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17. Kapitel

Der Kranz

Er war voll stiller Glückseligkeit, daß er sie wiedersehn würde, und zwar als einer, der freiwillig in den Krieg gegangen war, und daß er eine so schmucke Uniform trug und größer und viel erfahrener und klüger geworden war. Er wußte auch ohne der Mutter Augen und Bestätigung, wie es um ihn stand ... daß es gut um ihn stand.

Ihre Eltern empfingen ihn freundlich lässig und schickten ihn, da sie zu einer Unterhaltung mit dem Achtzehnjährigen weder Begabung noch Neigung hatten, gleich zu ihrem Kind in den Garten.

Sie saß an diesem letzten und warmen Oktobertag an dem kleinen, weißen Tisch unter dem großen Nußbaum, der als der König unter den Bäumen mitten im Garten stand – in den Wegen um sie lagen die Schalen seiner Nüsse – und schrieb einen Brief. Sie saß da sehr sauber in einem halblangen Kleid, das lose, dunkle Haar, das immer bei jedem Schritt, den sie tat, so zierlich aufwehte, von einem roten Band umschlungen, und tauchte die Feder mit einer langsamen, vorsichtigen, reinlichen Art ins Tintenfaß, sah sinnend ins weite Feld, und beugte sich dann wieder auf ihren Bogen und schrieb mit unendlich vorsichtiger Handführung; denn auf jeder Ecke des nur kleinen Bogens lag eine Walnuß, die sie nicht berühren und von ihrer Stelle schieben durfte und die sie sich dann für die Vollendung des Briefes zugesprochen hatte. Denn sie war noch halb ein Kind und mußte noch zu jedem Ernst ein Spiel fügen, damit sie bei der Stange bliebe. Er sah gleich, daß sie größer geworden war und daß ein neuer, weicher Schein um sie lag, und fühlte, daß er nicht mehr so frei heraus und sicher mit ihr reden könne wie früher, da er mit ihr und ihrem Bruder am Deich in der Schilfhütte von Schäfer Harder gesessen hatte. Er dachte, du mußt sehr vorsichtig mit ihr reden: etwa von den schönen, anmutigen Kindern eines Admirals, die du mal gesehen, oder von schönem, hellen Sommerwetter und Spaziergängen, oder von den höchsten Gedanken, die je in Menschenköpfe gekommen sind. Vor allem kein Wort von Krieg vor ihren Augen und Ohren!

Sie schrie auf, als er ihren Namen rief; denn sie hatte noch nicht erfahren, daß er auf Urlaub auf dem Hofe war, und schrieb gerade an ihn. Und sah ihn gerade im Geiste auf einer schönen, glänzenden Fahrt auf der Nordsee. Denn sie sah noch das ganze Leben und die ganze Welt, und selbst den Krieg, in einem sanften rosigen Lichte ... Wie wurde sie froh, daß er da war! And war so viel größer geworden ... und so schmuck ... und die Uniform stand ihm wirklich sehr gut ... sehr gut! Sie war sehr glücklich, daß ihr und ihres Bruders alter Spielkamerad und Plänemacher da war, und redete in alter Weise auf ihn los. »Wir bleiben hier unterm Baum ... auf alle Fälle! Hier sind wir allein! Und du erzählst mir was!«

