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21. Kapitel

Feuerbrand

Sie hatten, alle an Bord, jeder Mann, einen Busenfreund, einen, mit dem die Seele übereinstimmte, vor dem sie keine Geheimnisse hatte, dem sie die Nöte der Kindheit, das Urteil über die Eltern und die Nöte mit ihnen, die Zweifel über den Beruf, und von ihren Frauen oder ihren Mädchen, und zuletzt auch von ihren religiösen und sittlichen Gedanken und Bedenken erzählten.

Dieser Busenfreund kann niemals der Bruder sein; denn zwischen Geschwistern ist, in jüngeren Jahren wenigstens, von der Natur eine Schranke gesetzt, daß sie scheu gegeneinander sind, und jeder seinen eignen Weg gehe. Denn, mag das Herz es lieben, daß Brüder einträchtig beieinander wohnen, die Natur, die sich um das Behagen der Herzen nicht kümmert, hat viel eher Neigung, sie auseinander zu schicken.

Und so hatte Harm Ott nicht seinen Bruder Eggert zum Busenfreund, obgleich sein Bruder Eggert jetzt auch auf der ›Below‹ war.

Bruder Eggert hatte nach seiner infanteristischen Ausbildung einige Wochen auf einem Minensucher Dienst getan; aber da hatte es ihm nicht gefallen. Das Boot war ihm für seine freie Natur zu eng; er hatte auch Streit mit dem Steuermann bekommen, der ein allgemein gerechter Mann war und nicht verstand, die Menschen verschieden zu nehmen. Und so waren die Brüder in diesen Monaten in großen Sorgen um ihn gewesen, daß er bei seiner jähen, stolzen Natur eines Tags in schlimme Schwierigkeiten geriete. Also hatte Harm ihm sein Leben auf der ›Below‹ gelobt und ihn gebeten, er möchte doch einen Antrag stellen, daß er dahin käme. Solche Gesuche, mit einem Bruder vereint zu werden, wurden, wenn es irgend anging, genehmigt. Harm dachte, er könnte da über ihn wachen, und wenn es nötig wäre, zum Guten reden und wenden. Er aber wollte lange nicht. Er hielt sich sehr von den Brüdern zurück und kam nur selten und mit verschlossenem Gesicht zu den Zusammenkünften, die sie mit einigen Landsleuten und Bekannten hier und da in den Wirtschaften hatten. Auf Spaziergänge mit den Brüdern allein, die zu einem stillern Gespräch Gelegenheit gaben, ließ er sich nicht ein. Wenn sie ihn baten, sagte er mit knurrigen Worten: er hätte schon grade Familie genug hier. Er behauptete, er hätte Freunde gefunden; und das war wohl auch so. Aber es war den Brüdern traurig, daß er andre ihnen vorzog, und daß er weiter in Verstockung und Kälte beharrte.

Da schrieb Reimer, der mit brennender Seele allen Wegen seines Bruders nachlief, der Mutter, sie solle einen Brief schreiben, und schrieb ihr den ganzen Brief vor, so wie sie ihn ohne ihre leidige Gewohnheit, Kühe und Kälber voranzutreiben, kurz und bündig und ins Herz treffend abfassen sollte. Denn er war ja der Kenner der Seelen, der König der Herzen!

»Du schreibst ihn ganz genau so ab, wie er hier steht!« schrieb er. »Denn ich habe mich ganz und gar an Deine Stelle versetzt, so daß der Brief in Inhalt und Form gewissermaßen Deiner ist. Schreibe ihn also genau, mit jedem einzelnen Wort, mit jedem einzelnen Ausruf; und schreibe nichts dazwischen ... Sonst wehe Dir!«

Ja, so hatte er geschrieben! So lange die Kinder klein waren, war sie kurz und klar mit ihnen, fröhlich in ihrem mütterlichen Regiment über die kleinen Wesen. Wenn sie aber größer wurden, verlor sie allmählich die Herrschaft oder richtiger, gab sie auf und geriet mit ihnen in eine freundliche Neckerei und genoß nun in anderer Form und aufs neue, Mensch unter Mensch, meist siegend, zuweilen unterliegend, das Glück ihrer breiten, starken Natur.

