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19. Kapitel

Die gute Prise

Am selben Tag ... am Abend in der Dämmerung ... tanzte die ›Alte Liebe‹ auf den dunklen Wogen der Nordsee in dem steifen Nordostwind, der am Abend vorher eingesetzt hatte, ihre Strecke auf und ab.

Die Backbordwache saß nach Backen und Banken in dem Logis beim Kartenspiel. Es ging aber etwas träge dabei her, ganz ohne Lärm und Lachen, wie denn überhaupt die ganze Stimmung nicht die richtige war. Von der Begebenheit mit den Schiffbrüchigen und ihrer Niederlage mit dem Narren sprachen sie kein Wort. Sie schämten sich noch so sehr, sowohl seiner, weil er den Feinen und Vornehmen gespielt hatte und keiner gewesen war, als auch ihrer selbst wegen, daß sie es ihm geglaubt hatten und so schrecklich getäuscht worden waren. Auch davon, daß sie fast alle Gesuche eingereicht hatten, um von dem Boot fortzukommen, sprachen sie nicht; es war ihnen ein zu trauriges Kapitel. Sie sprachen nur davon, ›daß sie nun noch mal‹ – das sollte heißen: ehe sie auseinander gingen: eine gute Prise haben möchten ... das sollte heißen: im Gegensatz zu der schlechten Prise, da sie den Narren und seine Gesellschaft fingen. Sie waren zurückhaltender gegeneinander, so als wenn sie sich schon etwas fremder geworden waren, und behandelten sich höflicher. Besonders höflich behandelten sie Peter Hagedorn, den Unteroffizier. Von der Stunde an, da er den Narren entlarvt und der Maskerade ein Ende gemacht, hatten sie ihn alle, ohne daß ein Wort darüber gesagt worden war, als Häuptling anerkannt. Sie folgten ihm willenlos, fragten ihn zuerst um seine Meinung, und sahen ihn fragend an, wenn irgend etwas Neues auf sie zutrat. Ja, der Sachse, der auf einem großen Rittergut Knecht gewesen war, ließ ihm auf den Gängen und der Treppe den Vortritt, selbst wenn er die Kaffeetasse für den Steuermann in der Hand hatte. Nicht, daß sie Peter Hagedorn besonders gern hatten! O nein! Aber es war klar: er sah tiefer, und war auch tapferer als sie. Sie alle, sie waren Feiglinge. Nicht gegen die Engländer, natürlich nicht! Herrgott ... die Engländer ... die sollten kommen! Und wenn eines Morgens aus dem Herbstnebel heraus einer ihrer Allmächtigen hervortreten würde: sie würden, ihr Geschützlein am Bug, auf ihn losfahren und ihn beschießen, solange sie schwämmen! Aber in den Seelen, da waren sie feige gewesen.

Als sie so in der Dämmerung ihren Törn dahinfuhren ... das Boot stampfte und rollte in den schweren Regenböen gegen Wind und Wogen nach Norden zu ... sie waren alle etwas müde, denn sie hatten schon drei Tage und Nächte, da Wind und Sturm sie abwechselnd in Unruh gehalten hatten, keinen rechten Schlaf gehabt ... da wurde Alarm herabgerufen, und sie stürzten an Deck. Da sahen sie in ungefähr zweitausend Meter Entfernung die undeutlichen Umrisse eines ziemlich großen Dampfers mit einer großen Last von Holz und Kisten an Deck. Sie konnten es im Dämmerschein nicht deutlich ausmachen, zumal er mit Südostkurs gefahren war und nun grade dabei war, Südwestkurs zu nehmen. Sie sandten ihm das Signal, zu stoppen, und fuhren vorsichtig in großem Bogen an ihn heran, jeder Mann auf seiner Gefechtsstation, Harm Ott als zweiter Mann am Geschütz. Sie konnten sich nicht erklären, wie ein fremder Dampfer dazu kam, in unsre Sperre zu laufen, und dachten, es könne irgendeine Falle sein. Als sie aber nichts Verdächtiges sahen, liefen sie näher und ließen das Boot zu Wasser. In dem Augenblick hörten sie von der Brücke des Schiffes her ein lautes, wildes Schreien und sahen im selben Augenblick einen starken, wie es schien hellhaarigen Menschen unter den andern hervorragen und gleich darauf ein Ringen und Schlagen, so als wenn ein Mensch überwältigt würde; und dachten, es wäre da irgendein Streit entstanden. Indessen kam das Boot zu Wasser und Peter Hagedorn fuhr mit vier Mann hinüber. Nach einer Weile kam das Boot zurück und brachte die Papiere. Der Steuermann sah hinein, und sah, daß es die ›Herkyra‹ von Bergen in Norwegen war, mit Stückgut, darunter Munition und anderes Kriegsmaterial, von Boston nach Rotterdam bestimmt.

»Der Kapitän sagte mir, sie hätten falsch navigiert,« berichtetete Peter Hagedorn.

Der Steuermann sagte: »Klar und gut, eine Prise!« und zu Peter Hagedorn: »Wir werden ja heute abend abgelöst; also können wir selbst die Sache machen. Sie und vier Mann, die Sie sich aussuchen können, als Prisenmannschaft klargemacht! Die Papiere nehmen Sie mit. Sie bringen das Schiff nach Cuxhaven. Funker!« Und er gab dem Funker die nötigen Weisungen für die Station.

