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29. Kapitel

Mehr Bekenntnisse

Am andern Morgen, als die Kleinen zur Schule waren, und der Vater, der schon auf dem Feld gewesen war, aufstehn wollte, um wieder hinauszugehn, sagte Harm: »Ich habe euch noch etwas zu sagen. Ihr müßt genau zuhören.«

Und er erzählte langsam und deutlich, wie er mit dem Ludwig auf die Schule gekommen, wie Ludwig ihn auf den Fremden aufmerksam gemacht, wie dieser Fremde der Knecht gewesen, wie der Knecht ins Wasser gewollt und gebeten hatte, ihn mit Emma reden zu lassen, und wie der Knecht zu erzählen angefangen hätte.

Die Eltern hatten atemlos zugehört, der Vater nach seiner Gewohnheit völlig schweigend, alles Leben hinter den tiefen, spähenden Augen, die Mutter dann und wann mit kurzen, heftigen Ausrufen: »Nein doch!« ... »O Gott!« ... »Weiter, Harm!« »Weiter, Harm!« und dergleichen. Als er aber mit seinem Bericht zu der Stelle kam, wo der Knecht erzählt hatte, wie er mit seinem Onkel auf Jahrmärkten herumgezogen und da mitgespielt und besonders allerlei Kunststücke mit der Stimme gekonnt hätte, schlug die Mutter die Hände hoch und schrie mit einem seligen Ausdruck im Gesicht: »Siehst du, Vater? Siehst du? O, mein Herrgott! Siehst du? O, freu' dich doch mit mir! O, gesegnet sei der Knecht, der gute Mensch, daß er es gestanden hat! O, gesegnet sei er! O, ich will ihn küssen! O, mein Herrgott! Nun ist er rein von Schuld! Nun ist diese Not von ihm genommen und von unsrer ganzen Familie und von unserm Hause! Vater, ich bitte dich, denk nicht daran, daß du ihn beschuldigt hast! Nein, daran denke nicht! Denk nur daran, daß er unschuldig ist, und freue dich mit mir, daß wir ein gutes, ordentliches Kind haben! Sieh, nun sind sie wieder, alle zehn,die ich noch habe, guter Leute Kinder! O, wenn ich in diesem Augenblick stürbe, wie selig würde ich hinfahren zu Reimer und zu meinen beiden Kleinen, die ich begraben mußte.« Und mit Lachen und Weinen sagte sie: »Er war nicht durch seine Schuld verloren; er ist auch draußen in der Welt nicht verdorben!«

Der Vater sagte nichts; es stürzte zu plötzlich auf ihn ein. Er saß mit bebenden Lippen stumm da, totenblaß. Seine Stirn hatte sich mit großen Schweißtropfen bedeckt. Die Hand, die er, als die Erzählung zu Ende ging, auf den Tisch gelegt hatte, flog hin und her.

Sein Sohn hatte sich überlegt, wie er ihm zur Hilfe käme; er sagte ruhig: »Mutter, daß Eggert ganz ohne Schuld ist, darfst du nicht sagen. Er hat Vater und uns alle mit seinem wunderlichen, störrischen Wesen und daß er immer zu den Ludwigs lief, viel Ärger gemacht. Und weil es so stand, weil da wohl Ursache vorlag, darum meinte Vater, daß er der Pfeifer wäre und daß er uns dies angetan hätte, dies, was so boshaft und so schlecht erschien und was unsre Emma so krank machte.«

Über das Gesicht der Mutter blitzte ein Gewirr von Freude, Mitleid, Kummer und Stolz. »Ja, Vater, so ist es! So wie Harm es sagt! Ein Schlingel war er! freilich! Ein tüchtiger Schlingel, ein hitziger Mensch! Und das hat er von mir! Es ist meine Schuld, Vater ... aber ...« die Tränen stürzten ihr aus den Augen, »ein Verdorbener und Verlorener war er nicht, Vater. Da hast du dich geirrt! Da hast du dich wirklich geirrt.«

»Und das hätte ich nicht sollen,« sagte der Vater mit zitternden Lippen, die Augen starr vor sich hin auf die Erde.

»Irren ist menschlich, Vater,« sagte Harm.