Sie hatte Emma und den Ältesten von den Kleinen – sie mußte für alles, was sie tat und sagte, Ankläger und Verteidiger haben; sie tat nichts ohne eine ordentliche Gerichtssitzung – am Herd zusammengerufen und sich über die Zumutung sehr verwundert: »Nun lest doch bloß mal, wie der Junge an mich schreibt! Was denkt er sich?! Ich bin bei Rechenmeister Hansen in die Schule gegangen, vier Jahre auf der linken, der Unterseite, und ebenso lange auf der rechten, der Oberseite. Ich habe freilich die letzten vier Jahre das Unglück gehabt, hinter dem breiten Rücken von Thees Klaußen zu sitzen, der auch sonst noch unangenehme Eigenschaften hatte, und habe also nicht alles sehn können, was der Rechenmeister an der Tafel demonstrierte. Aber da ich einen offenen Kopf habe ... ja, das kann ich wohl sagen ... der Beweis dafür sind meine Kinder, Gott sei Dank! ... habe ich doch mein gut Teil gelemt.

Was die Jungen immer klagen ... das mit den Kühen und Kälbern ... so habe ich ja unter diesen mein Leben, und gehe also in meinen Briefen von denen aus, ganz wie Rechenmeister Hansen es mich gelehrt hat, wie man Aufsätze und Briefe schreiben muß: ›vom Nahen zum Entfernteren, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Maulwurf zu Gott empor.‹ So sagte er. Also, was wollen die dummen Jungs?« So redete sie, mit der Feuerzange ins Feuer stoßend. Als sie aber sah, daß der Brief bei der jähen Bewegung in Gefahr geriet, ins Feuer zu kommen, legte sie ihn zusammen, strich ihn glatt, sah ihn an und sagte bescheiden: »Ja, freilich ... so schön wie Reimer kann ich es nicht! Ja ... es ist wirklich ein schöner Brief, und wenn der Junge ... ich meine – der andre ... ein Herz im Leibe hat ... und das hat er trotz aller Wildheit: dann muß er den Jungen und mir den Willen tun und auf das Schiff Below gehn. Ja ... der Brief ist gut. Aber das will ich nur sagen, daß ihr euch über eure Mutter nicht erhebt: wenn ich so lange zur Schule gegangen wäre wie ihr und nicht den breiten Rücken von Thees Klaußen zwischen mir und dem Rechenmeister gehabt hätte, dann hätte ich es weiter gebracht, als ihr alle zusammen!«

»Ja, Mutter,« sagte Emma, mit ihrem ernsten, langen Gesicht und ihrer etwas langsamen Sprache, »mir scheint ... nun schreibst du den Brief genau so, wie Reimer ihn aufgeschrieben hat.«

»Fängst du auch schon an, wie die Großen?!« sagte Mutter Ott. »Aber das kommt davon, daß Pastor Bohlen den Hut vor dir abnimmt und sagt, du sähest aus wie eine gotische Prinzessin, obgleich du weiter nichts bist als Emma Ott! Geh hin und rühr' den Kälbern das Futter an!«

Nachdem sie sich ausgeredet hatte und den Kleinen beim Feuer angestellt, ging sie in die Stube und schrieb den Brief, den ihr klügster und wachster Sohn aus innerster Seele geschrieben hatte. Ganz ohne Einfügung und Zusätze ging es aber doch nicht ab; aber zum Zeichen, daß diese Einfügungen als solche und als zweitklassig zu schätzen waren, klammerte sie sie ein.

Lieber Eggert!

