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28. Kapitel

Emma

Am andern Vormittag – es war dasselbe neblige, fast dunkle Wetter – trieb er sich wieder im Hause umher, stand hier und da herum und sah übers Feld oder ließ sich dies und das erzählen, und war nirgends bei der Sache. Am Nachmittag wollte er nun den Besuch bei seinem Bruder machen. Da kam auf seinem Rad der Ältere der beiden Ludwigs, der Fischer, die Eggerts Freunde gewesen waren, des Wegs und sagte: »Hast du Langeweile? Magst du ein bißchen schippern? Dann komm mit nach dem Hafen und sieh dir mal an, wie auch ich mit samt meinem alten Kahn fürs Vaterland tätig bin.«

Er hatte große Lust: »Ich möchte wohl,« sagte er, »aber ich muß notwendig zu meinem Bruder Klaus.«

Der Fischer sagte in seiner lebhaften, zufahrenden Art: »Ich fahre mit der Schute nach ... Von da nach Dingerdonn sind es keine zehn Minuten und von da zu Klaus keine zwanzig.«

Er sprang ins Haus, holte den alten Regenmantel, der da für jedermanns Gebrauch am Ständer neben der Tür hing, sagte seiner Mutter Bescheid und war sofort auf dem Rad neben dem Ludwig. Es war ihm wie eine Erlösung vom Nichtstun und Nichtsmögen. Er war plötzlich wieder froh, da er nun nach dem Hafen sollte. Vielleicht würde er gar Kameraden sehn und ein gemütliches Wort reden und fragen können.

Unterwegs auf der geraden Straße erzählte der Fischer, daß sein Boot da drüben ... er deutete mit der Sand nach Süden ... an ganz einsamer Stelle läge, und daß er heute nachmittag wieder eine Ladung übernehmen wolle. Sie würden ihre Räder auf die Schute legen und von Bord aus wieder heimkehren, wann es ihnen paßte.

Sie erreichten in einer halben Stunde den Hafen, fuhren auf den Kai und fanden den kleinen Schlepper schon liegen und die schwer beladene Schute schon angetaut hinter ihm. Die drei Männer des Schleppers begrüßten den Fischer als einen alten Bekannten; die zwei Mann, die, bis über die Ohren in Ölröcken, am Heck der Schute neben dem Steuer standen und noch dies und das wegstauten, schienen ihm fremd zu sein. Als Harm Ott fragte, was das für Leute wären, sagte er: »Es sind Arbeiter hier vom Marine-Depot, sie laden ein und aus; diese kenne ich nicht; es sind nicht immer dieselben. – Hallo,« rief er zu den beiden hinunter, »nehmt uns bitte die Räder ab.« Der eine der beiden Männer erhob sich von seiner Arbeit – es war ein älterer Mann mit einem ruhigen, verschlafenen Gesicht – nahm die Räder in Empfang und legte sie auf die Ladung vor sich; der andere, kleiner und jünger, und, wie es schien, etwas Hinker, blieb bei seinem Verstauen und Packen. Als die Räder hinabgereicht waren, sprangen sie beide nach. Der Fischer stellte sich an das lange Ruder, Harm Ott neben ihn. Der Schlepper machte sich los und kam vom Kai ab, und sie kamen in die Mitte des Stroms.

Es war gleich eine stille, abgeschlossene Welt. Mitten auf dem Strom ein kleineres, altes Kriegsschiff, einige Schuten breit und leer am Ufer ... ein Schleppzug ... zu beiden Seiten Ackerfelder und Viehweiden, und näher oder ferner in ihren Bäumen stille Höfe, kleine Katen ... rechts vor ihnen im grauen Dunst, kaum zu sehn, die lange, ruhig bewegte Linie der Geest. Harm Ott und der Fischer unterhielten sich gemütlich über dies und das, was sie sahen: ein Boot, ein Erntefeld, einen Hof. Dazwischen fragte der Fischer nach dem Tag vom Skagerrak und dem Leben an Bord; von Eggert sprachen sie nicht. Der Fischer wollte nicht davon anfangen, weil er nicht recht wußte, wie Harm zu seiner Familie stand, die doch bei Eggerts Flucht eine Rolle gespielt hatte; Harm Ott seinerseits sagte sich, daß der Fischer wußte, daß Eggert an Bord der ›Below‹ gewesen; und hatte keine Ursache, ihm Weiteres zu erzählen.