»Vater,« sagte die Mutter und schlang den Arm um seinen Nacken – es war das erstemal, daß ein Kind eine Bewegung der Zärtlichkeit zwischen Vater und Mutter sah – »O, Vater ... ich bitte dich... wenn du auch traurig bist, weil du ihm unrecht getan hast: die Freude, daß er unschuldig ist, muß doch größer sein, viel, viel größer!« Sie schüttelte ihn an den Schultern: »Hör' doch, Vater, wach' auf! Hör' doch auf uns!«

Der Vater umklammerte ihre Hand und sagte mit unsichrer Stimme: »Ich freue mich ja auch, Lene. Ich freue mich, ich kann nicht sagen, wie sehr, um seinetwillen und um euretwillen. Aber was mich angeht, so ist es furchtbar für mich, daß ich mich so versehn habe. Den einen hat mir der Krieg genommen; den andern habe ich selber mir genommen. Ich habe ein großes Unrecht begangen, ein sehr großes, ein ganz unbegreifliches, und das nicht vergeben werden kann, daß ich an meinem eignen Blut so gezweifelt habe. Er ist mir nun für immer genommen. Er wird nie wieder ›Vater‹ zu mir sagen, weil ich Schlechtes von ihm geglaubt habe ... Und ... das seht ihr noch nicht ... seht ... nun bin ich erst recht bange um ihn selbst! ... Ihr meint: Es ist nun alles gut! Aber seht, er wird nun noch viel stolzer werden. Er wird sich nun zeitlebens vor die Brust schlagen und sagen: Von meinem eignen Vater und von der ganzen Gemeinde bin ich beschuldigt und verleumdet worden! ... und unschuldig! unschuldig!« Und er schlug sich leise gegen die Brust. »Ich bin wohl froh, ja, das bin ich, um ihn und um dich und um uns alle. Ja, daß er nun gerechtfertigt ist vor uns und« – er machte eine Bewegung, als wenn er das ganze Kirchspiel vor sich hätte – »vor der ganzen Gemeinde ... Aber für ihn und für mich ...« er schüttelte den großen, ergrauten Kopf; und man sah, daß er es zu erkennen und zu verstehen versuchte, und es nicht vermochte.