Ich bin ja doch Deine Mutter. Ich habe Dich mit Schmerzen geboren und habe viele Jahre lang vom Morgen bis zum Abend und, als Du den Scharlach hattest, vierzehn Tage lang bei Dir gewacht (dazu hatte ich damals sieben Kühe im Stall, wovon vier kalbten oder eben gekalbt hatten. Es waren schöne Kühe; aber Gott vergebe mir, ich habe mich in diesen Tagen über die ganze Milch nicht gefreut. Die Kälber hatte ich auch noch auf dem Halse). Jeden Tag, siebzehn Jahre lang, bist Du meine Liebe und meine Sorge gewesen, so daß, wenn mein Herz klopfte, ich nicht wußte, ob es für Dich oder für mich klopfte. Dann, an dem schwersten Tag meines Lebens, bin ich für Dich eingetreten und wäre gern mit Dir gelaufen, wie ich mit Deinem Bruder Klaus gelaufen bin (über Hochdorn und Hale ... Hale ist schon allein über ein und eine halbe Stunde lang. Es soll das längste Dorf in Holstein sein ... bis nach Rendsburg, wo wir ein großes Glück mit dem Hauptmann hatten. Was muß man doch an seinen Kindern erleben! Aber der Hauptmann hatte auch Kinder; und das war gut, lieber Eggert!). Denn wie kann eine Mutter ihres Kindes vergessen? Ich habe immer an Dich geglaubt, mein lieber, lieber Junge, mein guter, lieber Eggertl So bitte ich Dich nun, mein lieber Junge, tu Deiner Mutter die Liebe und geh zu Harm auf das Schiff Below und sei auch gut mit ihm! Sieh, er ist so ein ehrlicher, rechtlicher Mensch, mein Eggert, und er hat auch immer an Dich geglaubt und Reimer auch (bloß Vater nicht, aber der haut manchmal ebenso vorbei wie Pastor Bohlen. Pastor Bohlen hat übrigens wieder mal getrunken. Sage es aber um Himmels willen niemand, daß es keinem Ungerechten bekannt wird; denn er ist ja ein guter Mensch und auch tüchtig ... und auch Emma nicht, aber die ist offenbar in den Knecht verliebt, und verliebte Leute sind blind wie Hühner). Mein lieber Eggert! Das Haar Deiner Mutter ist in diesem Jahr grau geworden und wer weiß, ob es nicht bald weiß wird. Denn im Kriege kann kein Mensch sagen, was kommen wird. Ich bitte Dich, erbarme Dich Deiner lieben Mutter.

Lenchen Ott.

Dieser Brief wurde abgesandt, kam an und wirkte auch. Er wirkte, obgleich Eggert deutlich erkannte, daß er zum Teil bestellte Arbeit war. Aber so versteint er gegen den Vater war, und so vertrotzt gegen das Kirchspiel ...: ›Not und Tod über sie!‹ er knirschte mit den Zähnen, wenn er an sie dachte ... seine Mutter hatte an ihn geglaubt, ohne Wanken. Es tat, auch ohne daß es ihm selber klar wurde, seiner überstolzen, kranken Seele gut, daß sie ordentlich ein Schauspiel aufgeführt hatten, um zu erreichen, daß er auf die ›Below‹ ging.