In ihrem Rücken erzählte der ältere der beiden Fremden seinem Genossen, indem er von dem ausging, was sie rund um sich sahen, von andern Gegenden in Deutschland, und von der Schweiz und Holland, wo und wie dieses und jenes da anders wäre. Er erzählte in jener redseligen, etwas aufdringlichen Art, die diejenigen an sich haben, die niemals Männer werden, die immer Knaben bleiben, und werden sie achtzig Jahre alt, und heimatlos und ruhelos durch das Land und durch das Leben wandern, ohne Zweck und Ziel. Sein Genosse, der jüngere und kleinere, antwortete nur mit einem Ja oder Nein. Das Wetter wurde trüber und regnerischer. Harm Ott zog den Regenmantel fest um sich und drückte die Mütze tief ins Gesicht. Es kam auch Wind auf.

Als sie so eine Weile gefahren waren, ging der Strom eine Strecke weit durch einen schilfigen See; und der Schiffer, der bis dahin scharf auf sein Steuer geachtet hatte, sah sich um, und bat den Alten hinter sich, ihm seinen Südwester zu reichen, der unter dem Heck lag. Der Alte hörte auf mit seinem Gerede und reichte das Verlangte. Als der Fischer sich wieder umdrehte und wie vorhin wieder stand, die Hand am Steuer, sagte er leise und zweifelnd: »Du ... ich weiß nicht ... hast du ihn nicht erkannt? ... Der Kleine hinter uns ... ist das nicht euer früherer Knecht ... wie hieß er doch ... weißt du ... der Hinker, der Mathias Amborn?«

Harm Ott fuhr herum, als wenn ihn einer gestochen hätte, starrte den Fremden an, und erkannte ihn und fuhr mit wilden Worten über ihn her: »Ah, da bist Du! ... Du! ... Du! ... Pfeifer du! ... Warum bist du gerade hierhergekommen? ... Willst du noch mehr Unheil anrichten? Doch nicht bei uns? Uns hast du unglücklich genug gemacht! Meine Schwester ist schwer krank geworden durch dich, und hat noch jetzt keine Freude am Leben und wird sie wohl zeitlebens nicht wieder haben; das Leben meiner Schwester hast Du auf dem Gewissen, du Hund! Und mein Bruder ist deinetwegen schrecklich beschuldigt worden von seinem eigenen Vater und hat in Haß und Not sein Elternhaus verlassen! Und wir alle, Vater, Mutter und Geschwister und die ganze Familie, sind seitdem unglückliche, zerrissene

Leute! Das alles hast du verschuldet! Und hast es getan aus Lust am Kummer! Aus Freude an Zerstörung! Oder was für ein Teufel dich getrieben hat!«

Der Knecht saß mit entsetzten, bleichen Lippen, die Augen niedergeschlagen; aus seinem Munde kam ein langsames Stöhnen, wie Wimmern. Der Alte saß mit offenem Mund neben seinem jungen Genossen und starrte ihn an, und sagte dann leise, mit völlig veränderter Stimme: »O, Kamerad ... Kamerad! Was ist das für eine böse Rede! Was hast du für schwere Dinge auf deinem Gewissen!«

»Gesteh!« schrie Harm Ott, an allen Gliedern bebend, »gesteh, daß du es gewesen bist, du und kein andrer!«

Der Knecht erwiderte mit mühsamer Stimme, Angstschweiß auf dem blassen, hübschen Gesicht, mehr tot als lebendig: »Ich bin erst gestern von Köln hierhergekommen; ich wußte nicht, was ich angerichtet hatte. Ja ... ich habe es getan ... aber das ... das ... habe ich nicht gewollt!«

»Du hast es gehört!« schrie Harm Ott dem Fischer zu. »Du hast es gehört!«

»Ich habe es gehört,« sagte Ludwig ernst, »ich bin Zeuge; und ich freue mich wegen Eggert.«

»Dann bin ich fertig mit dir,« rief Harm Ott, sah ihn noch einmal wütend und verächtlich an, und wandte sich wieder um, und sah Ludwig neben sich mit funkelnden, erregten Augen an, und wollte noch etwas sagen.

Aber in demselben Augenblick hörten sie die beiden Männer hinter sich aufspringen. Der Fischer und er warfen sich herum, in dem unwillkürlichen Glauben, daß sie von hinten überfallen würden; in demselben Augenblick aber warfen sich der Arbeiter und der Fischer über den Knecht, der schon halbwegs über Bord war, hielten ihn an Jacke und Armen, und zogen den sich rasend Wehrenden wieder an Deck.

»Donnerwetter!« sagte der Fischer, »das ging prompt,« und keuchend und finster meinte er: »Weißt du, Harm Ott ... du und deine Leute, ihr seid ein bißchen zu scharf gegen andre. Deine Eltern mochten auch uns nie leiden, weil wir andre Leute sind als sie. Daß du diesen hier nicht magst, das ist ja in Ordnung. Aber daß du ihn so herunterreißt, daß er meint, er muß aus dem Leben springen, das scheint mir doch nicht richtig. Der hier ist kein schlechter Mensch, das siehst du deutlich; denn sonst nähme er sich das nicht so zu Herzen, was er angerichtet hat. Sag' ihm ein gutes Wort! Sag' ihm irgend etwas!«

»Ich kann nicht!« sagte Harm Ott steif.