Aber was sollte er ihr erzählen, wenn nicht vom Kriege, wenn er denn von sich selbst erzählen wollte?! Und von sich selbst mußte er doch erzählen; denn von ihm wollte sie doch hören!? Seinen Geist, seine Gedanken sein Leben wollte sie doch kennen?! Er aber kam mitten aus dem Kriege, brachte seine Tage über Torpedorohren zu, und lag nachts keinen Meter weit von der blitzenden Haut des Torpedos. Er fragte sie nach ihrem Bruder und ihrer älteren Schwester, und machte sie auf eine Goldammer und auf die Möwen aufmerksam, die vor den dunkelgrauen Wolken vorüberflogen, ihre Flügel flammten vor dem Grau der Wolken, wie, weißes Feuer. Aber es war nicht das Rechte! War das eine Unterhaltung, die ihr gefallen konnte?! Unmöglich. Und so blieb ihm nichts übrig, als zu lügen! Er mußte ihr eben den Krieg so schildern, daß er ihr gefiel! Obgleich es der erste und wichtigste Grundsatz seines Lebens war, in allem wahrhaftig zu sein, hier mußte er lügen. Obgleich er von allem, von den Karpathen und von Flandern, von den Torpedobooten in der Nacht gegen England, von den U-Booten, von den Netzen im Kanal und von der Brandung vor den Scillyinseln, und von den Zeppelinen und Luftfahrzeugen über London das richtige, harte, grausige Bild vor der Seele hatte, erzählte er ihr schöne, vornehme Dinge: von leuchtenden Fahrten durch die blaue Nacht, von schöner brausender Fahrt durch die schimmernden Wogen, von leichtem, lachendem Zug an hohen goldfarbenen Wolken vorüber, die da standen wie himmlische Heerscharen und auf die Erde sahen! Nichts von Ängsten, nichts von Klagen und Anklagen, die gen Himmel schreien, nichts von jähem Sturz und bittren Schmerzen, nichts von Heimweh und von letzten Grüßen, die nicht ankommen konnten, nichts von schwerem Sterben. Sie hörte ihm mit weichen, schönen Augen zu und atmete langsam, und gab ihm jedesmal, wenn er ein besonders schönes Bild vor ihre Augen gezaubert hatte, eine der Walnüsse, die auf den Ecken ihres Bogens standen. Und er aß vor ihren Augen und erzählte weiter, und war um ihrer Augen willen ein Narr und ein schöner Pfau, wie vor zwei Jahren, als er sechzehn war und die Rätsel der Welt vor ihr gelöst hatte.

»Wie schade,« sagte sie, »daß du selbst noch nicht so was Herrliches und Großes erlebt hast! Dieser Vorstoß in der Nacht gegen England ... hübsch ist er ja ... aber ich wollte, du kämst mal in eine große, gewaltige Schlacht hinein und erlebtest Wunderbares.«

Da fiel er von seinen goldenen Wolken herunter und sah sie an, daß sie schwieg. »Wenn ich aber fiele,« sagte er unsicher, »und nicht wiederkäme?«

Sie sah sinnend über den Garten. Sie dachte sich auch das Sterben schön, und nur schön... ein plötzliches Ausgehn eines Lichtes in einem heftigen, jähen Windstoß ... und sie sah auch noch nicht, was das rechte, zu Ende gelebte Leben an tapferen Taten, an mutigen Mühen, an bildenden Nöten, an der Auseinandersetzung mit dem langsam nahenden Tode für Werte hat und bildet; und ihren Sinnen fehlte noch die Lust an der Erscheinung und Nähe des Geliebten. Darum sagte sie langsam mit leiser, wehmütiger Stimme, ohne großen Schmerz, ja mit einer schönen, sinnigen Freude: »Wenn das geschieht ... dann will ich hier ... unter dem Nußbaum, wo ich jetzt mit dir gesprochen habe, sitzen und an dich denken, und will dich nie vergessen!«

Er saß eine Weile sinnend und sah das Bild, das sie ihm malte; und auch er war wehmütig glücklich darüber. Dann aber sagte er leise: »Es wäre doch schade um all die schönen Pläne, die ich habe!« Und er fing an, von einigen Kameraden von der Kieler Schule und von seinen beiden neuen Freunden in Wilhelmshaven zu erzählen, welche hohen Dinge er mit ihnen beredete; und malte wieder, zwar mit größerer Vorsicht als vor zwei Jahren, aber mit demselben Feuer, ein Bild der Zukunft eines reinen und freien Volkes und einer hohen Menschheit; und malte es hoch und glänzend gegen den weiten, weiten Himmel.