Also erschien er eines Tages mit einigen andern Neulingen an der Reling und ging groß und breitbeinig, von diesem Augenblick an der stattlichste und gewandteste an Bord, in seine Kasematte ... er war Geschützmann und Kuttergast ... und war kurz und bündig mit Worten, aber nicht unfreundlich; und gefiel gleich allen mit seinen auffliegenden Augen und den raschen, lebendig schönen Bewegungen seiner Schultern und dem schmucken rötlichen Kopf. Und als Bruder Harm dafür sorgte, daß die Kasematte erfuhr, wie die Geschichte der Prise von der »Alten Liebe« gewesen war, wie sein Bruder in die Hände der Engländer gefallen und wieder herausgekommen war, war er ein geachteter Mann. Als aber sein Bruder nach einigen Wochen – er wartete solange damit – in der Kasematte so beiläufig fragte, da von Musik die Rede war, ob sein Bruder denn auch spiele, und die Kameraden ihn zur Rede stellten und er seine Mundharmonika hervorzog und Musik machte und er nach dem Spiel die Wiederholung mit schöner Stimme sang oder pfiff und sein Spiel entschieden besser war als das der Kasematte zwei Steuerbord, die eine sehr gute Musik hatte: da war er ein angesehner Mann. Er wurde es aber noch mehr, ja, er wurde eine Berühmtheit an Bord, unter den ganzen fünfzehnhundert Mann, als er und der Klavierbauer, der Sektenmann von der Nachbarkasematte, sich kennen lernten und mit ihrer Musik zusammenkamen. Welch ein Bild, allein, es anzusehn! Dieser kleine, städtische Württemberger mit dem kümmerlichen Körper, und dem kleinen, frommen Gesicht, und der breite, große, rotblonde Friese mit den großen, herrischen Bewegungen! Und was war das für eine Musik! Wie sanft wiegte der kleine Sektenmann den Kopf, wie versonnen und wohl tausend Meilen fern war seine Seele; und wie scharf und klar, wach und feurig waren die Augen des Friesen! Nein, wie sie spielten! Niemals hat man so etwas gehört! Wenn sie spielten: ›Willkommen, o seliger Abend‹, oder: ›Freiheit, die ich meine‹, oder: ›Nach der Heimat will ich eilen, will bei meiner Liebsten weilen‹, oder: ›Ein' feste Burg ist unser Gott‹ ... es erschien ihnen unbegreiflich, wie die beiden Seelen, dieser kleine, muckrige Württemberger, der keine Fliege schief ansehn konnte, und dieser wilde Rote mit der schönen, klingenden Stimme und den herrlichen, lebensvollen Bewegungen zusammenstimmen konnten! Jeder, der die beiden sah und dies Zusammenspiel hörte, mußte denken und dachte es auch: ›Wie merkwürdig ist das Menschenherz! Nichts ist wandelbarer, nichts schmiegsamer, nichts brüderlicher!‹ Nicht allein, daß die Kasematte voll von Gästen war, so daß einige oben auf dem Geschütz saßen und standen, und daß die Tür gedrängt voll war und alle versunken und versonnen in seligen Träumen standen und nur dann und wann die Augen auf die beiden Spieler wandten, die da in der Ecke saßen ... nein, der ganze Gang stand voll, und mancher Offizier blieb stehn und hörte zu. Ja, es war großartig mit Eggert Ott! Und wie tüchtig er im Dienst war! Wer war der körperlich Gewandteste? Wer begriff alles spielend? Wer war der Behendeste in der Instruktion? Wer war immer schlicht, natürlich, freundlich, gefällig? Ja ... er war was, der Eggert Ott! Er war der Liebling aller, die mit ihm zu tun hatten! Der kleine, schwarze Stückmeister, ein Berliner, der schwierige Bücher las und gern ins Theater ging und sich was darauf zugute tat, hatte ihn ›Lord Feuerbrand‹ genannt; das nahmen sie auf, und nannten ihn kurz ›Fuerbrand‹; und sprachen ihn gern an, nur um seine Stimme und sein Gesicht auf sich gerichtet zu sehn! Ja, es war großartig mit ihm! Eggert Ott, der auf dem Hof seines Vaters nicht zu bändigen gewesen war, der haltlos die gebahnten Wege gemieden hatte, zeigte nun hier, an Bord der ›Below‹, alles, was er an Gaben hatte, ließ alles funkeln und glänzen, was er an Edelstein in seinem Schilde hatte! Ja! So war es! Aber warum war es so? Warum tat er das? Aus Liebe zu den Menschen? Aus einem guten Herzen? Leider nicht! Wohl war er im Grunde seines Herzens ein guter Mensch, und es tat ihm wohl, leicht und schön im schönen Licht zu spielen, anstatt dumpf und wild durch die Finsternis des Trotzes zu stolpern; aber daß er hier in diesen Monaten auf der Below diese Finsternis, die in ihm war, zurückstieß und in der innersten Kammer seines Herzens verbarg und statt ihrer alle Lichter leuchten und alle Pfeifen klingen ließ, das war darum, daß Bruder Harm nach Hause schriebe: Ihr glaubt nicht, wie beliebt der Eggert ist! Wie fein und ordentlich seine Kleidung! Wie begehrt sein Umgang! Wie beliebt seine Musik ... bis in den Gang stehn sie und hören zu! Und wie tüchtig im Dienst! Ihr glaubt nicht, wie schön er ist, wie breit, wie wach, wie strahlend! Daß sein Vater und Emma und das Kirchspiel, das verfluchte, erführen, was sie verworfen hätten, und was da nun hochmütig, strahlend und lachend an ihnen vorüberfuhr! ...