»Gut, dann kann ich es,« sagte der Fischer. »Du bist jetzt ruhig« rief er, und richtete ihn auf, »und stehst hier neben mir, hier! So! Und nun werde mal vernünftig und erzähl' mal: was hast du damals gemacht?«

Der Knecht vermochte kein Wort hervorzubringen; er versuchte es; aber seine Stimme versagte ihm. Endlich verstanden sie, daß er sagte, er bäte um eins: wenn es möglich wäre, möchte er mit Emma reden.

»Selbstverständlich ist das möglich,« rief Ludwig. »Selbstverständlich! Wo ist Emma, Harm? Ist sie noch bei Klaus?«

Harm Ott biß sich auf die Lippen und sagte bitter: »Wenn er will, kann er ja hingehn und mit ihr reden; aber nicht länger als zehn Minuten, dann ist es aus!«

Der Fischer zuckte die Schultern und sagte: »Ach, warum nicht länger?« und sagte in seiner frischen, lebendigen Weise: »Sei nicht so hart, Harm Ott! Daß du dich nicht versiehst, wie dein Vater sich an Eggert versah! Man kann nie wissen, was einer Sache zugrunde liegt, weißt du, ganz tief zugrunde. Hör', das Beste ist, ihr steigt hier aus! Ihr habt hier keine zwanzig Minuten zu Klaus' Hof. Laß ihn mit dir gehn, und laß ihn da mit Emma reden! Ich bin zehn Jahre älter als du; ich rate dir gut.«

Er pfiff nach dem Schlepper hinüber, ließ halten, zog das Beiboot heran und ließ die beiden einsteigen, stieg selbst nach und ruderte sie an Land. An einer Tränke legten sie an und stiegen aus; der Fischer fuhr wieder an Bord.

Die beiden andern machten sich auf den Weg. Harm Ott groß und schlank mit seiner stolzen, herrischen Haltung; der Knecht etwas unter Mittelmaß, etwas hinkend, aber sonst eine geschmeidige Gestalt mit raschen, lebensvollen Zügen im hübschen, hier im Norden etwas fremdartigen, bräunlichen Gesicht.

Als sie eine Strecke gegangen waren, wurde der Knecht ein wenig ruhiger. Er holte einige Male schwer Atem und sah zu seinem Begleiter auf, und sah ja wohl durch allen Zorn und Hochmut einen Schein von Besinnlichkeit in seinem stolzen, herrischen Gesicht; er atmete noch einmal schwer auf und fragte dann mit leiser, schwankender Stimme nach dem Vater, nach der Mutter und nach den Kleinen. Harm Ott antwortete mit einem kurzen, mürrischen Wort. Da schwieg er wieder. Nach einer Weile wagte er wieder anzufangen und bat mit großer Herzlichkeit, ihm zu sagen, welche Krankheit es denn bei Emma wäre, und dann, wo Eggert denn wäre. Aber Harm Ott fuhr auf: »Schweig,« sagte er, »sonst schlag' ich dich nieder!«

Der Knecht biß sich auf die Lippen und sagte: »Wenn ich es dir alles erzähle, der Reihe nach, wie es gekommen ist, so wirst du nicht so hart von mir denken. Sicher nicht!«

Aber Harm Ott antwortete nicht mehr.

So gingen sie schweigend ihren Weg. Harm Ott froh, daß er den Ursprung alles Unheils wie an einem Strick neben sich führte, mit seinen Gedanken bei Eggert, bei seiner Mutter, bei seinem Vater; der Knecht ein wenig hinkend, mit langen Schritten, um mitzukommen, nun schweigsam, das Gesicht versonnen in tiefen, schweren Gedanken, die ihm Mühe machten.

So kamen sie an die Geest heran und auf den Sandweg, der unter dem Abhang entlang führt, und erreichten den Hof.