Und da, als er so redete und alle Scheu vergaß und nichts wollte, als seinen Geist ihr mitteilen, und sich vorbeugte, und mit blitzenden Augen und schön bewegtem Mund sprach, da wurde ihr wunderbar weich und bang und doch schön ums Herz. Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Sie wollte sich zurückbiegen, daß er ihr nicht so nahe war; aber sie tat es doch nicht. Sie blieb in derselben Haltung und dachte mit starkem Herzklopfen: ›Was hat er für schöne Augen! Wie kann er kucken!‹ Er springt ja mit seinen Augen in meine hinein! Und sie fühlte, daß sie langsam rot wurde, und stand rasch auf.

Er hatte gesehn, daß sie rot und verlegen wurde, und wurde es auch, und trat ein wenig von ihr zurück und schwieg. Aber als ein rechter Mann und alter Soldat wurde er bald wieder sicher und sagte, um von andern Dingen zu reden: »Was meinst du, wollen wir mal nach dem Turm hinaufgehn? Pastor Bohlen sagt, daß er in der alten Glocke eine Inschrift gefunden hat und sie nicht enträtseln kann ... wollen wir mal gehn und sie ansehn?«

Sie faßte sich wieder, erhob sich und ging mit ihm nach der Kirche, und erzählte ihm, nun wieder ganz sicher, das kleine besondere Erlebnis: »Ja,« sagte sie, »denke dir, als Pastor Bohlen neulich die Fledermäuse, die oben im Turm wohnen, besehn wollte, entdeckte er, daß die kleine Klingelglocke eine Inschrift hatte. Er rief mir vom Turm herunter, ich möchte mit Wasser und Feudel hinaufkommen; und da haben wir sie gereinigt, und nun steht die Inschrift ganz deutlich da. Aber was meinst du: wir können sie nicht enträtseln! Das ganze Dorf ist schon oben gewesen und hat es versucht! Nun ... daß das Dorf es nicht kann, ist ja begreiflich; denn es ist sicher eine fremde Sprache: Lateinisch oder Hebräisch, oder eine noch fremdere; aber daß Pastor Bohlen es nicht kann, ist doch stark, und das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe ihm gesagt, er solle doch lieber seine alten gelehrten Bücher wieder vornehmen, statt bei Tag und Nacht im Watt und auf der Heide und im Eichenkratt herumzulaufen und die Tiere zu belauern.«

Sie waren durch die Gartenpforte auf den alten Kirchhof gekommen, betraten die Kirche und stiegen die Treppe von altem, ausgedörrtem Eichenholz hinauf. Es war gerade Platz für zwei nebeneinander zu gehn; die Stufen waren sehr hoch und ausgetreten, und sie mußten tüchtige Schritte machen und die Knie heben. Es war fast so, daß er ihr Hilfe anbieten mußte; er war auch immer nah daran, daß er sie berührte. Aber er konnte zum Glück beides vermeiden, und sah gar nicht nach ihr hin, während sie schweigend Stufe auf Stufe nahm.

Ja, und da hing die Glocke, die er ja von seiner Knabenzeit her kannte! Und in der Tat waren da nun rundherum um ihren Rand, da, wo früher in Rost und Vogelschmutz nichts als undeutliche Erhebungen gewesen waren, die man für ein Ziermuster gehalten hatte, Buchstaben, undeutliche freilich; und zur Seite auf dem Balken lag ein Abdruck davon, eine sogenannte Pause, ausgebreitet. Es war eine Reihe von etwa vierzig undeutlich gewordenen Buchstaben sehr alter Form; davon waren fünf oder sechs völlig verwittert. Die Schwierigkeit der Lösung aber wurde besonders groß dadurch, daß alle vierzig in gleichem Abstand voneinander standen, so daß Anfang und Ende der Wörter in keiner Weise auch nur angedeutet war.

»Sieh,« sagte sie eifrig, «da ist es! Es liegt auch unten in der Wirtschaft aus und wenigstens fünfhundert Menschen haben schon versucht, es zu lesen, und können es nicht, darunter fünf oder sechs Pastoren.« Sie beugte sich darüber und glitt mit dem Finger über die Reihe.