Nein, Bruder Eggert war als Busenfreund für Harm Ott nicht zu gebrauchen, erstens, weil er eben der Bruder war, und zweitens, weil er ein solch trotziger und verstockter Bruder war!

Einen Busenfreund aber muß der Mensch haben, der vom andern Geschlecht noch keine Lebensgefährtin hat. Und zuletzt fand er ihn auch; und einen, an den er nicht gedacht hatte. Es war da ein kurzer, breitschultriger, dunkelblonder Kamerad, viel älter als er, wohl schon um fünfunddreißig, der ihm im Anfang ganz und gar nicht gefallen hatte, da er eine gewisse breite und selbstverständliche Art des Auftretens halte, die ganz und gar gegen die Ottsche Art war. Harm Ott meinte, es wäre ein oberflächliches Getu, das aus einem leeren Herzen käme, so wie eine dicke, leere Tonne, gegen die man schlägt, wohl einen starken und breiten Ton gibt. Als der Mann Gefallen an ihm fand und ihn zuweilen ansprach, antwortete er daher nur kühl und spärlich, worauf dann der Mann seinerseits den Harm Ott nicht mehr ansprach und für Augen und Anrede andre Helfer suchte. Allmählich aber merkte Harm Ott, daß es doch was Besondeies mit dem Manne war. Er war zwar ein einfacher Geist und hatte auch keine besondere Schulbildung – was er auch durchaus zugab