Das war nun ein Erlebnis, was da den vier Auserwählten bevorstand! Erst in das Boot gehn, dann das fremde Schiff betreten, die fremden Matrosen besehn, als Prisenmannschaft stolz auf dem feindlichen Deck hin und her gehn, und dann in Cuxhaven an Land gehn! Und am andern Tag stand es in der Zeitung! Aber nur fünf von ihnen sollten es erleben! Es war ein sehr schlimmer und harter Augenblick! Sie blieben alle an der Stelle, an der sie standen, still und stumm stehn und sahen hier und da hin, nur nicht auf Peter Hagedorn. Daß er doch ja nicht dachte, sie wollten werben oder betteln, daß er gerade sie auswählte! Aber auch für Peter Hagedorn war dieser Augenblick schwer. Er knurrte etwas mit seiner buffigen Stimme, und wußte nicht, was er sagen sollte. Da kam Harm Ott, der seine Not sah, zur Hilfe und sagte mit leiser Stimme: »Nimm die Verheirateten und Ältesten.«

Sie waren alle wie erlöst. Jawohl, die Verheirateten! Sie gönnten den Verheirateten, die wegen des Heimwehs nach Frau und Kindern besonders litten, dieses Erlebnis, und daß sie, indem sie an Land fuhren, nach Cuxhaven, den Ihren näher waren, und auch, daß sie für einige Tage aus der Gefahr waren, und so schien diese Sache glatt abzulaufen.

Aber da trat der Westpreuße, der mit zu den Auserwählten gehörte und schon an der Treppe stand, um hinter den andern herzuspringen, wieder zurück, wandte den runden Kopf zu Peter Hagedorn, sah ihn an und wußte nicht, wie er sagen sollte, was er sich dachte. Er dachte sich nämlich in seinem phantastischen, dicken Kopf – als wenn so etwas möglich, ja als wenn es wahrscheinlich wäre! – daß der Bruder von Harm Ott grade auf diesem Schiff sein könnte. Es kam ja doch von Amerika, also war es ja doch möglich! Ja, das war es doch?! Warum nicht?! Geschahen nicht die seltsamsten Dinge und Begegnungen, und nun gar im Krieg? Hatte nicht Walter Nebendahl, sein Dorfgenosse von Klingbüll, in einer verräucherten kleinen Wirtsstube in Flandern seinen Bruder getroffen, der nach seiner Meinung in Kalifornien auf einer Farm Äpfel pflückte, und den er zehn Jahre lang nicht gesehn hatte? Aber wie sollte er sagen, was er dachte?! Er konnte es doch unmöglich so aussprechen! Obgleich sie sich gewöhnt hatten, sehr aus sich herauszukommen, ja, so sehr ein Herz und eine Seele waren, wie sonst auf keinem Schiff in der ganzen Welt: so war dies doch ein zu großes Wort! Nein, in welcher Aufregung und Not er da an der Treppe stand! Gott sei dank, daß es schon dämmrig war! Zuletzt, da er sich nicht helfen konnte und höchste Eile not tat, sagte er das Allerverkehrteste und Sinnloseste; er sagte stockig und mit verkniffnen Augen: »Ich will nicht! Ihr könnt mich vierteilen ... ich gehe nicht! Harm Ott soll mit! Er ist nach Peter Hagedorn unser Bester.«

Er atmete hoch auf, denn er meinte, er hätte es so richtig gemacht und zugleich seine Gedanken aufs tiefste verborgen. Aber sie lächelten alle gutmütig und verständnisvoll und wußten, was er dachte, und Peter Knudsen, der Tagelöhner, der eigentlich aus Versehn an Bord und zur See war, sprach ihrer aller Meinung aus, als er langsam und bedächtig sagte: »Das ist nett von dir, Dicker! Immer kameradschaftlich! Natürlich ... Harm Ott muß mit!«

Aber dann hielt der Steuermann es für richtig, daß sie sechs Mann stark hinübergingen; und so kam der Westpreuße auch noch mit.

Die Auserwählten waren überglücklich. Wie die Wilden sprangen sie die Leiter hinunter, rissen ihre Säcke auf, warfen hinein, was sie brauchten, nahmen eine Kiste Handgranaten und für jeden Mann einen Revolver, und kletterten über Bord. Der Wind fing an, stärker zu werden; das Boot schlug gewaltig auf und nieder; aber sie kamen doch gut und rasch hinein, und zu den andern hinüber und kletterten an Bord.

Der Kapitän stand an der Reling und empfing sie. Zwei oder drei Decksleute standen hier und da zerstreut herum und schienen dumpf neugierig zu besehn, was vorging. Es war eine zwar sternlose aber helle Nacht, so daß man die Figuren recht deutlich sehn konnte; aber die Gesichter sah man nur, wenn man in einer Entfernung von zwei oder drei Metern vor ihnen stand.

Peter Hagedorn fragte den Kapitän, einen langen und breiten Menschen mit bartlosem Gesicht, wieviel Leute außer den Maschinisten an Bord wären.

Der Kapitän mußte sich erst besinnen, dann nannte er außer den Maschinenleuten vierzehn Mann.

»Die sind nicht hier,« sagte Peter Hagedorn, »wo sind sie?«

»Hier und da bei der Arbeit. Die Decksladung muß besser verstaut werden.«

Peter Hagedorn ging mit dem Kapitän und einem der Leute nach der Brücke hinauf; die andern machten sich unter Führung Harm Otts auf, das Schiff zu durchsuchen, wie sie vorher verabredet hatten.

Er ging zuerst in die Maschine hinunter und befahl dem ersten Maschinisten, einem kurzen, dicken Menschen, der ihnen schon entgegenkam, daß er Volldampf geben solle, und daß er sofort gegen ihn vorgehn würde, wenn die Maschine auch nur ein wenig nachließe. Der Maschinist, schwer betrunken, nickte mit Kopf und Händen, die ihm beide gleich schwer waren. Als der Mann dann aber noch einmal die Augen bis zum Gesicht von Harm Ott erhob, riß er sie weit auf und schrie: »German! German!« und lachte, und versuchte, sich auf die Schenkel zu schlagen; und sagte etwas zu seinen Leuten, was Harm Ott nicht verstand. Er dachte, es ginge ihn weiter nichts an, und stieg wieder hinauf. Er hatte aber ein unangenehmes Gefühl, so als wenn da etwas nicht in Ordnung wäre, als wenn sie betrogen würden. Er konnte sich aber durchaus nicht denken, was da vorliegen könnte. Dabei fuhr ihm so durch den Sinn, was das wohl für ein Schrei gewesen wäre, den sie vorhin, ehe sie das Schiff betreten hatten, von der Brücke herab gehört hatten. Er wollte danach fragen, vergaß es aber wieder.