Er stand hinter ihr und war etwas ungeschickt, wie er es ordentlich übersehen sollte, wenn sie nicht etwas zur Seite wiche. Da sie aber so blieb, beugte er sich dicht neben sie und übersah die Buchstabenreihe, die ungefähr so aussah – wobei das Zeichen x die undeutlich gewordenen bezeichnen soll – h. e. x. n. x. p. i. e. v. x. k. e. h. e. f. t. m. x. g. e. g. x. t. e. n. g. a. x. e. h. e. l. x. d. e. e. m. 1514. Er überflog es noch einmal. Dann lachte er kurz auf und sagte: »Das ist ja plattdeutsch und heißt: Heini Piefeke heft mi gegaten. Gade – das ist Gott – helpde em. 15l4.«

Ihr stand der Atem vor Verwunderung still, daß es plattdeutsch war, und was es hieß; aber noch viel mehr, daß er es sofort heraus hatte, was andere nicht gekonnt ... Sie dachte, während ihr das Herz wieder jäh klopfte: ›Wie ist er eigentümlich rasch ... er ist überhaupt so rasch ... so seltsam darin ... und wie er mir so nahe ist und mich ankuckt! Und trifft mich gerade ins Herz. Ach Gott ... wie ist er rasch und so lieb!‹ Und während sie vorher gezweifelt hatte, was schöner wäre, ob er wiederkäme oder ob sie da unter dem Nußbaum im Garten zeitlebens an ihn denken sollte als an ihren guten Freund und Helden: nun plötzlich, indem sie nicht wußte, wie ihr geschah, stürzten ihr Tränen aus den Augen und indem sie den Kopf auf den alten Balken legte, sagte sie mit bitterm Schluchzen und zuckenden Schultern: »Du sollst wiederkommen! Du sollst wiederkommen!«

Er war erst völlig verwirrt, daß der alte Heini Piefeke mit diesem Spruch diesen Erfolg hatte; aber er verstand sie doch bald. Er blieb aufrecht neben ihr stehn und sah über sie weg übers weite Land nach Westen zu, wo das Land und dahinter das Meer im Abendschein lag; und das Herz war ihm plötzlich sehr schwer. Er schwieg eine ganze Weile, während sie schluchzte. Dann sagte er unsicher, wie ein Mensch, der sich im Dunkeln vorwärts tastet: »Daß Gott mir hilft, wie er dem alten Heini Piefeke geholfen hat bei seinem Glockenguß, das glaube ich gewiß ... Er wird schon helfen, daß der Guß fertig wird, wie er ihn beschlossen hat. Aber das kann ich durchaus nicht wissen: hilft er mir so, daß er mich leben läßt, oder daß er mich fallen läßt ... und mich anderswo verwendet ... denn er hat ja Arbeit genug.«

Sie weinte und schrie heiß auf: »Nein!« sagte sie, »du sollst wiederkommen! Du sollst wiederkommen!«

»Komm,« sagte er leise; »wir wollen uns ein wenig hinsetzen und übers Land sehn; davon wird man ruhig.« Er setzte sich auf die kleine Bank, die da stand; und sie saß neben ihm. Und er begehrte, etwas von ihr zu berühren, zu haben, und sah ihre Hand, die in ihrem Schoß lag, und sagte: »Deine Hand ist noch immer dieselbe geblieben.«

Da legte sie, noch immer weinend, die Hand auf sein Knie, und er streichelte sie; dann hielt er sie fest und sie saßen Hand in Hand.

Wie selig das nun war in allem Leid! Wie wunderbar! Sie waren beide hinweggehoben, wunschlos, ereignislos, unsagbar traurig, und doch selig. So saßen sie da und schmeckten die Süßigkeit der Liebe, die um so stärker war, als sie noch ohne Begehren war, und sahen über das Land, das im Frieden des Spätherbstes zu ihren Füßen lag.