»Vater,« sagte Harm, »ich glaube, du mußt diese ganze Sache, diese Schuld mit Eggert und dir, tiefer fassen, damit du sie richtig verstehst. Ich habe es euch noch nicht erzählt, was der Knecht sagte, wie er dazu gekommen wäre, uns den Schabernack anzutun. Er sagte, es hätte ihn geärgert, daß wir, unsre ganze Familie, so was Abgesondertes, Eigensinniges und Hochmütiges gehabt hätten, und er hätte gedacht, daß es uns gut tun würde, wenn wir mal ein wenig angegriffen, gekränkt und geärgert würden; wir wären nicht den andern Menschen gleich, sondern hielten uns für was Besonderes. So ungefähr war der Sinn seiner Worte. Du wirst dich erinnern, Mutter, daß ich schon damals, vor drei Jahren, als es eben geschehen war, zu dem Resultat kam, daß dies der Urgrund zu der ganzen Begebenheit sein könnte; und als nun gestern abend der, der uns diese Niederlage beigebracht hat, dieser kleine fremde Knecht, da vor mir saß und es Emma auseinandersetzte, da begriff ich erst recht, daß er nicht unrecht hatte. Es ist so mit uns, Vater, wie er sagt! Wir Otten ... und es trifft ja wohl viele Deutsche ... wohnen zu sehr vor der übrigen Menschheit jeder in seinem Eigenen, und waren zu blind für alles andere. Wir wundern uns zu sehr über andre Menschen, wie sie andrer Art sind. Wir reißen die Augenbrauen zu hoch gegen die andern Menschen, und zwar aus Hochmut. Mutter ist ungerecht gegen jedermann, sogar gegen ihr eigen Blut. Reimer hat mir erzählt, wie sie sogar mal auf ihre eignen Kinder gescholten und sich in einer langen Rede über sie gewundert hat ... damals am Bahndamm in Rendsburg, Mutter! Sie meint, ihre Art ist die einzig richtige und berechtigte. Ja, ich weiß, Mutter, daß Vater viel Mühe von dieser deiner Rechthaberei gehabt hat. Du vergißt immer, daß drüben überm Deich auch Menschen wohnen! Aber dir, Vater, geht es ebenso! Nimm es nicht böse, daß ich es sage. Da wuchs Eggert vor deinen Augen auf! Du kanntest doch Mutter! Du kanntest doch Mutters drei Brüder! Du hattest ihre Weise in deinem Leben erfahren! Du mußtest es erkennen, daß Eggert ganz und gar von ihrer Art war. Die Art war dir völlig fremd. Es war das Gegenteil von deiner Art. Aber hat sie nicht das Recht, zu existieren? Oder ist sie hoffnungslos? Ist Mutter nicht eine gute, treue Frau? Und sind ihre Brüder weniger brauchbar und angesehn als der Durchschnitt der Menschen hier? Also hättest du Eggerts Art nehmen müssen, wie sie war. Du hättest sagen müssen: Andre Seelen, andre Art, andrer Weg! Dasselbe hätte auch Eggert denken müssen, als er dich und deine Art richtete und verurteilte. Er hätte deine so andre Art versteh« müssen, anerkennen, leben lassen müssen! Genug ... wir Otten, wir waren jeder zu viel und zu sehr für uns selbst da, wir ließen uns jeder nur von seiner eignen Natur raten; wir hörten zu viel nur in uns selbst hinein! Das ist es, was zugründe liegt! Daher kam das Unglück, und daher wurde es so groß! Das ist mir gestern und erst recht heute nacht klar geworden! Nicht der Knecht hat die Schuld, sondern die Schuld liegt in uns selber. And wenn diese Pfeiferei und dieses Leid mit Emma und Eggert, und dieser schreckliche Krieg mit seiner großen Not ... Reimers Tod ... uns etwas einbringen soll: so muß es das sein, daß wir den Menschen zugetaner, demütiger, zutraulicher, gütiger werden. Was aber dich besonders angeht, Vater, ich bitte dich, laß von diesem verschlossenen, scheuen, stillen, hohen Wesen, soviel du kannst. Laß auch von dieser Verzweiflung! Ja, auch sie ist ein Stück Hochmut! Demütige dich ... vor dir selbst! Bedenke: du bist ein Mensch; du kannst irren. Sage zu dir: ›Eggert hat etwas Schuld; ich habe etwas Schuld, alle Menschen haben etwas Schuld. Was aber Eggert angeht, so will ich versuchen, auch ihn da hinunterzubringen, wo die Menschen hausen. Ich will sehn, daß ich auch dies störrische und bäumende Pferd wieder in unsern Stall zurückführe. And dann wollen wir die Türen von Saus und Stall und Herzen weiter aufmachen! Ja, das müssen wir! Wir müssen die Fenster nach der Welt weiter öffnen, und Wind und Sonne, und wohl gar den Sturm in unser Haus lassen. Ja, wir wollen von nun an hellere, freundlichere, vielleicht demütigere Menschen werden!«

Die Mutter hatte still zugehört, ihre Augen mit Angst und Spannung auf den Vater gerichtet. Der Vater hatte die Augen zur Erde. Als er nun schwieg, sagte er langsam und in Sinnen: »Ich danke dir, mein Sohn, daß du das alles gesagt hast. Es ist wohl wahr ... ich glaube ... es ist vieles wahr ... ja ... ja ... ich muß wohl mehr aus mir herauskommen!« Er wischte sich mit einer ungeschickten Bewegung den Schweiß weg, der in großen Tropfen auf der blassen Stirn stand, und sagte mit einem Gesicht, das die Augen seiner Frau mit Tränen füllte: »Ich muß wohl sehn, daß ich noch über einige Gräben hinwegkomme. Ja ... ja ... du hast es wohl recht gesagt, Harm!«

Als er das gesagt hatte, erschien die lange, ungeschickte Figur von Bruder Klaus und seiner Frau in der Tür. Er war in Feldgrau; die Halsbinde ragte weit aus dem Rockkragen und er hatte sich warm gelaufen. Sie wollten den Bruder Harm sehn und die große Begebenheit mit dem Knecht mit ihm besprechen. Aber zuerst erzählte er von der Kuh, die er gekauft, lobte die Kuh, und mehr noch seinen Handel, und erzählte, wen er unterwegs getroffen hätte. »Aber es ist mir in diesem Urlaub immer so, als wenn die Stimmen der Menschen, die mit mir sprechen, aus einer großen Entfernung kommen,« sagte er. »Überhaupt, als wenn alles, was ich hier sehe und was hier geschieht, nicht nahebei oder nicht wirklich ist!« Er war munter und guter Dinge. »Man wird hier nicht warm,« sagte er »die Zeit ist zu kurz, um wieder ordentlich in den ganzen Betrieb hineinzukommen; und so hat man denn kein rechtes Herz für die Sachen. Geht es dir auch so, Bruder Harm?«