– aber sein Geist spielte aus einer gesunden, starken und gütigen Natur heraus sicher und frischweg, gleich einem Fisch im klaren Strom, in dem Treiben des Lebens; und was er da sah und hörte, beurteilte er mit ebenderselben Sicherheit und Frische. Und so war er ein geborner Plauderer, und zwar ein ruhiger, guter, und ein solcher, der am Plaudern selbst, als an einem schönen Spiel des Geistes, seine Freude hatte, gleichgültig, was der Gegenstand war, wenn er nur eines ernsten Geistes würdig war. Von seinen Eltern und von seiner Kindheit sprach er wenig oder gar nicht; es lag da irgend etwas Unerfreuliches vor, wohl die Trunksucht und Unordentlichkeit des Vaters und sicher die furchtbare Not einer guten Mutter. Er mochte wohl die Mutter nicht loben, da er es nicht konnte, ohne den Vater zu tadeln, und das wollte er nicht; er hatte aber ein Bildchen der Mutter in seiner Brieftasche auf der Brust. Er hatte nach also bedrängter Kindheit zuerst als Schiffszimmermann gearbeitet und hatte seiner Mutter und seinen kleinen Geschwistern geholfen. In diesen Jahren hatte er auch seine erste Liebste gehabt und hatte sicher unendlich viel von ihr gehalten. Da er aber viel hatte arbeiten und sorgen müssen, hatte er sie aus den Augen verloren. Das hatte ihn gequält; und da die Mutter gestorben war und die Geschwister sich entweder von ihm abgewandt oder sich selbst hatten helfen können, war er einsam geworden und war zur See gegangen. Und zwar war er wie keiner auf allen Meeren und auf den Schiffen aller Nationen gewesen. Einige von diesen Jahren hatte er auf einem Woermannschen Küstenklepper an der afrikanischen Küste zugebracht und war auf einem Marsch, der monatelang gedauert, tief ins Innere Afrikas gekommen. Und so war er ein rechter Weltfahrer gewesen. Aber obgleich ihm so zweimal, und zwar in einer fast sinnlosen, ja unheimlichen Art, zuerst die gute Mutter durch die Schuld des Vaters, dann die kleine Liebste, die er an einer Straßenecke Hamburgs zum letztenmal gesehn, zuletzt auch noch die Geschwister genommen waren und er so einsam durch die Welt fuhr, war er doch nicht verbittert, sondern blieb doch, kraft seiner menschenfreundlichen und mitteilsamen Seele, als ein freundlicher Mitspieler des Lebens auf dem Platze. Er freute sich mit und lachte mit, und kümmerte sich mit; und tat das noch mehr als andre, und sicherer als andre, und ruhiger als andre, darum, weil er Nahes und Eigenes nicht hatte. Aber es war in der Tiefe keine rechte Art. Es fehlte das mitklopfende Herz. Es war ihm ums Spiel selbst zu tun, nicht um das, was ihm zugrunde lag. Er hatte die Weise, das Leben selbst zur Debatte zu stellen, und den Verlauf dieser Debatte ruhig und freundlich anzuhören, gleichgültig wie sie liefe.

Harm Ott hatte wenig von der Welt gesehn; er war trotz seiner Fahrten nach Teneriffa und New York ein Heimatsmensch; dieser aber war in den Straßen des großen Hamburg aufgewachsen und hatte nachher alle Straßen der Welt befahren. Harm Ott war innerlich noch nicht sicher, so kühn auch sein Gesicht war und so hell auch seine Augen blitzten; dieser aber spielte mit dem Leben und mit den Dingen, wie ein Kind mit ernsten, besinnlichen Augen mit dürren Blättern spielt. Die Zimmerei, die sie beide als Handwerk hatten, gab die erste Unterhaltung, die gut zusammenstimmte. Bald danach hörte er ihn schlicht und gut über einen Kameraden sprechen. Danach sprachen sie einmal über richtige und unrichtige Lehrherren; und dann, als sie eines Abends kurz vor ›Pfeifen und Lunten aus‹ im ersten milden Frühjahrswind über Deck spazierten, über Liebe und Heirat, indem sie eine Unterhaltung fortsetzten, die in der Kasematte von andern angefangen war.

Der Zimmermann – so nannten sie ihn – sagte in seiner ernsten, spielenden, alles wägenden und gerechten Weise: »Ja, wenn man es so anhört, wie die einzelnen der Reihe nach darüber reden und ihre Geschichten davon erzählen, so muß man wohl sagen: Heiraten ist gut ... nicht Heiraten ist auch gut. Ja ... ja! ... und doch sieht man, wie die meisten früher oder später in die Ehe gehn, also zu der Entscheidung kommen: Heiraten ist besser. Es muß doch irgendwie die Natur sein und ihr Wille, der die Menschen hineinführt.«

Harm Ott sagte: »Natürlich muß man heiraten! Ja, ich sage sogar – von einer völlig unglücklichen Ehe abgesehn – selbst eine Ehe, die nicht glücklich ist, ist besser als keine! Was ist ein Leben ohne Verantwortung um Seelen, ohne tiefe Liebe, Mühe und Nöte um andre ... schmal, dürr, dürftig, ohne ein volles Menschenschicksal, und oft, ja meistens, irgendeiner Wunderlichkeit, wenn nicht Schlimmerem hingegeben!? Ja, ich sage: ein Mann, der über die Jahre hinaus ledig ist, ist mir mehr oder weniger bedenklich, um nicht zu sagen zuwider. Ich denke immer: wer weiß, was der treibt! Die ledigen Frauen ... freilich, das ist eine andre Sache! Die sind meistens schuldlos ... sie sind eben die bedauernswerten Opfer jener männlichen Verbrecher am Menschentum.«