Als er an Deck kam, wunderte er sich wieder, daß da so wenig Leute auf dem Schiff waren. Als er also wieder in Sicht der Brücke war und wieder unter seinen Leuten stand, rief er einen der Mannschaft herbei, einen langen Menschen mit großem schmutzigen Gesicht, und fragte ihn zuerst auf deutsch, dann auf englisch, wie stark die Mannschaft des Schiffes wäre. Aber der Mann verstand ihn nicht oder tat wenigstens so. Er hatte höflich und schnell den Kopf geschüttelt und war zurückgetreten. Als er aber zurücktrat, war es Harm Ott, als wenn er zu seinen Kameraden hinübersah, die schräg hinter ihm standen, und als wenn ein höhnisches Lächeln über sein großes Gesicht fuhr. Da sandte er einen Boten zu der Brücke hinauf und ließ Peter Hagedorn sagen, daß ihm die Sache bedenklich vorkäme, so als wenn da Leute auf dem Schiff versteckt wären; er möge doch den Kapitän danach fragen und auf jeden Fall einen Mann an den Aufgang zur Brücke stellen, damit er rückwärts gesichert wäre; indes wolle er das Schiff weiter durchsuchen. Der Mann kam zurück und meldete, daß der Kapitän geleugnet hätte, daß noch Leute an Bord wären. Harm Ott hatte nun noch drei Mann. Mit denen machte er sich nun weiter an die Durchsuchung des Schiffes. Er öffnete alle Türen und sah in alle Kammern und Messen und in das kleinste Gelaß; aber er fand nichts. Die Nacht und der Sturm und die Deckslast, die überall umherlag und hier und da nicht sicher befestigt war und hin und her schlug, hinderten sie sehr. Das ganze Schiff hatte überhaupt etwas unübersichtliches, ja, es war, als wenn es sich fortwährend veränderte. Er und der eine Kamerad waren nicht von Kind an Seeleute gewesen, und der andre war von der Unruh und Arbeit der letzten stürmischen Tage so totmüde, daß er stolperte; und so machten sie es wohl nicht ganz richtig. Genug, er glaubte später, daß er die eine Reihe Kammern zweimal geöffnet hatte und eine andre gar nicht, ja vielleicht den Gang überhaupt nicht betreten hatte. Also fanden sie nichts und ließen davon ab. Harm Ott schalt sich im stillen, daß er ängstlich wäre; und er spottete über sich, daß dies eben sein erster richtiger Kriegstag wäre und daß er daher übereifrig wäre.

Der Sturm war stärker geworden und immer mehr nach Osten gegangen. Das Schiff hielt noch Kurs nach Südosten, aber er merkte wohl, daß sie nicht vorwärts kamen, ja daß sie vielleicht abtrieben und immer mehr auf englisches Gebiet gerieten, und am Morgen verloren wären. Dabei wunderte er sich, daß das Schiff so schwächlich gegen den Wind lief, so als wenn es keine Kraft hätte; und bald darauf merkte er, daß das Schiff aus dem Steuer lief.

In dem Augenblick kam der Mann von der Brücke heruntergesprungen und sagte, daß der Maschinist melde, daß die Maschine stoppen müsse; es wäre eine kleine Reparatur nötig. Harm Ott möge nachsehn.

Harm Ott nahm seine beiden Mann mit und sprang die Treppe zur Maschine hinunter. Unten saß der erste Maschinist eingeschlafen auf einer Kiste, neben ihm die umgefallene Wiskybuddel. Der zweite stand, die Hände in den Hosentaschen, an die Wand gelehnt und sah die Kommenden verstockt an; man sah ihm ordentlich an, wie er stier nach dem Entschluß handelte, den er gefaßt hatte. Harm Ott dachte: ›Mach's rasch und kurz,‹ nahm ihn beim Kragen und warf ihn den Kameraden zu und sagte: »Sperrt ihn ein!« Die Heizer, die im Hintergrund standen, schwankten einen Augenblick, ob sie sich auf sie stürzen sollten; aus den beiden Löchern, die zu den Bunkern führten, erschienen die wüsten Köpfe einiger Trimmer; aber ehe sie sich besannen, rief Harm Ott mit rascher, heller Stimme, englisch und plattdeutsch durcheinander: »Seid ihr des Teufels?! Quick, quick! ... Seid ihr verrückt? Wir laufen ja auf das englische Minenfeld! ... Dampf! ... Dampf! ... Wer ist der Headman? Der da? Mach' Dampf, Mann, oder ihr seid tote Leute! Noch zehn Minuten und wir sitzen drin! Stellt die Maschine an!«

Der Oberheizer, ein junger Mensch mit frischem, kühnem Gesicht, griff an den Hebel und ließ die Maschine anspringen. Die andern glaubten oder glaubten es nicht ... sie fanden es auch wohl praktischer, weiterzufahren, als auf See zu treiben; sie wandten sich von ihm ab und fingen an, erst widerwillig, wie wenn sie sich schämten, dann rascher, dann zuletzt im alten Schwung, Kohlen zu schaufeln; ein Trimmer, wohl ein Allerweltsmann, kam aus seinem Loch heraus, tippte sich auf die Stirn und rief seinen Kameraden zu: »Wie könnt ihr solche Narren sein und für England auf die Minen laufen oder von den Deutschen eine Kugel vor den Kopf zu bekommen? Seid doch neutral, Kinder! Neutral! Wer hat die Gewalt über das Schiff und über uns? Der da an der Treppe und seine Leute! Deutsche! Also gehorcht! Neutral! Neutral! Das ist jetzt alles!«

Da merkte Harm Ott, daß dieser hier genügte, und ging wieder nach oben. Und fühlte, wie unter seinen Füßen die Maschine mit neuer Macht arbeitete.