»Mutter,« sagte die kleine Frau, »wie merkwürdig er ist, das kannst du dir nicht denken! Er sitzt jeden Abend, wenn die Kinder zu Bett sind, am Wall hinter der Scheune, bald oben darauf, bald unten mit dem Kopf drüber weg, raucht und kuckt ins Feld; und wenn man ihn ruft, sieht er einen ganz wunderlich an, so als wenn er sich einstweilen noch nicht besinnen kann, wo er eigentlich ist. Und er ist doch bei Frau und Kind! Es ist ein merkwürdiger Mensch, sage ich dir! Er sagt immer: er vergißt uns nicht; aber er vergißt uns doch! Glaubst du, daß er da draußen Heimweh nach uns hat? Keine Spur, sagt er!«

Harm sagte lächelnd: »Das Leben hier ist ihm eben ungewohnt, Marie! Bedenke doch, daß er nun schon anderthalb Jahr Tag und Nacht im Felde wohnt, wie ein Fuchs oder ein Hase! Von dieser Gewohnheit kann er eben nicht plötzlich lassen. Sei nur froh, daß du ihn nicht eines Abends, wenn du ihn suchst, mit einer alten Forke an der Backe auf dem Bauch rutschend mitten auf der Hofstelle findest!«

»Nein!« sagte die kleine Frau, und schüttelte erstaunt den Kopf. »Was seid ihr Männer doch für merkwürdige Menschen!«

»Ja!« sagte Klaus munter und stolz. »Das sind wir!«

Dann fingen sie von dem Knecht an. Sie hätten ihn gar nicht zu sehn bekommen, sagten sie. Emma wäre zu ihnen in die Stube gekommen und hätte ihnen die ganze Geschichte erzählt. Dann hätte sie ihm nach dem Hafen zu das Geleit gegeben.

Die kleine Frau sprach ihre Verwunderung über die Sache aus und meinte, nun würde es ja mit Eggert alles gut werden. Sie hatte weiter keinen Gedanken darüber.

Klaus fuhr sich mit dem roten Taschentuch über die kahle Stirn und sagte: »Natürlich wird alles gut,« und schielte nach dem Gesicht des Vaters und sah, daß der wieder einmal nicht »bis zu Ende sehn konnte«, wie die Mutter zu sagen pflegte. Sie hatten immer alle das stille, dumpfe Gefühl, daß der Vater am schwersten am Leben trug. Sie sagten es ihm aber nicht, und sprachen auch nicht einer mit dem andern darüber. Es blieb bei dem stillen und dumpfen Gefühl und Mitleiden.

Sie sprachen noch eine Weile von dieser Sache und kamen dann auf landwirtschaftliche Dinge. Vom Krieg vermieden sie zu reden. Dann ging der Vater hinaus, nach der Arbeit zu sehn, die Mutter hinter ihm her, um in seiner Nähe zu sein. Die kleine Frau hatte angefangen, an einem Strumpf zu stricken, den sie mitgebracht hatte, und verfiel nach ihrer Weise in ein dumpfes Sinnen.

Da winkte Klaus seinem Bruder mit den Augen und ging mit ihm hinaus. Auf der Diele sagte er: »Kannst du das aushalten, so immer in der Stube zu sitzen? Na ja, du als Seemann, du kommst ja aus den Kammern und Stuben. Ich kann das nicht ertragen.« Und er ging mit ihm durch den Garten bis an den Graben. Seitwärts vom Graben lag ein verlorenes, kleines Stück Sand und Unkraut, darin war eine Kuhle von Mannstiefe. Er setzte sich auf den Rand der Kuhle, rauchte heftig, sah mit langen Augen über das Feld hin und sagte: »Hier war unser liebster Spielplatz, als wir Kinder waren... und nun sitze ich hier wieder.«

Harm hörte nicht auf die Worte. Er war mit seinen Gedanken bei seiner Schwester und sagte: »Ich habe den Eltern noch nicht gesagt, daß Emma den Knecht liebt, und zwar über alles! Es ist sicher, daß sie ihn heiraten wird. Denk dir!«