Die kleine, kümmerliche Frau hatte sie kommen sehn und kam ihnen aus der Tür entgegen, ihr jüngstes, vor acht Wochen geborenes Kind auf dem Arm, die andern an ihrer Schürze. »O,« sagte sie, »da bist du, Harm! Ach Gott ... und Reimer kommt nicht mit dir! Und Eggert wohl auch nicht! Klaus ist nicht zu Hause, Harm; er ist nach St. Margarethen und will sehn, ob er uns eine Kuh kaufen kann. Er hätte eigentlich schon wieder hier sein können; ich werde ihm sagen, daß er uns immer vergißt. Er hat es so an sich, Harm, wenn er seine Augen von uns abwendet, hat er uns vergessen. Sieh ... und da ist euer früherer Knecht! Heißt er nicht Mattias? Guten Tag, Mattias!«

Als sie so weit war, sah sie die Verstörung in den Gesichtern der Beiden und dachte nun endlich an die Pfeiferei, stutzte und sagte bedrückt: »Kommt herein und trinkt eine Tasse Kaffee.«

Harm Ott wollte den Knecht nicht ins Haus lassen und ging am Haus entlang und sagte: »Ich wollte Emma sprechen. Wie geht es ihr?«

»O,« sagte die Frau, »Emma geht es besser. Ich glaube, die Sorge um mich oder die Liebe zu mir hat sie wieder gesund gemacht. Was hat sie mir geholfen. Harm! Ich selbst konnte ja nicht viel tun, weil ich das Kind erwartete; dazu hatten alle Kinder der Reihe nach den Keuchhusten. Nein, wie habe ich hier zugesessen! Nein, hätte ich in diesem Sommer Emma nicht gehabt, wo wäre ich da geblieben?! Denke dir, sie hat mit unserm netten, fleißigen Franzosen die ganze Frühjahrsbestellung beschafft, dann die ganze Ernte; und nun hat sie die sechs Hektar am Heidstieg gepflügt. Sie muß um diese Zeit nach Hause kommen. Sie sagte heute Mittag, so um Feierabend wäre sie fertig.«

Als sie um die Ecke des Hauses kamen, und die weitläufige Hofstelle vor sich hatten, mit ihren Auffahrten, Schuppen und Wagenschauern, hörten sie von der Zufahrt her, die durch Bäume verdeckt war, das Klirren von Geschirr.

»Da kommt sie schon,« sagte die Frau, »dann sag' ihr man guten Tag. Ich will unterdes rasch hineingehn und ein wenig Abendbrot machen.« Und ging zurück; ihre Kinder um sie.

In dem Augenblick kamen die Pferde aus dem Baumgang heraus, hinter ihnen der Gefangene mit seinen breiten, roten Streifen an der Hose. Darauf das zweite Gespann mit dem Pflug auf der Schleife, und hinter ihm Emma in grauem, ziemlich kurzem Feldkleid, über und über mit Staub bedeckt, mit nackten Füßen, Peitsche und Eßgeschirr in der einen, die Leine in der andern Hand. So ging sie, die Augen gesenkt, ganz in Gedanken, hinter ihren Pferden her, den beiden Wartenden entgegen. Sie war nun ein richtiges niedersächsisches Bauernkind, ziemlich groß, stark von Schultern und Hüften, nur das Gesicht war ausgezeichnet durch seine edle Länge und Biegung, durch die es etwas Altes, Edles und Großartiges bekam, so als wenn sie wohl ein heimlich Kind von einem uralten, vornehmen Geschlecht wäre. Und das war sie ja auch; denn ihre Vorfahren waren immer freie Bauem gewesen, von uralter Zeit her. Ihr Bruder sah das nicht. Brüder sehn Schwestern nicht scharf an, und noch weniger gerecht. Er sah nur, daß sie über ihre Jahre ernst war.

Als sie einige zwanzig Schritt heran war – sie waren allein auf der Hofstelle – schrie der Knecht leise auf. Da sah sie auf, und sah ihn und den Bruder.

In dem Augenblick lag der Knecht schon zu ihren Füßen: »Liebe ... liebe« ... sagte er, und konnte nicht mehr sagen.

Sie beugte sich über ihn und wollte ihm etwas sagen.

»Laß meine Schwester in Ruh!« schrie Harm. ... »Nun hör' an, Emma! ... Es ist so, wie ich dir damals sagte ... er ist der Pfeifer! Er hat es selbst gesagt. Nun will er um Gnade betteln und sich einschmeicheln.«

»Du bist der Pfeifer!?« sagte Emma Ott leise, mit jäher Blässe und offnem Mund ... »Warum hast du das getan?«

»Weil er ein Schurke ist!« sagte Harm Ott.

Aber sie hörte nicht darauf. Sie hob den Knienden auf und wandte ihr Gesicht zu ihrem Bruder und sagte: »Er soll es uns erzählen.« Sie faßte ihn an der Hand: »Komm, du sollst es uns erzählen.«

Sie rief dem Gefangenen zu: »Pierre, nimm meine Pferde!« gab ihm die Pferde und ging nach dem offenen Wagenschuppen, setzte sich auf die Wagendeichsel und sagte: »Erzähl' uns, wie es gewesen ist.«

Da erzählte der Knecht, zuerst mit bebender, stockender Stimme, dann allmählich ruhiger. Er sprach nur zu Emma. Es war, als wenn er den andern Zuhörer gänzlich vergessen hätte.