Als sie aber lange so saßen, kamen die Gedanken zuletzt doch wieder auf den Krieg als auf den Grund und Anfang ihrer Traurigkeit, und sie legte den Kopf in die Hand, die sie frei hatte, und weinte bitterlich. Da wurde auch ihm das Herz wieder schwer, und so schwer, wie es noch nie gewesen war. Und er kämpfte einen harten und schweren Kampf zwischen Jugend und Tod, und wurde durch das schwere Blut von seinem Vater her und ein dunkles Gefühl in ihm getrieben, daß er sich ergab, daß er sein Leben dahinten ließ und es als gewesen sah. Und es kam der Wunsch alles Lebens über ihn, hier unten auf der Erde nicht vergessen zu sein. Und indem er wie träumend noch einmal alles übersah, was er hier geliebt hatte, und in einem Allgemeingefühl der Menschenseele weniger an die einzelnen Menschen dachte, die er lassen müsse, als an diese Landschaft, diese Natur, diese Erde, diese Menschenerde, davon er ein Kind war, sagte er mit zögernder, unsicherer Stimme: »Wenn ich nicht wiederkomme, dann möchte ich, daß du ... weißt du ... wenn du vom Norden her den Weg nach dem Wodansberg hinaufgehst ... so ist da eine große Mulde ... die ist mit Farnen bestanden ... und rundherum, zu beiden Seiten, auf dem Rand, stehn kleine, stämmige Eichen, die werden nicht geschlagen. Du kennst doch die Mulde? Es ist sehr schön da und still; und man sieht von ihrem Rand weit übers Land und sieht auch die Nordsee; und ich denke mir ... nein, es ist sicher ... daß da, in der Mulde und auf ihren Rändern, tausend Jahre lang unsere Vorfahren angebetet haben ... Wenn ich denn falle ... so möchte ich, daß du da an der größten Eiche ... wenn man hinaufkommt rechts oberhalb, nicht weit von der Höhe ... einen Kranz für mich aufhängst, der da immer, immer hängt zum Gedächtnis an mich. Es soll kein Name dabei stehn ... ich habe dann keinen Namen mehr, oder ich habe einen andern Namen. Aber der Kranz ... Und so lange du hier bist, wird es mir lieb sein, daß du ihn besorgst, und daß du, solange du lebst, dann und wann des Weges kommst und eine Stunde dort auf der schönen Höhe verweilst. Willst du das?«

Sie nickte unter Tränen; sprechen konnte sie nicht.

Dann, als wenn er nun alles bewerkstelligt hätte ... so wunschlos und groß war er in seinem Gemüt und vor dem Tode ... stand er auf; und sie gingen die steile Treppe wieder hinab und aus der Kirche.

Sie hatte sich beruhigt und ging still neben ihm. An der Straße gaben sie sich die Hand und gingen voneinander.

Am andern Vormittag stand er wieder in Haus und Garten unter seinen Leuten umher und sprach mit ihnen in seiner überernsten altklugen Weise. Als er am zweiten Nachmittag seine kleine Freundin wieder aufsuchen wollte, erfuhr er, daß sie plötzlich zu einer erkrankten Verwandten ins östliche Holstein gefahren sei und nicht da wäre.

Da ging er, während er an den Vormittagen zu Hause war, an den Nachmittagen in die Heide hinauf und wanderte da umher, oder saß da, und sah übers Land, und genoß die Einsamkeit und die Heimatlandschaft; und erging sich in unzähligen großen Gedanken, die wie Vögel im Nebel, die man nicht sieht ... aber man hört sie ziehn ... vor ihm vorüberflogen, ohne Ende, ohne Ende, als wenn Leben und Arbeit noch ewig dauerten. Seine Todesgedanken hatte er nun völlig vergessen und fast auch den Krieg. Was war der Krieg vor solchen Gedanken? Eine kurze Strecke Unruh. Die ging vorüber, war bald nicht mehr im Wege, und war kaum gewesen.

Am neunten Tag seines Urlaubs, am Sonntag Morgen, kam eine Botschaft ins Haus, daß Bruder Klaus auf Urlaub da wäre. Er war noch Rekrut, und seine Garnison war nicht fern; und er konnte alle vier Wochen zu einem dreißigstündigen Urlaub nach Hause kommen und dort nach dem Rechten sehn.