Gleich darauf meldete ihm der Westpreuße, daß einige große Kisten an der Deckladung sich gelöst hätten. Da rief er sie alle herbei, auch die Mannschaft, die da herumstand, und arbeitete, während das Schiff mächtig gegen den Wind stampfte, mit aller Macht an der Deckladung. Eine der ungeheuren Kisten, wahrscheinlich eine Maschine, konnten sie nicht halten; sie zerschlug die Reling und ging über Bord. Aber das andre konnten sie sicher vertäuen und retten. So vergingen mehrere Stunden; es mochte nicht lange mehr dauern, daß der Morgen kam. Seine Leute waren übermüde. Es war die dritte Nacht, daß sie keinen ordentlichen Schlaf mehr hatten. Der Hamburger, der Ewerführer, der sich einen Augenblick an die Treppe lehnte, stolperte, als er aus Versehn angestoßen wurde; er hatte im Stehen geschlafen und wäre beinah umgefallen. Es war aber an Schlaf nicht zu denken, solange sie noch hier draußen herumtrieben. Die Mannschaft des Schiffes arbeitete widerwillig, doch hatte er keinen rechten Grund, einzuschreiten.

Als sie nun so ... es mochte gegen vier Uhr sein und das Wetter wurde etwas klarer, und man konnte die Gesichter deutlich erkennen ... die Erregung der ersten Stunden ließ auch nach ... bei der Arbeit standen, und er selbst mit zugriff, fiel ihm wieder auf, daß die Mannschaft des Schiffes jedesmal, wenn sie bei der Arbeit sich ihnen näherten, sich von ihnen zurückzog, so als wenn sie, die Deutschen, die Pest hätten. Er konnte es sich nicht erklären und grübelte darüber nach, was es sein möchte. Er sah nun auch ... da er nun wieder unruhig geworden war und seine Gedanken nun wieder auf jenen Schrei und Kampf auf der Brücke und auf die Spur des Mißtrauens gekommen waren, und es auch heller wurde ... daß die Leute sich immer wieder umsahn, so als erwarteten sie irgend etwas Plötzliches. Da schickte er den kleinen Schiffsjungen, einen hübschen, lebendigen kleinen Kerl, der aber auch scheu und verbaast herumstand und lief, nach der Kombüse, um ihm einen Schluck Wasser zu holen. Als er im Gang verschwunden war, ging er wie von ungefähr hinter ihm her, faßte ihn, als er allein mit ihm war, hart an, deutete über das Schiff und fragte auf englisch und deutsch: »Wo? ... Wer? ...«

Der Kleine sah mit entsetzten, großen Augen zu ihm auf und sagte leise: » English seamen on board.« »Wieviel?« » Eight men!« und weinte und schüttelte verzweifelt den Kopf.

Da ließ er ihn, strich ihm zur Beruhigung über das Haar und ging zurück und trat zu seinen Leuten und sagte leise und fest: »Es sind englische Seeleute an Bord versteckt; vielleicht eine englische Prisenmannschaft ... Die Waffen bereit ... wir müssen sie unschädlich machen.« Damit trat er auf den größten der Mannschaft zu, hob seinen Revolver, deutete übers Schiff und sagte: » English seamen. Wo?... Vorwärts! Aber leise! Ein Ton ... und ich schieße!«

Der zuckte zusammen, ließ die Speiche, die er in der Hand hatte, fallen und machte sich willig, ja, wie es schien, von einer Sorge befreit, auf den Weg, Harm Ott, die Laterne an der Brust, hinter ihm her. Er führte sie in den Gang nach der Kombüse und dort an eine Tür und in einen kleinen Raum, in dem allerlei Zinkfässer standen, und deutete auf eine zweite Tür und trat zurück. In demselben Augenblick kam ein wilder Schrei von derselben Stimme, die sie vorhin von der Brücke gehört hatten, aus dem Raum: »Deutsche! Deutsche! Vorsicht!« Und ein Stoßen und Ringen und Schlagen, und wieder der wilde Schrei.

Da schrie Harm Ott: » Here German Seamen! Zwölf Mann! Open the door!«

Drinnen war es ruhig geworden. Er hörte nun ein leises, ruhiges Reden und Antworten, und das Aufstehn und Sichrecken eines Menschen und den Ausruf: »Oha ... Oha!« und ein langes »Donnerwetter!« Das dauerte eine ziemliche Weile. Dann rief dieselbe Stimme mit noch mühsamem Atem: »Hier ist ein englisches Prisenkommando: ein Offizier und acht Mann. Und dann ist hier ein Deutscher, einer von der Besatzung des Dampfers, den sie gefangen genommen und gebunden hielten und mit sich in diese Kammer geschleppt haben, damit er sie nicht verriete. Aber jetzt habe ich mich frei gemacht; und sie haben mir auch alle ihre Waffen gegeben und geben sich euch gefangen. Und nun öffne ich, der Deutsche, die Tür.« Gleich darauf ging die Tür auf, und der Deutsche, ein großer, junger Mensch in schmutziger und verkommener Kleidung, kam heraus, mit hohen Schultern. Hinter ihm kamen die englischen Matrosen, breite Leute, die Mützen tief in der Stirn. Zuletzt kam einer, der wie ein Offizier aussah; doch war es ein einfacher Mensch. Er grüßte und hielt in guter Haltung eine kleine Rede: »Wir hatten den Dampfer, der nach Holland sollte, als Prisenkommando besetzt. Wir müssen aber durch den Sturm und schlechtes Navigieren von unserem Weg abgekommen sein, denn wir liefen Ihrem Wachtschiff in den Rachen. Da beschlossen wir, uns zu verbergen, um, wenn angängig, Sie in der Nacht zu überfallen und zu überwältigen. Als wir nun noch mit dem Kapitän und den Leuten verhandelten und sie uns versprachen, daß sie sich an nichts kehren wollten, schrie dieser Matrose, der am Ruder stand, plötzlich zu euch hinüber, daß ihr vorsichtig sein solltet. Da mußten wir ihn niederreißen und ihn knebeln und mit in unser Versteck nehmen. Wir haben ihm aber nicht mehr angetan, als für unsere Sicherheit durchaus nötig war.«