»Ich will es dir sagen, Emma, wie es alles gewesen und gekommen ist ... Ich bin im südlichen Baden, dicht an der Schweizer Grenze geboren. Mein Vater war da Lehrer in einem ziemlich großen Dorf. Er war ein rechtlicher und angesehner Mann; aber er starb schon, als ich eben seine Schule verlassen und auf das Seminar gehn sollte; meine Mutter war schon früher gestorben. Da ich nun elternlos war, kam ich nach dem Willen meines Vaters zu einem Onkel, der in Köln seinen Wohnsitz hatte, und nach seinen Briefen, die er an die Eltern schrieb, dort in guten, ruhigen Verhältnissen lebte. Er war auch in der Tat der ehrenwerte Mann, den mein Vater im Sinn hatte; aber sein Leben war, was er dem Vetter immer verschwiegen hatte, sehr unruhig und sehr sonderbar. Er war nämlich Besitzer einer Jahrmarktsbude, einer sogenannten Wunderbude, und zog damit durch Westfalen, und später am liebsten durch Hannover und Schleswig-Holstein. Ich war noch ein halbes Kind und voll von Leben und Wundern; und da gefiel mir dies Dasein, zumal mein Onkel ein freundlicher Mensch war und an die Wunder seiner Bude sozusagen selbst glaubte. Denn er war ein Mensch, der immer voll Freude, Schelmerei und Staunen war; und was mich anging, so hatte ich, gleich ihm und dem ganzen Geschlecht meiner Mutter, die alle Spieler und Geiger gewesen waren, die Neigung, es gern zu erleben und zu besehn, wenn die Menschen geneckt wurden und sich freuten und lachten. So lernte ich denn mit Vergnügen manches Schelmenstück und was darauf hinauslief, und besonders lernte ich, allerlei Künste mit meiner Stimme zu machen. So zog ich denn mit ihm und seiner Frau, die mir beide wie Eltern waren, von Ort zu Ort; bis mein Onkel in einer kleinen Stadt in Hannover, wo wir am folgenden Tag auf einem Jahrmarkt unsre Künste zeigen wollten, heftig erkrankte. Er starb am folgenden Abend, während durch die Wände des Zeltes von allen Seiten die Musik und das Lärmen der Menge und die Schritte der Vorübergehenden und das Geschrei der Ausrufer kam. Meine Tante fand diesen Tod des Onkels natürlich: er starb, wie er gelebt hatte. Mich aber hatte dies Sterben still und nachdenklich gemacht, und ich änderte in dieser Nacht, da ich an seinem schmalen Lager saß, das auf der Bühne aufgeschlagen war, meinen Sinn. Nicht daß es mich anwiderte und gegen meine Natur gewesen wäre, was ich bisher getrieben hatte; aber ich hatte plötzlich das deutlich« Gefühl: ›Genug nun hiervon! Genug! Nun muß ein andres Leben kommen! Du bist doch auch deiner Eltern Kind, die im stillen Dorf saßen und glücklich waren!‹ Und ich erinnerte mich meines stillen, vornehmen Elternhauses und des Dorfes mit seiner edlen Ruhe, und mancher schöner Bilder und Erlebnisse aus meinen Kindertagen; und ich hatte plötzlich eine heftige Sehnsucht, dies ganze unruhige Wandern und dies laute Treiben aufzugeben. Es war mir wie einem Kinde, das allein aus dem Dorfe hinausging und sich weiter und weiter wagte; plötzlich aber erscheint ihm die Gegend fremd; es bekommt Angst, und eilt und rennt wieder dem allbekannten Dorfe zu. Es war auch grade die Zelt für mich, da man anfängt, ernst und besinnlich zu werden; ich war achtzehn. Ich sagte also meiner Tante meinen Entschluß, verkaufte in ihrem Auftrag, was wir besaßen, führte sie nach Köln zu ihrer Familie, und wollte mich davonmachen. Da starb auch sie; und ich begrub sie. Sie hinterließ mir, was sie mit ihrem Mann zusammen erworben hatte; es war nicht viel. Ich tat es aber auf die Sparkasse dort, und habe es seitdem jährlich vermehrt.

»Als ich nun so ganz allein in der Welt war und tun konnte, was ich wollte – meine übrigen Verwandten waren mir über meinem Wanderleben unbekannt geblieben – beschloß ich, an die Nordsee zu gehn; denn von allen Landschaften, die ich gesehn hatte, hatte mir die weite, große Landschaft dieser Gegend am besten gefallen; es hat ja ein jeder Mensch in jeder Sache seine besondere Liebe und Neigung. Ich hatte den heimlichen Plan, ich wollte mich hier in dieser Gegend einmal niederlassen; ob als Landmann oder wie sonst, wußte ich noch nicht. Ich war aber darum nicht in Sorge, denn ich war wach und mochte arbeiten, und verstand das Sparen; es sollte mir schon irgendwie gelingen.