Klaus legte sich lang hin, stützte den Arm bequem auf den Nand der Kuhle und sagte gemütlich: »Naturlich wird es so kommen! Und warum nicht? Laß sie doch! Er ist ja ein schmucker, kleiner Kerl. Und daß er kein Hiesiger ist, und katholisch, und hier Knecht war... weißt du, Harm... die Eltern und wir, als Brüder ... wir müssen uns eben bescheiden. Es ist so wie mit den Pferden bei der Artillerie! Zuerst, als der Krieg anfing, hatten sie das schönste Vordergeschirr. Du hättest es nur sehn sollen! Alles sein und hübsch! Aber nun ist alles dürftig, gestickt, und bei den meisten fehlt es ganz... ein bißchen von verbrauchter Trense, das ist alles! And so ist es überall. Es ist alles dürftig geworden. And am meisten an jungen Männern! Wenn sie den Knecht heiratet ... wenn sie ihn lieb hat ... gut!«

Harm biß sich auf die Lippen. Es war seinem Stolz sehr hart, und er schwieg lange. Aber dann überdachte er, was ihm der Bruder gesagt hatte, und es schien ihm, als wenn er recht hätte.

»Sieh«, sagte Klaus, und seine Stimme wankte, »wenn du da draußen bist, da an der Front... was ist dir das Wichtigste... was ist dir da alles? Daß du das bißchen Leben und das bißchen Ehre unter den Kameraden hast! Das ist alles! Alles andre ist Nebensache. Laß sie diesen Mann nehmen und Kinder hervorbringen! Wir brauchen Kinder. Sage auch nicht, daß sie zu gut für ihn ist! Weißt du ... sie ist etwas seltsam, das ist doch klar! Sie steht sozusagen etwas abseits in der Ecke der Menschheit. Er aber ist ihr Gegenstück. Er steht vielleicht ein wenig in der entgegengesetzten Ecke. Sieh, und das ist gut! So werden die Kinder, die von ihnen beiden entstehn, wieder mitten im Leben stehn! Willst du dich also grämen? Leben... Bruder! Das ist es! Das ist in dieser Zeit alles.«

Harm fiel der so ganz andre, schwere Ton auf, mit dem Bruder Klaus sprach, und sagte: »Es war wohl schwer ... diesen Winter, da in Galizien?«