Da ging er durch den kalten, frischen Oktobertag der Geest zu; und kam in Gedanken, er wußte micht wie, auf die Hofstelle des Bruders.

Es sah auf der Hofstelle noch etwas unordentlicher und rummeliger aus als sonst; Bruder Klaus gab nichts auf Ordnung und Aussehn. Er sagte, das koste nur Geld und Zeit; und der Hof läge ja einsam; kein Mensch schiere sich darum, wie es darauf aussehe. Und seine Frau hatte nie Zeit, etwas dafür zu tun. Sie hätte ja auch, wenn da Ordnung gewesen wäre, einen Grund weniger zum Klagen gehabt.

Er ging durchs ganze Haus, in dem alle Türen offen standen, und kam in den Garten, um ins Feld zu sehn. And auch da sah er sie erst nicht; doch hörte er ihre Stimmen. Endlich fand er sie auf dem Kartoffelfeld hinter dem Garten. Sie saßen da alle am Wall, von oben bis unten nichts als staubiggraue Erde, richtige Wühlmäuse, und aßen ihr Vesperbrot; Bruder Klaus, in Feldgrau, die schirmlose Mütze weit zurückgeschoben, die Binde im Nacken weit aus dem Rockkragen herausragend, in ihrer Mitte.

Sie freuten sich herzlich, daß er kam. Bruder Klaus stand sogar auf, so steif er von der Arbeit war. Der Älteste mußte laufen eine Tasse holen, damit der Bruder einen Schluck Kaffee bekäme. »Ja,« sagte Bruder Klaus, »nun bin ich auch Soldat! Wer mir das vor zwei Jahren gesagt hätte! Ja, noch vor einem Jahr!« Und er wies mit der grauüberstaubten Hand nach den kleinen Höfen, die verstreut in der Nähe lagen, und erzählte lang und breit, wo der und der Nachbar wäre und wie es ihnen ginge. Einer war in Ostsibirien in Gefangenschaft. »Was der wohl für Augen macht, Reimer! Er ist nie über die Landschaft hinausgekommen. Und jetzt ist er da,« und er zeigte mit dem ausgereckten Finger dicht vor sich auf die graue sandige Erde ... »auf der andern Seite der Erde! . .. und der da ist gefallen ... an der Somme ... und der da ... der ist mit mir in einer Kompagnie ... Wie es mir geht? Nun nicht schlecht! Was denkst du? Meinst du, daß dein Bruder Klaus sich da blamiert? Das Essen könnte natürlich besser sein; aber im übrigen ... nun, wie es eben geht! Den Tag über hat man seinen Dienst ... Du kannst es dir ja alles denken ... und nachts schläft man.«

»Er vergißt uns wieder ganz, Reimer,« klagte die kleine Frau.

»Ich vergesse euch nicht!« sagte Bruder Klaus. »Wie soll ich euch vergessen? Ihr arbeitet und quält euch hier ab für unsern Kram, ihr kleinen Stackels, und ich sollte euch vergessen?! Ich sage dir, Reimer, sie sind Helden, diese sechs hier! So wie sie hier am Wall sitzen: jeder ein Held! Der da, der kleine Krabat ... sieben Jahre alt; aber ich sage dir, er sammelt die Kartoffeln, wie 'ne Elster goldene Ringe. Ich habe mal so was gelesen.«

»Ich habe viel an dich gedacht,« sagte Reimer. »Du warst in deinem Leben nie aus dieser Gegend fort; dein weitester Weg ist wahrhaftig bis zu dem Kirchturm da gewesen. Und Mutter sagte mal so was, so als wenn du leicht Heimweh bekämst.«