Der junge Deutsche, die Hand am eignen Hals, lachte kurz auf: »Es ist so, wie der Mann sagt. Ich werde vier Wochen lang einen dicken Hals haben, und weiter nichts.«

Harm Ott wunderte sich, wie ruhig, sozusagen: wie gerecht er das sagte, und auch wohl über die Stimme; aber es verflog ihm wieder. Er ließ die Engländer nach vorn unter die Back führen, schloß den Raum hinter ihnen zu, stellte eine Wache davor und ging zu Peter Hagedorn hinauf und sagte ihm, was geschehen war, kam dann wieder hinunter und stellte sich mit seinen Leuten an die Reling und wollte so den Morgen erwarten. Die Mannschaft des Schiffes saß und lag im Lee des Schornsteins und schlief.

Nach einer Weile fiel ihm auf, daß er den Deutschen nicht sah, war auch neugierig von ihm zu hören, dachte auch, es könnte ihm gut tun, sich ein wenig zu unterhalten, da er hart mit Müdigkeit zu kämpfen hatte. Also ging er hin, ihn zu suchen.

Er ging durch den Gang und fand ihn nicht, und suchte ihn in der Kombüse und fand ihn da auch nicht. Zuletzt sah er ihn einsam am Ende des Ganges sitzend, die Schulter in einer merkwürdig leidenschaftlich hingeworfenen Art gegen die Wand gelehnt. Es war da dunkel.

Er achtete erst nicht drauf, daß jemand sich ihm näherte. Er fuhr fort an seinem Hals zu reiben. Dann aber hörte er damit auf und sagte mühsam: »Sie haben mich doch mächtig hart angefaßt! Mir wird dunkel vor den Augen,« und er griff nach Harm Otts Arm.

Da griff Harm Ott zu und half ihm hoch und führte ihn zu den andern an die frische, kalte Nachtluft am Ende des Ganges, und ließ ihn dort auf eine Kiste niedergleiten, und befahl dem kleinen Jungen, der sich nun zutraulich und Schutz suchend in seiner Nähe hielt, Kaffee und Brot zu holen, und befahl ihm, auch für alle andern Essen und Trinken herbeizuschaffen; und stand so neben dem Fremden und sah auf ihn herab, und machte sich nach seiner Weise Gedanken über ihn. So dunkel es war, so erkannte er jetzt deutlicher, daß seine Kleidung völlig heruntergekommen war, aber nicht seemännisch, sondern so, als wenn ein Landmann herunterkommt. Er hatte grobe Stiefel an und dicke, starke Hosen, die mit Fett und Schmutz wie eingerieben waren, eine Jacke vom selben Stoff und Schmutz und eine entsetzlich verkommene Tuchmütze, die früher mal blau gewesen war. Das Gesicht sah er nicht, zumal jener saß und es nur ein wenig hob, wenn er langsam sprach. Dabei machte er sich immer an seinem Hals und Nacken zu schaffen, so als ob er nachsehn wollte, ob auch die einzelnen Wirbel noch an ihrem rechten Platz säßen und heil wären; und wenn er bei seinem Essen und Trinken schluckte, hob er die Schultern und preßte es hinab.

Als er fertig gegessen und getrunken hatte, wurde er etwas munterer, fing von sich aus an, zu erzählen, und sagte: »Sie haben die ganze Nacht beraten, ob sie es wagen sollten, sich herauszuschleichen und euch zu überfallen; aber sie hatten nicht den Mut dazu; sie hatten immer irgendwelche neuen Bedenken. Ich dachte, während sie berieten: ›Nun sollte ich hier sitzen mit meinen beiden Brüdern und einigen Nachbarjungen! Wie hätte ich euch fangen wollen!‹ Er lachte still vor sich hin.

»Wie lange bist du fort von Haus?« fragte Harm Ott.

»Von Hause? ... Oh ... so gegen drei Jahre.«

»So ... Und nun machst du denn einen kurzen Besuch bei denen da zu Hause ... und dann wieder fort und in den Krieg!«

»Ich will nicht erst nach Haus,« sagte er ruhig. »Da, wo ich an Land komme, will ich mich gleich melden.«

Harm Ott sagte: »Das ist nicht recht ... Erst nach Haus zu Mutter, und dann in den Krieg. Der Krieg ist eine bitter ernste Sache.«

Der Fremde hob mit seiner raschen, starken Bewegung die schlanken, breiten Schultern und meinte gleichmütig: »Ich bin ja nicht wegen der Familie gekommen. Ich sah da drüben, daß da immer mehr Leute über Deutschland herfielen, und da meinte ich, ich wäre hier nötig. Darum bin ich gekommen, doch nicht wegen der Familie!«

Harm Ott fuhr es so durch den Sinn, daß er jemand kannte, der in bösen Stunden, besonders in der letzten bösesten, die Schulter genau so hob wie dieser; aber er dachte: ›Der Westpreuße ist verrückt und hat dich auch verrückt gemacht.‹ Er starrte auf den Fremden herab und sagte bei sich selbst: ›Der ist ja viel größer und breiter als Eggert; auch ist seine Sprache anders.‹ »Wie ist es dir denn gegangen ... drüben,« fragte er ... »schlecht?«

Der Fremde fuhr auf und sagte verletzt und kalt: »Wieso? Schlecht? Gar nicht!... Ach, du meinst wegen meiner Kleidung?! O, nein, ich habe meine gute Kleidung in meiner Kiste versteckt! Ich habe zwei neue Anzüge, einen für Sonntags und einen für Best, und Geld habe ich auch in einem Beutel um den Leib ... hier!« Er griff sich mit einer starken Bewegung der Arme an die Hüfte.