Bruder Klaus atmete hoch auf und sagte bedrückt: »Es liegt ja wohl so in den Deutschen, daß wir mehr leisten wollen, als wir können. Wir waren alles ältere Leute und konnten nicht viel ... und so übemahmen wir uns immer. Wie schwer ist das Marschieren im polnischen Sand, Harm, mit der ganzen Bepackung! Ich sage dir, da siehst du in manches Gesicht voll Gram und Mühsal! Nachher, als es Winter wurde, schleppten wir uns mit den großen Baumstämmen und den Sandsäcken ab, vom Abend bis an den Morgen. Und dann kam der hohe Schnee und es wurde bitter kalt, und unsre Gräben waren trotz unsrer Arbeit schlecht. Es war schlimmer, Harm, als die Füchse und Wölfe es hatten, die in der Nacht vorüberstrichen. Aber wir alten Kerle bissen die Zähne zusammen; wir dachten: es geht fürs Vaterland, und wir müssen stehen und aushalten. Da brach mancher von uns zusammen ... und dann kamen die wilden Angriffe.« Er schüttelte den schon eisgrauen Kopf und sagte leise: »Wir konnten unsre Toten nicht begraben, Harm; wir hatten keine Zeit, und die Erde war steinig und gefroren ... Wir stapften über sie weg, und wenn uns die Knie nicht mehr trugen, legten wir uns neben sie. And ihre Artillerie schoß gut, Harm, und schoß den ganzen Tag, und wir saßen und standen da, und dachten: ›Trifft der nächste Schuß dich, oder wohin schlägt er? Geht es nach Gott, wann dann? Geht es nach dem Zufall, wann dann?‹ And dann, so in der Abenddämmerung, wenn wir todmüde waren von Arbeit, Wachen und Frieren, dann sprangen sie drüben aus ihren langen, langen Gräben ... so weit wir sehen konnten ... und liefen heran. Dann wurden wir lebendig. Wir sprangen auf und schrien. Es war da nur wenig hügelig. Wir konnten sie fast immer sehn und immer schießen; und sie warfen sich hin und lagen und schossen; und wir schrien und schossen gegen sie an. Und meistens kamen sie nicht bis an uns heran; sie gaben es auf; und krochen wieder zurück; unsre Geschosse, über uns weg, schlugen krachend in ihre liegenden und kriechenden Reihen. Zweimal aber kamen sie doch heran! Unsre Drahtverhaue, weißt du, waren zu dünn und zu schlecht und standen nicht ordentlich. Sie kamen heran, und kamen hindurch. Da sprangen wir aus den Gräben ... ich auch, Harm! Ich bin kein Held, weißt du ... ich habe nie an Krieg gedacht, ich habe nie ein Tier töten können ... aber ich sprang auch mit heraus. Wir schrien – wir sind da alle plattdeutsch, einige Hamburger darunter –: ›Haut Schiet vörn Kopp!‹ und dann auf sie. Es war ein grausiges Schreien. Ich vergesse nie sein Gesicht... ich meine den, der auf mich zurannte... er war schon atemlos und ganz von Sinnen; mein Nebenmann tat ihn ab ... mein Nebenmann ... So lagen wir da acht Wochen lang, und starrten über das weite, fremde Land, in dem Tod und Teufel hauste und alles Entsetzen, das du dir denken kannst. Weißt du noch ... als Kinder hatten wir solch Grausen ... unsagbar ... wenn wir dachten, in einer schlimmen Sturmnacht über das Moor zu müssen. Dies Grausen habe ich acht Wochen lang getragen. Und auch jetzt, wo wir in ruhigerer Stellung lagen, da bei Brest-Litowsk herum ... wenn nachts über die weite Ebene in der Ferne ... weithin ... der helle Feuerschein liegt, so ist uns allen, als wenn wir am Rand der Erde lägen und vor uns ist das Reich der Qual und aller schrecklichen und unmenschlichen Dinge. And so ist es ihnen da drüben – ich meine den Russen – wohl auch. Der Krieg, Harm, ist von Gott gemacht, daß die Menschen wieder das Fürchten lernen, daß sie wieder fühlen, was für ein Gemächte wir sind ... daß wir Erdwürmer sind, und unter Gottes schrecklichen Händen.«

Er fuhr sich mit dem großen roten Taschentuch über die kahle Stirn und das schon graue Saar, und starrte vor sich hin. »Da bei Skagerrak,« sagte er, »hattet ihr wohl auch einen schweren Tag! Und ihr habt es ja insofern schlimmer, als ihr nicht auf die Erde fallt, wenn ihr fallt; über euch und unter euch ist der Tod. Aber so schlimm wie wir habt ihr es doch nicht. Weil ihr euch nicht so nahe kommt, Harm! Das ist das Schlimme, Bruder, das Nahekommen, das ... Gesicht in Gesicht! Das geht über Menschengefühl. And wann soll das alles enden, Harm? Sie sind zu viele. Wenn wir tausend töten und lahm schießen, stehen da zweitausend Neue an ihrer Stelle. Wir aber, wir sind immer wieder dieselben, die voran müssen. Wenn wir einige Wochen lang geruht haben, müssen wir wieder nach vorn, und wenn wir einige Monate keine Verluste gehabt haben, dann werden wir auf die Bahn gesetzt und dann wissen wir schon, dann heißt es: wir sollen an die Stelle, wo die Flamme am höchsten schlägt.« Er atmete schwer: »Ja, so ist es! ... Noch sieben Tage, dann stehe ich wieder irgendwo ... irgendwo ... am Rande der Erde, und starre in das Reich der Qual! Natürlich ... ich weiß ja ... es muß ja sein! ... Selbstverständlich ... es muß sein so! Darüber sage ich nichts! Wir dürfen sie nicht über uns siegen lassen ... sie fräßen uns ja mit Haut und Haaren ... Aber schwer ist es, Bruder Harm.«

So redete Bruder Klaus. Sein Gesicht, von Sonnenbrand und schwerer Arbeit schon vor dem Krieg gefurcht und verwittert, war jetzt müde und verfallen, und seine Augen sahen aus tief zusammengezogenen Sohlen verzweifelt in die Ferne.