Bruder Klaus runzelte die Stirn und sah ein wenig unsicher in die Ferne. Er war einmal, als Sechzehnjähriger, von seinem Vater zu einem Bauern gegeben worden, der zwei Stunden Wegs entfernt wohnte, damit er Unterschied lernte. Aber er war noch am selben Tag, spät abends, wieder vor der Küchentür des Elternhauses erschienen und hatte bekannt, er könne das Leben »in der Fremde« nicht ertragen. Er fürchtete, daß Bruder Reimer diese Geschichte kannte, obgleich davon, als von einer kleinen Familienschmach, im Hause nie die Rede war. »Ich, Heimweh?« sagte er großartig. Und im alten Fluß, sicher und fest, mit dem tiefen, vollen Brustton, in dem er immer zu seiner kleinen Herde sprach, sagte er: »Weißt du, es gibt welche da, die Heimweh haben; und wovon kommt das? Weil die Heimat zu nah ist! Sie gehn jeden Sonntag nachmittag auf die Höhen, die da sind, und reden dann davon, was rundherum in der Ferne für Städte und Dörfer sind, und stehn da und starren da hinüber, und machen sich ... im Geist, verstehst du ... auf den Weg; und dann ist das Unglück da! Dann sind sie stiller als sonst, weil sie immer da hinüberdenken; und sitzen länger auf ihrem Strohsack; und können dann auch nicht schlafen. Aber ich? ... Heimweh? ... Nein, das ist nicht der Fall!«

Die kleine Frau hatte ihn bewundernd angesehn, während er so groß redete, und sagte mit leuchtenden Augen und klagender Stimme: »Was die Männer doch für Leute sind, Reimer! Nein, glaubst du, daß er an uns denkt?! Und ist sonst doch so'n guter Mann!«

»Ich denke an euch,« sagte Bruder Klaus voll guten Gewissens. »Wie sollte ich nicht an euch denken! Solche fixen Leute vergessen ... was denkst du?!« und er zeigte auf zwei der Kleinen, die so um drei Jahre alt waren. »Diese beiden Kleinen ... was meinst du ... sind neulich hinter der Kuh hergelaufen, die auf dem Weg war, und haben sie richtig wieder durchs Heck und auf die Weide gebracht ... mit einer Schlauheit ... mit einer Schlauheit ... sage ich dir! ... Nein, es tut mir leid, daß ich wieder von euch fort muß! Aber was hilft es? Es muß sein!« Er sah nach der Uhr: »In zwei Stunden muß ich von Hause fort.«

Nach dem Abendbrot gürtete Bruder Klaus sein Koppel um, küßte die Kleinen, die schon im Bett lagen, und ging dann, sein Weib am Arm, die drei Großen an der Hand, Bruder Reimer am linken Flügel ... der alte sandige Heerweg war breit genug und vom Regen fest ... nach dem Bahnhof.

Die Frau klagte, was sie alles für Last haben würde von dieser Kuh und von jenem Kalb, von jenem Zinstag und von diesem Händler, der sicher kommen würde, ihr etwas abzuschwatzen. Bruder Klaus redete große Worte, sie solle es ruhig ansehn und anstehn lassen, bis er wiederkäme – er käme ja bald wieder! – und wußte für alles Rat, war leichten Herzens und großen Wortes. Am Kreuzweg kehrten seine Frau und die Kinder um; und nur Bruder Reimer ging noch eine Strecke mit ihm.

Bruder Klaus sah sich wieder und wieder nach seinen Leuten um, obgleich es nicht gut möglich war, daß er sie noch sehn konnte, da sie hinter einem Hügelrücken verschwunden waren. Hatte er sich dann vergebens umgesehn, hob er die Schultern und ging weiter. Er war plötzlich ganz schweigsam geworden, sah vor sich auf die Erde und zuckte die Schultern. »Weißt du,« sagte er mit veränderter, mißmutiger Stimme, »meine Frau klagt zu viel! Sie macht einem reinweg das Herz schwer.« Er stand wieder still und sah nach der Richtung des Hauses.