Harm Ott zuckte zusammen, als er diese Bewegung sah und die Wendung hörte »und einen für Best«. Sagte man so außerhalb der Heimat? Er hörte ein Geräusch hinter sich und wandte sich um.

Da standen die vier Mann von der »Alten Liebe« hinter ihm. Sie standen da schon einige Zeit. Es stand ihnen der Atem still.

Der lange Söht von Büsum, der immer gern sicher und fest auftrat ... weil er im Grunde ein etwas haltloser Mensch war ... konnte es nicht länger ertragen. Er sagte: »Frag' ihn, Harm Ott! Frag' ihn frischweg! Ist er es oder nicht?!«

Da fuhr der Westpreuße stotternd dazwischen. Er war seiner Sache ja sicher. Er hatte es ja gewußt. »Laß deinen Hals mal los, Barfüßer,« sagte er jäh, »kuck' dich mal um!«

Der Fremde ließ von seinem Reiben ab und sah langsam auf. Dabei kam sein Gesicht in den grauen Morgenschein.

»Eggert!« sagte sein Bruder, »hier treffen wir uns!«

Eggert Ott blieb sitzen und starrte neben seinem Bruder über die See und sagte kalt und duckig: »Ich erkannte dich eben schon an der Stimme ... ich bin nicht zu meiner Familie gekommen.«

Aber da hatte er eine völlig falsche Rechnung gemacht.

Sie sprachen alle durcheinander: »Nee ... hör' mal! ... Du! ... Das gibt es denn doch nicht! Nee! ... bitte ... mein Junge ... das geht denn doch über das Menschliche! Nee ... das gibt es nicht! Her mit der Hand! ... Wir hier sind alle Zeugen, die ganze Backbordwache, ja die ganze Mannschaft von der »Alten Liebe«, 26 Mann, daß dein Bruder immer für dich eingetreten ist! Er sagt, der Knecht hat es getan ... kein andrer als der Knecht! Dieser dein Bruder ist dein wahrer Bruder und treuer Freund! Nein ... nein ... beide ... brave Leute! ... leibliche Brüder ... also! Was du mit deinem Alten hast, da wollen wir nicht hineinreden: aber du und dein Bruder ... nichts ... gar nichts zwischen euch! ... Glücklich, wer einen guten, treuen Bruder hat! Nein, gib ihm die Hand ... so ... Gib sie ihm, Eggert!«

Harm Ott liefen die Tränen über die Wangen. »Gib mir die Hand! Denk an die Mutter, wie sie sich freuen würde!«

Es wurde Eggert Ott, der sofort bei ihren Worten und dem Überfall aufgestanden war, unsagbar schwer. Es sah erst aus, als ob er die Hand nicht heben wollte, um sie dem Bruder zu geben, sondern um sie alle niederzuschlagen. Es war ihm schier unmöglich, sein schönes, herrliches Wort, daß er seiner Familie bis in den Tod gram sein wollte, seinen herrlichen, goldenen Haß, seine strahlende großmächtige Einsamkeit aufzugeben; aber die von der »Alten Liebe«, alle kleiner als er, standen da, breit wie Ambosse, bereit den Schlag zu empfangen; sie umstanden ihn und blitzten ihn so zornig und dringend an, und waren so mutig, ja tollkühn und siegessicher, und bedrängten ihn so mit ihren stürmischen, heißen Seelen, daß er überwunden wurde, so mächtig und stark auch sein Herz war. Er warf seine Hand hoch und fest in die Hand des Bruders, und sagte wie erlöst, – denn ihre Herzen hatten geradezu wie Steine auf seinem Herzen gelegen und es hatte fast stillgestanden vor dem Druck, den sie darauf machten –: »Na ... dann also. Es ist gut, Bruder Harm ... Wenn du auf meiner Seite gestanden hast ... Aber nur mit dir! ... Die andern« ... er meinte den Vater und die Leute aus dem Kirchspiel ... »Niemals!« Er schnitt mit der Hand durch die Luft.

Da griffen alle nach seiner Hand und auch nach seines Bruders Hand; und es gab ein heftiges und tüchtiges Händeschütteln. Aber es war nur kurz. Als sie fühlten, daß es genug war, traten sie alle von den beiden weg und stellten sich abseits gegen die Reling und sprachen laut und ganz gegen ihre Art fast lärmend über dies und das: über das Schiff und seine Ladung, über den Wind und den Tag, über ihre Ankunft in Wilhelmshaven – denn sie hielten nun Kurs auf Wilhelmshaven – und gingen in diesem Gespräch, so ganz allmählich, wie wenn es sich so ganz natürlich machte, nach der andern Seite hinüber. Und fanden erst ihr natürliches, langsames und ruhiges Wesen wieder, als sie die beiden Brüder ganz allein an der andern Reling stehen sahen.

So standen die beiden Brüder nebeneinander. Der ältere, mit noch immer klopfendem Herzen, vorsichtig in Worten, daß er den andern nicht verletze, und vorsichtig mit den Augen, von der Seite ihn ansehend; der Wiedergefundene karg, dürftig antwortend; beide aneinander vorübersehend. So standen sie bis der Morgen kam.

Als der Morgen völlig da war, ein grauer nebliger Herbstmorgen, fuhren sie durch die Schleuse von Wilhelmshaven und meldeten ihre Prise an.

Der Korvettenkapitän, ihr Chef, kam an Bord, sah das Kommando von sechs Mann, das in Reih und Glied stand, und dahinter, in einem Klumpen, die Mannschaft, und zur Seite für sich einen langen, großen, rotblonden Menschen in heruntergekommener Kleidung und einer häßlichen Tuchmütze; und hörte den kurzen Bericht, den Peter Hagedorn herausstieß: »Ein Unteroffizier und fünf Mann von der »Alten Liebe«, Prisenmannschaft auf dem norwegischen Dampfer Herkyra, mit Stückgut von Montreal nach London. Hier ... Schiffspapiere ... dort Kapitän.«

Peter Hagedorn machte eine Pause.