»So machte ich mich denn auf und kam an die Nordsee und sah mir die ganze Küste an, Landschaft und Menschen, diente erst in einem Baugeschäft in einer kleinen Stadt, und verdingte mich dann hier und da als Knecht, denn ich merkte, daß ich am meisten Neigung und Freude hatte, ein Landmann zu sein. So kam ich denn auch zu euch.

»Ich wandte mich am liebsten an Höfe, auf denen viele Kinder waren; denn ich hatte Kinder sehr gern. Ich konnte stundenlang mit ihnen spielen, und die Kinder liebten mich auch. Ich zeigte ihnen allerlei Kunststücke, die ich in meinem Jahrmarktsleben gelernt hatte, und machte allerlei Schelmereien vor ihnen. Ich hütete mich aber, jene andern Künste zu zeigen, durch die ich berühmt gewesen war, vor allem die Begabung, meine Stimme zu verändern. Nur zweimal ließ ich mich dazu verleiten. Einmal – ich habe es dir erzählt oder angedeutet – da hatte ich mich zu einem alten einsamen Bauernpaar vermietet, das, als ich mich ihm verdang, die ganze Schar der Kinder ihrer Tochter bei sich hatte. Es waren lauter muntre Kinder, und ich dachte, ich würde da gute Tage haben. Aber am andern Tag schon jagte der Bauer Mutter und Kinder ohne Grund aus dem Hause und zeigte sich auch in allem andern so geizig und schäbig, daß ich in einem regnerischen Winter schlimme Tage hatte; ich weiß nicht, was mich mehr kränkte, der Geiz meiner Brotgeber oder ihre Kinderlosigkeit. Genug, es überkam mich, sie zu verwirren, indem ich die beiden alten Kühe, die sie im Stall hatten, sich miteinander unterhalten ließ. Ich habe es dir erzählt.