Sein Bruder sah ihn von der Seite an und machte sich an diesem Tag zum erstenmal Gedanken über ihn, sah ihn zum erstenmal als Wesen für sich, in seinem Eignen lebend, und wunderte sich und dachte: ›Wie kann man doch nur so spielig sein, so in Gedanken und Worten hin- und hergleiten, wie der Windhauch weht! Wie ist dieser mein Bruder verschieden von mir!‹ Und er sagte lebhaft und verwundert: »Ja, Mensch, wenn es dir unangenehm ist: warum bestärkst du sie denn darin, indem du den Starken spielst und den großen Helfer?«

Bruder Klaus sah ihn von der Seite an, so als wenn er sagen wollte: ›So'n junges Blut will mir raten!‹ und lächelte klug, glücklich und stolz, und sagte: »Aber ist es nicht hübsch, wenn sie so alle auf mich sehn und mich mit ihren großen Augen ankucken, und alle Augen sagen: ›Du vergißt uns doch nicht, Vater? Nein, unser Vater vergißt uns nicht!‹ Worin besteht sonst das Glück der Familie? Doch darin, daß du ihnen der Baas bist und sie alles von dir erwarten? Aber das ist wahr: das Herz ist einem schwer! ... Weißt du was?« sagte er plötzlich, »weißt du, was ich möchte? Ich möchte an die Front! Damit dieser verdammte Aufenthalt da in Rendsburg und diese Besuche zu Hause aufhören! Weg mit dieser Frau ... und den Kindern und den Tieren und den Feldern! Entweder hier im Hause tagtäglich sein und den Baas spielen, oder Soldat irgendwo im fremden Land, tausend Meilen von zu Hause, wo die Wölfe sich gute Nacht sagen! Diese Garnison ist zu nah! Man denkt und sieht immer wieder das Haus mit allem Drum und Dran! Hast du gesehn, daß die Wand der Scheune schief gesackt ist und daß ich sie mit dem alten Eschenstamm abgestützt habe? Gut! Du magst es glauben oder nicht: diese schiefe Wand mit dem Eschenstamm sehe ich, wo ich gehe und stehe! Ich sehe sie bei Tag auf dem Kasernenhof und nachts auf dem Strohsack ... ja, ich sehe sie im Gesicht des Feldwebels und in der Erbsensuppe! Genug, ich habe mich an die Front gemeldet! Lieber Feuer und Schwefel vom Himmel, als diese Existenz! Aber der Hauptmann will mich noch nicht loslassen. Er sagt, ich bin nicht recht stark. Er sagt, ich bin kein starker Mensch. Und das ist ja auch wahr. Ich bin immer gleich erkältet und muß im Winter Monde lang husten.« So redete er mit großem Eifer, Zorn und fast Aufregung, so daß Bruder Reimer gar nicht vor ihm ankommen konnte, seine Weisheit leuchten zu lassen.

So kamen sie bis zu der Stelle, wo Bruder Klaus abbiegen mußte, um auf der Heidespur, die den Weg sehr abkürzte, nach dem Bahnhof zu kommen. Da gaben sie sich die Hand, und Bruder Klaus trabte allein weiter.

Zu Hause erzählte Reimer der Mutter, wie der Besuch abgelaufen wäre, und in seiner Weise alles, was er erlebt hatte. Um seine Gedanken zu klären und in einen Erwerb für sich zu verwandeln, sagte er: »Bruder Klaus ist gewiß wunderlich ... ja, man kann wohl sagen, daß er fast immer und in allem eine schiefe Stellung zur Welt hat; aber es ist so hübsch, daß er in diesem wunderlichen Wesen so sicher lebt.«

Seine Mutter wußte mit diesem großen Satz nicht recht was anzufangen und sagte: »Daß er wunderlich ist, das ist gewiß, und daß er so bleibt, solange er lebt, ist auch gewiß; ob seine schiefe Stellung zur Welt so sicher ist, weiß ich nicht und glaube ich nicht und habe meine Gründe dafür; und weiter sage ich nichts über ihn! ... Und nun erzähle mir mal ordentlich, wie war es denn neulich bei den Hamburgern? Bist du noch immer so gut Freund mit der kleinen Deern?«

Sie redete ihren Kindern nicht in ihre Liebesangelegenheiten; aber sie konnte es bei ihrer kräftigen Natur nicht lassen, alles freundschaftlich mit ihnen zu erörtern, und im Geist mit ihnen auf die Freite zu gehn.


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