Der Chef sagte: »Es ist gut, Unteroffizier. Gut. Ihr Kommando ist beendet!« und wollte sich zu dem fremden Kapitän wenden.

Aber die fünf von der »Alten Liebe« sahen ihm so forsch, so kühn, so erzählend in die Augen, daß er unruhig wurde, und sein kühnes, scharfes, lebendiges Gesicht einen richtigen Tanz aufführte. Er wurde durch diese Augen gezwungen, daß er Peter Hagedorn wieder ansah, und sagte mit knatternder Stimme: »Noch was?«

»Zu Befehl!« sagte Peter Hagedorn. »Und eine englische Prisenmannschaft von einem Offizier und sieben Mann, die schon im Schiff waren und sich versteckt hatten. Wir haben sie entwaffnet und gefangengenommen. Sie sind unten in der Back.«

Der Chef lachte kurz auf und sein Gesicht tanzte. »Gut!« sagte er, »gut! Ich will sie sogleich verhören,« und er sah nach der Back. »Bringen Sie sie her, Unteroffizier!«

Aber als er das sagte, sah er, daß die Leute von der »Alten Liebe« nicht damit einverstanden waren. Sie hatten noch immer diese blitzenden und rasch und heiß erzählenden Augen, und er stutzte zum zweitenmal und sagte, ein wenig ungeduldig ... er war ja der Vater von hundert und zwanzig solchen Booten, und wenn er auch fest versprochen hatte, daß er jedes einzelne Boot hier ... in seiner Brust... tragen wollte, er konnte sich doch unmöglich mit diesen fünf Mann von der »Alten Liebe« so lange aufhalten! Er konnte es unmöglich; denn die anderen Boote rissen ja fortwährend an seiner Seele. Seine Seele war zwar stark ... das sah man ihm sofort an, so wie er kuckte und kommandierte und die Seele ihm im ganzen Gesicht saß und sprang. Aber er war doch nur ein Mensch ... »Noch mehr?« sagte er kurz.

»Befehl!« sagte Peter Hagedorn. »Dieser hier« – er zeigte auf den Wiedergefundenen, der den Chef halb neugierig, halb trotzig betrachtete – »gehörte zu der Mannschaft des Schiffes, ist aber ein Deutscher. Er machte zweimal mit Lebensgefahr den Versuch, uns zu warnen ... als wir an Bord kamen, und als wir an Bord waren ...und hat uns, da er uns durch sein Geschrei unruhig machte, vor Überfall gerettet.«

Der Chef nickte Peter Hagedorn zu und sagte: »Brav! ... Brav! ...« und trat auf Eggert Ott zu und gab ihm die Hand und sagte wieder: »Brav!« Dann wandte er sich wieder zu Peter Hagedorn und sagte: »Sie und der Obermatrose ... und Sie« – er winkte Eggert Ott – »kommen mit, wir wollen die Sache zu Protokoll nehmen,« und indem es jäh in seinen Augen von jenem Feuer blitzte, das in kühnen Herzen glüht, sagte er kurz und fast barsch: »Es wird denn wohl einige Eiserne Kreuze geben.«

Die andern vier von der »Alten Liebe« warteten nun auf das Letzte und Größte: daß nämlich der Chef erfuhr, daß und wie die beiden Brüder sich gefunden hatten! Denn das war ja noch tausendmal wunderbarer als alle andern Begebenheiten! Und sie sahen den Chef so an, daß es ihm scharf durchs Herz fuhr. Wie gern hätte jeder von ihnen ihm diese Geschichte erzählt und sein Gesicht gesehn und seine Verwunderung! Aber diesmal verstand er ihre Augen nicht. Er meinte, es wäre wegen der Eisernen Kreuze, die er in Aussicht gestellt hätte Und so nickte er ihnen zu, schmetterte sein: »Guten Morgen, Leute« und ging mit den dreien von Bord.

Nach einer kleinen halben Stunde gingen die Brüder mit einem Schreiben, das der Chef Eggert gegeben hatte, nach der Kaserne, wo Eggert Ott sich als Rekrut meldete und angenommen wurde. Sie boten ihm vierzehn Tage Urlaub an; aber er wollte ihn nicht. Er sagte, er wäre herüber gekommen, um mitzuhelfen, nicht um Urlaub zu haben. Er wollte jetzt baden und seine Sachen ins Wirtshaus bringen, und morgen um sieben Uhr antreten.

Als sie das erledigt halten und draußen auf der Straße standen, sagte Harm bittend und vorsichtig: »Du, Eggert, laß uns sehn, ob wir Bruder Reimer jetzt treffen können. Er hat Urlaub gehabt und kommt entweder mit dem nächsten Zug oder mit dem Abendzug. Komm mit! Du zweifelst ganz gewiß nicht, daß er immer zu dir gehalten hat, ganz wie ich. Außerdem ... er ist nun mal hier in Wilhelmshaven, wo du nun bist. Ihr könnt doch nicht fremd aneinander vorübergehn!«

Der Heimgekehrte hörte ihn mit gleichgültigem, kaltem Gesicht an, die Augen in die Weite. Aber inwendig stieg es ihm warm ins Kerz. Er sah die schmucke, bewegte Gestalt des Bruders und die dunkeln, gläubigen Augen, und sah ihn im Geist, wie er damals nach Hamburg fuhr und mit seinem Bücherpaket in der Wirtsstube in St. Pauli stand und bitterlich um ihn weinte; er empfand schon lange, daß er diesem unrecht getan, und liebte ihn wie immer; aber er konnte es nicht zeigen. Er knurrte unfreundlich: »Ich habe eigentlich genug ... aber wenn es nötig ist ... Und nun sage mir, wo ich mir neue Kleidung kaufen kann. Ich kann ja an meine Kiste nicht herankommen und ich mag diesen Abend nicht so herumlaufen.«

Da kauften sie neue Kleidung und gingen dann nach dem Bahnhof.