»Zwei Jahre später kam ich zu euch. Ich hatte gedacht, daß ich es bei euch besonders gut haben würde. Die Kinder gefielen mir ...« er schwieg einen Augenblick ... Dann aber nahm er seinen Mut zusammen, hob den Kopf und sagte: »Ich will es alles sagen, wie es ist, und es ist ja auch keine Schande ... Ich sah dich, Emma; und von da an war ich so glücklich, wie ich nie für mich möglich gehalten hatte. Jeder Mensch hat sein besondres und fast immer merkwürdiges Schicksal. Ich hatte so viele Mädchen gesehn, von Münster hinauf bis Dänemark, und es hatte keine mir von Herzen gefallen, obwohl ich in allem wie andre junge Männer bin. Da sah ich dich, und sah, daß du in deinem Gesicht und deiner Figur und in deinem ganzen Wesen einem Bilde ähnlich warst, das in unsrer Dorfkirche auf dem Altar stand. Es war die heilige Anna, die sich zu ihrem Kind Maria hinabbeugt, um ihm ein Stück Brot zu geben. Dieses Bild hatte ich als Kind, als ich mit meinem Vater täglich zur Messe ging, über die Maßen lieb gewonnen. Meine Mutter war gestorben und ich wurde von einer Nachbarin nicht aufs beste betreut. Aber es muß noch etwas Geheimes dazu gekommen sein, eine heimliche Hinneigung und Liebe zu diesem Bild mit seinem ernsten, edlen Gesicht und seiner Haltung über dem Kind. Als ich nach dem Tode des Vaters das Dorf verlassen mußte, habe ich die letzte Stunde auf den Knien vor dem Bilde gelegen. Genug: als ich dich auf eurem Hof zum erstenmal sah, war ich außer mir vor Freude. Du warst das Ebenbild jener Heiligen! Ich war selig, wenn ich dich sah; und ich weiß nicht... sieh, man hat es ja zuweilen, daß auf einem Hof ein Knecht dreißig oder vierzig Jahre lang haust und sein ganzes Leben lang bleibt – ich denke mir, oft, weil er ein heimlicher und scheuer, vielleicht gar unbewußter Liebhaber der Frau ist – so wäre vielleicht ich immer auf eurem Hof geblieben, und wäre so alt und grau geworden, selig in deiner Nähe zu sein. Aber da kam es anders! Ich kann nicht ganz genau sagen, ob da noch andre Ursachen waren, daß ich es tat – eine schlechte war sicher nicht darunter –; aber zwei kann ich nennen. Es war da eins auf eurem Hof, was mir gar nicht gefiel. Das war, daß ihr so für euch lebtet, so in der Familie, so ohne Umgang mit andern Menschen, und so fremd und wortkarg wart, wenn ihr andre Menschen saht. Ihr wart euch immer selbst genug, und ich merkte wohl, daß dies Benehmen nicht allein Scheuheit, sondern auch eine Art Hochmut war. Ihr wart doch eigentlich alle überzeugt, daß die Otts die vomehmsten Menschen wären, und weder Rat noch Hilfe noch Umgang nötig hätten. Ich aber, der ich aus einem freundlichen, lebhaften Volksstamm bin und in dem Leben und Helfen der Jahrmarktsleute meine Kindheit zugebracht hatte, meinte, daß es gut für euch wäre, für jeden einzelnen, wenn er mitteilsamer, zutraulicher, gesellschaftlicher und, wie ich auch meinte, demütiger würde. And wie ich das empfand, kam mir der Gedanke, daß es euch allen, euren ganzen Leuten, gut tun würde, wenn ihr mal aufgerüttelt würdet und aus eurer Einsamkeit und eurem Selbststolz ein wenig herausgeworfen würdet. And ich dachte besonders, daß es auch dir gut wäre; denn du warst ein kleines einsames, selbstgenügsames Ding, und wußtest es nicht. Aber zweitens war es das: meine ganze Wonne und Lust war, mein Sinnen bei Tag und bei Nacht, wie ich es wohl erreichen könnte, daß ich dir näher käme, daß du mich wie einen Bruder liebtest. Welch eine Wonne, wenn ich es erreichen könnte, wenn ich dir sagen dürfte, daß du das Ebenbild jener Heiligen wärst und daß ich dich also schon von meiner Kindheit an in meinem Herzen getragen, und daß du lieb und gut zu mir fremden Menschen wärst! Dazu aber war nötig, daß ich dir mein ganzes Leben erzählte. Das aber wurde mir bitter schwer! Denn ich fühlte ja deutlich, wie himmelweit Deine und Deiner Familie Welt und Weltansicht von meinem früheren Leben und Treiben entfernt war. Einmal versuchte ich es, dich sachte darauf hinzuführen und vorzubereiten. Ich erzählte dir die Schelmerei mit den beiden Kühen; aber ich wagte dann nicht, es weiter zu führen. Und da kam ich auf den Gedanken, etwas Ähnliches hier im Hause selbst aufzustellen. Ich dachte, ich wollte dann, wenn alle verwirrt und geneckt wären, dir sagen, wie ich es angestellt hätte, und wollte so zugleich mit dir ein kleines, wie ich dachte, harmloses Geheimnis haben, wie auch auf diesem Wege leichter über die Brücke kommen, darüber ich dich und die Deinen in mein vergangenes Leben einführen könnte. Da aber kam es so ganz anders, so schrecklich. Ich wußte nicht recht, was ein kranker und zarter Mensch wäre. Außer dem Bruch meines Beines, da ich als Knabe von der hohen Kirchhofsmauer gefallen war, war ich nie krank gewesen, hatte auch mit kranken Menschen keinen Umgang gehabt. Ich war entsetzt, verzweifelt, als ich dich erkrankt durch meine Schuld sah. Ich habe entsetzliche Tage verlebt; vom Morgen bis zum Abend habe ich mich angeklagt. Die Kammer an dem Pferdestall hat langes, bittres Weinen gehört durch die langen Winternächte. Ich gab alle meine Hoffnung auf; ich meinte auch, daß ich nicht wert wäre, länger in deiner Nähe zu sein, nachdem ich durch deine Erkrankung dich und die Deinen so unglücklich gemacht hatte; und ich wollte dich nie wiedersehn. Und so, da ich nicht helfen konnte und nicht heilen, was ich angerichtet hatte, ging ich davon. Ich ging gleich nach Süddeutschland zurück und erfuhr nicht, daß du ernstlich und dauernd krank geworden warst, und daß das Unheil, das ich angerichtet hatte, noch viel, viel weiter gefressen hatte, daß der Vater Eggert irrtümlich beschuldigt und aus dem Haus gejagt hatte. Ich wußte das alles nicht. Ich kannte Euren schweren Sinn noch nicht völlig! Ich lebte drei Jahre in Not und Heimweh dahin, und hatte keine Freude am Leben. Immer dachte ich an dich zurück. Zuletzt konnte ich es nicht mehr ertragen; ich mußte dich wiedersehn, wie du geworden warst, ob du wohl groß geworden wärst und erwachsen. Denn sieh, ich muß ja jetzt alles sagen, und ich bitte dich um alle Heiligen, erschrick nicht davor: ich war inzwischen ein Mann geworden, und bedachte, daß du nun erwachsen und ein Weib wärst, und ich wußte nun, daß ich dich noch anders lieb hatte. Vergib mir ... wenn ich dich erschrecke ... ich ... der Jahrmarktsjunge ... Und nun habe ich nichts mehr zu sagen ... Sag', daß ich wieder weggehn soll aus dieser Gegend, so geh' ich weg; oder sag', daß ich bei dir bleiben soll, daß du mich besser kennen lernst.«

