Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14. Kapitel

Der Narr

Während des Nachwinters und im ganzen Frühjahr geschah nichts, als was der tägliche Dienst brachte. Drei Tage lang der Stropp auf und ab, in frischem, hellem Ostwind, in stürzendem Regen, in eisigem Schneewind, in wütendem Sturm ... Ölzeug und Seestiefeln bis über die Hüften, Woge über Woge über Deck ... und die langen Abende bei Kartenspiel, Gesang und Erzählungen und Unterhaltung über den Krieg! Ja, der Krieg! Der Russe war ja nun auf der ganzen Linie im Rückzug. Aber wie lange konnte man noch hinter ihm herlaufen, bis man ihn in die Enge bekam!? Man konnte doch nicht hinter ihm herlaufen, bis man ihn gegen den Ural pressen konnte?! Und im Westen stand die Front wie eine Steinmauer und wollte nicht vorwärts. Und Italien hatte den Krieg erklärt! Aber trotzdem war allgemein die Meinung und kam man zu dem Schluß, daß der Krieg in diesem Sommer zu Ende gehen würde. Sicher! In diesem Sommer noch! Wahrscheinlich im August! Denn dann hatte er ein ganzes langes Jahr gedauert, und länger als ein Jahr lang konnte er nicht dauern! Darüber hinaus ... das ging ja auf den Dreißigjährigen Krieg los!

Einmal, um Mitte Mai herum, gab es eine kleine Abwechslung: sie retteten ein Flugzeug aus Seenot. Es hatte den Tag über gedrieselt und war gegen Abend völlig muddelig geworden und sie sprachen davon, daß es Schnee geben könnte. Und der Büsumer, der wieder trübsinnig war, sagte: »Warum nicht Schnee im Mai? Ist die ganze Menschheit verrückt, warum soll die Natur es nicht auch sein? Mein Vater erzählte mir, daß in einem verrückten Jahr seine Kuh – er hatte nur die eine – einmal an einem hellen Morgen, so Ende Mai, bis zu den Knien im Schnee gestanden hat.« Die Sicht, die tagelang sehr gut gewesen war, ging fast ganz verloren; sie sahen keine vier Schiffslängen mehr. Gegen Abend wurde in Nordwesten geschossen und sie fuhren vorsichtig in diese Richtung. Sie hielten alles Denkbare für möglich und waren auf das Furchtbarste gefaßt. Jeder stand auf seinem Posten. Dann schrien sie alle plötzlich auf: sie sahen keine zweihundert Meter vor sich einen merkwürdigen Gegenstand auf dem Wasser. »Was ist das?« »Was ist das?« Aber da erkannten sie es plötzlich. »Ein Flugzeug!« »Ein Flugzeug!« Sie waren außer sich vor Interesse und Spannung und Hilfsbereitschaft. Wie merkwürdig es auf dem Wasser hockte! Ganz wie eine große Libelle. Wie groß es erschien! Wie es von Wind und Wellen hin und her gestoßen wurde! Der eine der beiden Schwimmkästen war zerbrochen und so hing der Vogel schief, und das kalte Wasser schlug über die beiden jungen Menschen weg, die aufrecht in dem kleinen Raum standen. Es wurde ihnen nicht gleich klar, ob es Deutsche oder Engländer waren; ja sie glaubten wohl unwillkürlich, daß es Engländer wären, weil sie es im Nordwesten fanden. Aber das war ja vorläufig ganz gleichgültig; es waren Menschen in Not; und sie überstürzten sich, Taue und Fangleinen zu halten. Gleich darauf sahen sie die Eisernen Kreuze an den Flügeln. Sie warfen eine Leine hinüber und zogen sie dann zu sich heran und brachten die beiden Leute an Deck. Es waren zwei blutjunge Kerle, ganz in Leder, Handtücher um den Hals, todblaß vor Kälte; der eine, der Führer, konnte sich nicht mehr in den Knien halten und war wohl nicht ganz mehr bei Sinnen. Mit letzter Kraft versuchte er, sich aufrechtzuhalten und etwas wie eine Meldung zu machen, in dem wirren Glauben, er stände vor einem Chef. Er sagte: »Motordefekt, mußte 'runter ... dann im Wasser der linke Kasten zerbrochen.« Der Steuermann ließ ihn ausreden, faßte ihn dann aber an und zog ihn unter Deck. Inzwischen war das Nachbarboot herangekommen und machte sich daran, das Flugzeug zu bergen. Als der zweite der Flieger, der noch oben war, das sah, lief er zu seinem Führer in die Kajüte, der sogleich erschien, obgleich er kaum stehn konnte. Sie sagten, sie wollten bei ihrer Maschine bleiben. Da brachten sie die beiden nach dem andern Boot hinüber. Das war ein großes Erlebnis gewesen. Sie sprachen vier Wochen davon, was es wohl für Schüsse gewesen wären, die sie gehört hatten, und auf die sie losgefahren waren. Ob es natürliche Schüsse gewesen wären oder ob da irgendwelche höhere Macht die Hand im Spiel gehabt hätte. Und sie erzählten Geschichten von wunderbaren Begebenheiten. Und der Ewerführer, der eine sehr wunderbare Geschichte von einer Totenwarnung erzählte, die man ihm nicht recht glauben konnte, schrieb wegen näherer Auskunft an seine Großmutter, die sein Gewährsmann war, und las mit großer Bewegung den Brief vor, in dem sie durchaus bestätigte, was er erzählt hatte; und er feierte einen großen Triumph.