Sie schwiegen lange. Dann fragte ihn der Bruder: »Wie ist es ... hast du da ein paar Kameraden, die dir näher stehn?«

Bruder Klaus dachte nach; dann sagte er in derselben langsamen, lebensfremden Art: »Näher stehn? Wir stehn uns alle gleich nah, sozusagen Schulter an Schulter gepreßt ... Aber doch ... ja ... es gefiel mir einer, ein Kleiner, aus der Gegend von Rendsburg. Es war ein Lehrer, und ein kleiner, dürftiger Mensch. Aber er ist gefallen, damals, als wir aus den Gräben mußten. Er sagte zu mir: ›Weißt du, Ott,‹ sagte der kleine, stille Mensch, ›ich bin etwas kurzsichtig; ich kann nicht gut schießen, und fechten kann ich auch nicht. Aber, siehst du, ich bin Lehrer, und von einem Lehrer erwartet man, daß er ein gutes Beispiel gibt. And so habe ich mir gedacht: ich kann eins: ich kann als erster aus dem Graben springen und voranlaufen; ja, das kann ich, und das will ich denn auch tun. And wenn ich dann falle, so habe ich doch auch was für mein Vaterland getan, so klein und dürftig ich bin.‹ So sagte er. Und so machte er es denn auch, der kleine Kerl... Er lief voran. And da bekam er die Kugel ... Er hatte Frau und Kind.«

Harm wußte kein Wort zu sagen. Der Jammer des ganzen Krieges hatte ihn wieder völlig in den Händen. Er stand auf und sagte: »Komm, laß uns wieder zu den Frauen gehn.«

Nach einer kurzen Unterhaltung bei Tisch gingen Klaus und seine Frau wieder nach ihrem Hof zurück.

Am Nachmittag war das schöne Wetter wieder dahin; es regnete wieder; und Harm Ott wußte nicht recht, was er mit dem Tag anfangen sollte. Es war ihm, als wenn er nun alles besehn und besorgt hätte, was er hier zu tun hatte, und daß es das beste wäre, ja, das einzig Richtige, er ginge wieder dahin, wohin er gehörte, auf das große Schiff und zu seinem Posten und zu Bruder Eggert. Er stand eine Weile bei dem Vater, der an einem doppelscharigen Pflug hantierte, und danach eine Zeit lang bei der Mutter, die im rieselnden Regen, einen alten Sack über die Schultern, Kartoffeln für den andern Mittag ausnahm. Dann stand er noch eine Zeitlang in der Kammer, wo die Kinder dabei waren, dem Russen, der sich einen eben verletzten Finger kühlte, mit Hilfe der Fibel den ersten Unterricht in der deutschen Sprache zu geben. Die Unterhaltung mit ihm ging schon ganz gut. Er stand, und sah ihnen zu, und tat auch einige Fragen an den Gefangenen; und es ging eine Weile: Kamerad hin und Kamerad her. Der Russe war froh, daß er gefangen war, daß er den Krieg hinter sich hatte. Er hatte den Arm um die Kleinste gelegt, die kleine rothaarige Wiebke, die zutraulich neben ihm saß.

Dann ging er vor die Tür und stand da lange, während der Regen hinunterrieselte. Er sah nach den Höfen in der Ferne und die ganze Breite des Dorfes entlang und in der Ferne nach der kleinen Stadt. Er wußte nun, wer im Feld, wer verwundet, wer gefallen war, und empfand, welche heiße Not, herzzerreißende Qual, banges Hoffen, qualvolles Sehnen unter all diesen Dächern hauste. Die ganze Heimat war öde: die Männer im Feld; die in der Heimat geblieben, bedrückt und unruhig; die Frauen in Mühe und Qual; die Kinder verwirrt und verstört, so als stäken die Erwachsenen, die diesen Krieg betrieben, tief in Sünden! Und er dachte wieder: ›Krieg! ... Krieg! ... Sei nicht froh! Lach' nicht! Mach keine Pläne! Siehe, es hat keinen Sinn! Es ist ja kein Menschenleben! Die Kugeln fliegen!‹

Er verlebte noch sieben Tage so, ein ruhiger, teilnehmender, freundlicher Gast. Aber seine Seele und sein Sinnen waren im Krieg bei den kämpfenden Brüdern. Am zehnten Tag verließ er wieder die Heimat, gefaßten Mutes, an seinem Teil seinem Volk zum Frieden zu verhelfen. Bruder Klaus war schon einige Tage vorher abgefahren.


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