Sie hatte ihn die ganze Zeit, während er gesprochen hatte, unentwegt mit ernsten und stillen Augen angesehn. Nun schüttelte sie den blonden Kopf und sagte schlicht und nur verwundert: »Wie soll ich dich wegschicken? Du hast ja nichts böses getan. Und du bist mir lieb wie keiner. Du warst mir immer schon lieb.«

Harm Ott hatte die ganze Erzählung mit stillem, herbem Gesicht angehört. Als seine Schwester diesen Satz sagte, schlug er die Hände zusammen und wandte sich ab, als wenn er gehn wollte. »Und dein Bruder Eggert?« sagte er.

Seine Schwester sah ihn ruhig an und sagte: »Er hat uns ja nicht unglücklich machen wollen, Harm ... Das waren wir ja selbst ... die wir unfreundlich, scheu, zornig, unüberlegt und vieles andre waren.«

»Nun,« sagte er zornig, »dann kannst du ihn ja wieder auf den Hof führen, und er kann wieder Knecht bei uns werden; und dein Bruder Eggert ...«

»Ja,« sagt« sie, und es ging zum erstenmal nach Jahren ein Lächeln über ihr ernstes Gesicht, »und wenn es pfeift, werde ich nicht mehr erschrecken; und Eggert wird Vater vergeben; und Eggert wird auch Mattias vergeben.«

Der Bruder wandte sich ganz ab, wie ein Mensch, der einsieht, daß seine Worte vergebens sind: »Ich will nicht länger mit dir streiten. Ich will sehn, was ich zu tun habe. Es wird eine bittersüße Stunde für Mutter, aber eine bitterschwere für Vater werden.«

Sie sah ihn mit forschenden Augen an. »Ja,« sagte sie, »weil er nun weiß, daß er Eggert falsch verurteilt hat. Es wird ihm bitterhart sein. Ja, ich will auch kommen und will ihm helfen,« und wie ihr Zwillingsbruder Reimer setzte sie hinzu: »Ich glaube, das kann ich.«

»Ja,« sagte er, »wenn du das kannst, dann tu es nur, es wird sehr nötig sein!« Und wandte sich ab und ging langsam nach dem Hause zu. Als er aber einige Schritte gegangen war, den Kopf tief in schweren Gedanken und die Schultern hebend wie sein Bruder Eggert, richtete er sich wieder auf, und sah sich nach seiner Schwester um, und sagte mit weicherer Stimme: »Komm noch einige Schritte mit; ich möchte dir noch etwas sagen.«

Sie kam heran und ging neben ihm.

»Ich wollte Dir noch der Wahrheit nach erzählen, daß er, als er erfuhr, was er mit seinem Narrenstück angerichtet hatte – wir waren auf dem Wasser, als ich es ihm sagte – über Bord springen wollte. Wir hielten ihn mit drei Mann mit aller Mühe davon zurück. Ja, das wollte ich dir noch sagen! Alles was wahr ist! Und du mußt nun wissen, was du tust.« Und dann gab er ihr die Hand, und nickte ihr freundlicher zu und ging kopfschüttelnd davon.

Er ging in das Haus und in die Küche und sagte zu seines Bruders Frau: »Die beiden, Emma und der Knecht, wollen noch ein wenig miteinander reden. Nachher laß dir von ihnen erzählen, was sie dir zu sagen haben. Ich will nun wieder nach Haus.«

Die kleine Frau hörte kaum auf das, was er sagte. Sie verstand nur, daß er ohne gegessen zu haben, fort wollte. »Klaus hat uns wieder mal vergessen,« sagte sie mit ihrer singenden, unendlich guten Stimme. »Er vergißt uns immer.«

Er tröstete sie und ging.

Als er, auf den Sandweg zu gehend, noch einmal über die Hofstelle sah, sah er seine junge Schwester noch unter dem Dach des Schuppens sitzen. Ihre Hände in ihrem Schoß umschlossen mit einem rührenden Ausdruck der Güte die Hände des Knechts, der vor ihr kniete; und sie redete mit ihrer langsamen Sprache tröstend auf ihn ein. Der Franzose stand unter der Tür.

Als er das Haus erreichte – es war schon dunkel –, war ihm noch so wirr von dem Erlebnis, daß er beschloß, bis zum andem Morgen darüber zu schweigen. Er erzählte den Eltern, was er mit Ludwig erlebt hätte, und daß er Bruder Klaus nicht angetroffen hätte; saß noch eine Weile bei ihnen, und ging dann schlafen.


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