daß das Menschenleben immer, immer unfertig bleibt, und währt es auch neunzig Jahre. Dazu hatte ihn auch der Jammer und die Not aufs tiefste bewegt, ihr Ausbruch nach außen hin ihn erregt. Das alles bedrückte ihn und wühlte in seiner Seele. Und in dem Gefühl, daß er dies alles noch lange nicht völlig begriffen hätte, sagte er leise bei sich selbst: »Ich muß über dies alles noch viel nachdenken.«

Und schon in diesem Nachdenken ging er die kleine Strecke der Dorfstraße entlang und kam zu der Pforte des Nachbarhauses. Da erst richtete er sich auf und spannte den Geist auf dies völlig andere: seine kleine Liebste zu sehen.


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