Der Zimmermann dachte eine Weile nach; dann meinte er: »Ja, das Menschentum! ... Da muß man nun tiefer graben und fragen: ist das gesunde, gütige, tapfere Menschentum, das du meinst, ist das irgendwie Gottes Gebot und Wille? Darauf kommt es an! Oft scheint es, als wenn diejenigen recht haben, die sagen, daß alles Zufall, Glück, Geld, Gesundheit ist, und weiter nichts. Ja ... ja!« Und nach seiner Weise, indem er solche spielenden Äußerungen gern mit Begebenheiten erläuterte und beleuchtete, erzählte er eine Geschichte aus seinem Leben.

Harm hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war mit seinen Gedanken bei den ersten Worten seines Begleiters stehn geblieben und dachte über sein eigenes Leben und über seine Familie und die Brüder nach, und dachte besonders an die Natur seines Bruders Reimer und sagte, als der Zimmermann seine Geschichte beendet hatte, aus der Tiefe seiner Gedanken heraus mit schlichtem, schönem Ernst: »Ich glaube: es ist eine heilige Kraft, die die ganze Menschheit und jedes Volk und jeden einzelnen Menschen und auch mich durch das Leben führt.«

Er hatte es ohne alle Absicht der Wirkung gesagt, viel mehr für sich selbst, als für seinen Begleiter; und merkte daher auch nicht, wie der Zimmermann aufhorchte, ja betroffen und still wurde.

Von dieser Abendstunde an Deck an suchte der Zimmermann dann und wann mit Harm Ott allein zu sein, und sprach dann weniger spielig, weniger gleichmütig; und mühte sich, zutraulich zu werden und gewissermaßen persönlich zu sein. Da er aber seit jener fernen Stunde, da er in irgendeinem Fleet Hamburgs sein Mütterchen und an irgendeiner Straßenecke Hamburgs seine kleine Liebste verloren hatte, davon entwöhnt war, wollte es ihm nicht gelingen. Und da es ihm nicht gelang, vermochte auch Harm Ott nicht recht, aus der Seele heraus zu reden. Seine Worte schossen ins Leere, auf einen, der keine eigene Seele hatte. Und so stand es so, daß sie wohl fühlten, daß sie Freunde werden konnten, und sich danach sehnten, es zu werden, daß diese Freundschaft aber noch nicht von Herz zu Herz fahren konnte. Der Zimmermann hatte eben sein Herz verloren. Er war durch sein Schicksal dem Wassertropfen gleich geworden, der im Strom treibend immer neue Nachbarn hat; und das Leben ist ihm nichts als Wandern und Spielen.

Harm Ott versuchte, seinen Bruder mit dem Zimmermann zusammen zu bringen, und bat ihn. Aber der sagte hochmütig, wie er immer war, wenn er mit den Brüdern zusammentraf: »Was soll ich mit neuen Bekannten? Ich habe mehr, als ich brauche!« Als er aber einmal eine Stunde mit ihnen zusammen im Banter Bürgergarten gesessen hatte, wo der Zimmermann bei einem Glase Bier besonders gern in sein ruhiges Plaudern geriet, hatte er doch, wie es schien, nichts mehr gegen ihn; ja seine Gegenwart schien ihm angenehm zu sein, zumal dies Geplauder über dies und das, dies ruhige, ernste Besehn und Wiederhinlegen aller Dinge und Menschen, ihn vor der Unterhaltung mit den Brüdern bewahrte, die immer und immer wieder auf Haus und Heimat hindeutete, die seine Natur zum Aufbäumen brachten.

 


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