Bruder Reimer kam, diensteifrig und gewissenhaft wie er war, wirklich schon mit dem ersten Zug. Er sah seinen Bruder Harm da stehn und winkte ihm schon von ferne zu; und kam durch das Gedränge heran und gab ihm die Hand. Da erst sah er den Menschen an, der neben ihm stand. Er glaubte wohl erst, das Gespenst seines Bruders zu sehn, den Geist, der ja, wie einige meinen, vom Leibe sich trennen und seine besondere Erscheinung haben kann. Er konnte vor Schreck und Verwunderung nicht sprechen. Aber plötzlich sah er hinter den herben, überstolzen Augen einen leisen Schein brüderlicher Liebe, und schrie auf und umfaßte seine Schultern. Aber gleich bedachte und empfand er, daß des Bruders Gemüt noch wund wäre, und daß er ihn nicht anrühren dürfe, und ließ ihn los und trat zur Seite neben ihn, und ging ruhig neben ihnen her, obgleich seine Seele in heißer Erregung, in rasender Jagd, vom fernen Amerika bis auf den Hof am Deich und von da an die Brust des Bruders sprang.

Dann gingen sie neben einander, in unruhiger, zerfetzter Unterhaltung; und kamen aus der Stadt, und zum Banter Bürgergarten. Da gingen sie hinein und setzten sich in den Vorbau, der in den Garten blickt. Da erst kam es zu einer ordentlichen Unterhaltung. Der Jüngste führte das Wort. Erst als Frager. Er weigerte sich, Bruder Harm, der ihn bedrängte, auch nur ein einziges Wort aus der Heimat und von seinem Urlaub zu erzählen; er wollte erst hören, wie die Brüder sich gefunden hatten. Wie genau er fragte! Wie er nicht eher ruhte, als bis er die Geschichte von der guten Prise durch und durch kannte: von dem Schrei auf der Brücke bis zu der Aussicht auf die Eisernen Kreuze, vom Gesicht des betrunkenen Maschinisten und des Schiffsjungen bis zum Bericht von Peter Hagedorn! Er ruhte nicht, bis er alles deutlich vor seinen Augen sah. Danach kam sein eigner Bericht! Wie gut und wie klug war es, daß er gleich zu Anfang sagte, daß die Sache gut abgelaufen wäre! Wie gut, daß er das gleich sagte! Nicht allein wegen Bruder Harm, der sonst die ganze Zeit, während des ganzen langen Berichts, todunglücklich gewesen wäre, nein, auch wegen Bruder Eggert! Denn obgleich Eggert mit gleichgültigem Gesichte dasaß, so als wenn er von beliebigen fremden Menschen erzählen hörte: eine Schmach der Familie, das wußte er, hätte ihn hart getroffen. War nicht sein Zorn, der damals über ihn kam, so schrecklich und rasend, zuerst, weil die Familie in Schande kam, und dann erst, daß es durch ihn sollte gekommen sein?! Also erzählte er die Begebenheit von Bruder Klaus, die er eben hinter sich hatte! Denn die Mutter hatte gesagt: »Du mußt es Harm erzählen. Harm muß es wissen, denn er ist der verständigste von euch, obgleich er nicht der klügste ist, damit er weiß, was für einen Bruder er hat, und ihn behüten kann, wenn wir Eltern nicht mehr sind.« Nein, wie klug er ezählte! Wie er von der ganzen übrigen Familie kein Wort sagte, sondern nur diese Geschichte von Bruder Klaus und der Mutter erzählte! O, er hütete sich wohl, daß er ihm nicht das wunde Herz verletzte! Und wie lebendig und herzlich er es vorstellte! Und wie man merkte, daß er selbst voll von Staunen war! Nein, dieser Bruder Klaus! Wie er mit seinem langen Hals und vorn an der Stirn schon kahl, und die Haare an den Schläfen schon grau, aus dem Uhlenloch spähte! Wie er dann, so gegen Morgen, bei seiner Rast am Wall, irgendwo bei Bendorf, zu seinen beiden Begleitern gesagt hatte: »Wenn ich an der Front bin, werde ich meinen Leuten natürlich immer schreiben, ich hätte sie nicht vergessen! Das muß ich ihnen schreiben, denn sonst sind sie traurig. Aber in Wirklichkeit werde ich sie vergessen haben. Sie werden mir sein wie Erdmänner, die in einem Heidehügel von goldenen Tellern essen; denn ich kann nicht in die Ferne denken. Nein, das kann ich nicht.« Ja, so hatte er noch geprahlt in dieser Stunde am Wall bei Bendorf, unter mütterlicher Führung auf dem Wege nach Rendsburg! Und wie die Mutter einen raschen Blick auf ihn, Reimer, geworfen hätte, aber dann ihren Ältesten freundlich angesehn und gesagt hatte: »Das ist recht, mein Junge, stell' sie dir vor im Heidehügel; da sitzen sie warm und trocken, bis du wiederkommst! Und nun hol' deine Pfeife heraus und rauch' mal!« Und wie Bruder Klaus dann noch eine Weile am Wall gesessen und ruhevoll geraucht hätte ... an der Mutter Schürze! Ja, und wie er dann neben ihm auf der Treppe vor dem Hauptmann gestanden hätte: in seiner unmilitärischen Haltung ... die Halsbinde hinten weit heraus und weit, weit entfernt vom Rockkragen! Er machte es fast ein bißchen schlimm, wie er die Bilder vor ihren innern Augen malte, eins ums andere, und seine Lust dran hatte, und einige Male fast vergaß, wie es schien, daß er von seinem Bruder sprach, und der Heimgekehrte sah ihn einmal, als er so über Bruder Klaus lachte, mißtrauisch von der Seite an. Aber da sah er in den Augen des jungen Bruders die Seligkeit, daß er seinen Bruder Eggert wieder hatte; und fühlte, daß die Freude darüber mit ihm durchging, und daß er mit seiner lebhaften, jähen, erregten Erzählung nach seiner Seele griff, ihn für sich und das Elternhaus wieder zu gewinnen.

 


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