Aber größer war doch die Bewegung, viel größer, als nun Harm Ott, der über einem Band Naturkunde saß, den Bruder Reimer ihm zu seiner weitern Bildung gegeben hatte, die Geschichte vom Pfeifer erzählte! Er hatte den Kameraden bisher wenig oder nichts von zu Hause erzählt. Sie wußten weiter nichts von ihm als Stand und Haus, und viele Geschwister, und die eine Schwester kränklich, und seinen Beruf. Er war zu scheu und zu stolz, ihnen mit seinen Sorgen zu kommen, mit dieser Begebenheit vom Pfeifer oder gar mit dem Kummer um die Liebste. Aber nun trug er es doch vor! Es paßte ja so genau in die Unterhaltung! Es war ihm auch eine Erleichterung, endlich einmal mit andern Menschen über das zu reden, was ihn immer bewegte. Also berichtete er von dem rätselhaften Pfiff, von den Hausgenossen und Nachbarn, und von den beiden Verdächtigten: Eggert und dem Knecht, und von dem Schicksal Eggerts und der Schwester, und der unheilbaren Not des Vaters, der Mutter und des Bruders.

Wer konnte da einen Weg finden?! Sie wurden alle still. Was für eine Geschichte! Wahrhaftig, diese Geschichte war ihnen eine Zeitlang ebenso wichtig, ebenso bedeutend, ja sie war ihnen bedeutender als der Krieg? Welch ein wunderliches Rätsel! Welch eine Verwirrung! Welch eine Not! Sie sprachen immer wieder davon; und wo Harm Ott stand, traten sie an ihn heran und fragten ihn nach diesem und jenem und gaben ihm irgendeinen Rat. Der eine meinte, er solle eine Bekanntmachung hinter dem Menschen, dem Knecht, herlassen, vielleicht, daß er Reue empfand und bekannte; und einige entwarfen den Wortlaut der Anzeige, wie sie wohl aufzusetzen wäre. Peter Söht, der wegen des Verbots zu fischen mit der ganzen Menschheit in heimlichem Streit lag, schlug mit herbem Gesicht vor, es sollte ein Geheimpolizist in Arbeit gesetzt werden; und er versenkte sich aufs tiefste in diese Aufgabe, so daß er stundenlang kein Wort sagte, sondern still und unbeweglich dasaß, mit Augen, wie ein Kund vor einem Mauseloch. Der kleine dunkle Westpreuße aber dachte darüber nach, wie es zu machen sei, daß dieser Eggert Ott wieder mit seinem Vater ausgesöhnt würde. Ob er unter Deck im Logis saß, oder ob er auf Deck scheuerte, putzte oder Wache stand: immer sann er darüber nach. Aber schließlich hatten sie die Geschichte zu Ende geredet. Nachdem Harm Ott unzählige Male, erst im allgemeinen, und dann noch jedem einzelnen die Sache hatte erzählen müssen und den Pfiff unzählige Male hatte vormachen müssen, und dieser Eggert Ott, den keiner je gesehn hatte, die berühmteste Persönlichkeit an Bord geworden war, ließ die Aufregung über ihn nach, und es gähnte wieder die Öde des täglichen Tagewerkes! Ein Jahr fast fuhren sie nun so ... auf und ab ... auf und ab! Wenn doch etwas geschähe!? Irgend etwas! Allmählich wäre es ihnen recht und willkommen gewesen, wenn des Teufels Großmutter über die Wogen gekommen wäre, um einen Abend lang mit ihnen Karten zu spielen, obgleich sie, wie der Pommer sagte, so sicher wie was, all ihr Geld dabei zusetzen würden. Oder wenn die Engländer grade bei ihnen vorgestoßen wären! Wer konnte es wissen?! Vielleicht bargen sie doch das Leben! Auf irgendeine Weise ... obgleich es ja ein bares Wunder sein müßte! Und sie sprachen davon und sahn sich schon im Flottenbericht: »Es war das Vorpostenboot »Alte Liebe«, das die erste Meldung brachte. Das kleine Boot usw....« Sie saßen lange stumm und malten sich den Gedanken aus. Der kleine dunkle Westpreuße lächelte glücklich versonnen vor sich hin, indem er dachte, wie seine Frau ihn ansehen würde, wenn er so wiederkäme. Der hagere und trübselige Söht, der Fischer, dachte an eine Festlichkeit, eine üppige Bewirtung und tat im Geist einen großen Schluck; und der Ewerführer stand im Geist vor Kaiser Wilhelm und stand Rede und Antwort, und griff nach dem Kragen, ob er auch vorschriftsmäßig säße. Harm Ott, der der Klügste von ihnen war und die besten Augen hatte, sah es und lächelte.

So verging der Sommer und der Herbst kam heran und brachte die ersten Stürme. Und da gab es wieder ein Erlebnis, und zwar eins, das dann eine große Sache für sie wurde.

So gegen Nachmittag war es diesiges Wetter geworden, und es war Sturm gemeldet: von Helgoland, Windstärke 10, von Amrum 9. Harm Ott stand in Ölzeug und Südwester breitbeinig auf dem Ausguck. Sie fuhren steif gegen den Nordwest an, der zuweilen abflaute, dann plumpen Regen aufs Deck schmiß und dann plötzlich heftig aufwehte. Die Spritzer flogen so hoch, daß er genug zu schaffen hatte, die Augen aufzuhalten. Als er eine halbe Stunde so gestanden hatte, sah er durch den Regen, wie grade vor ihnen in sich heranwälzenden Wogen und Nebel irgend etwas herantrieb ... irgend etwas ..., und plötzlich schien es ihm nichts andres zu sein, als eine Mine ... nicht eine ... mehrere! die Haare standen ihm zu Berge. Er schrie: »Minen! Minen!«; und dachte, daß es nun völlig aus wäre mit ihnen. Aber da schrie der Obermaat von der Brücke herunter: »Das sind ja Ölfässer, Mensch! ... Und das da ... das ist ja ein Portweinfaß!«

Und nun fingen sie im Abenddämmern an, den Hebebaum auszusetzen und die großen und schweren Tonnen an Deck zu heben. Sie trieben mit den Wellen, und die See ging in schweren Massen über das ganze Achterdeck, und sie hatten keinen trocknen Fetzen mehr am Leibe, denn sie hatten sich nicht alle Zeit gelassen, sich in Ölzeug zu werfen. Sie schimpften und sagten, die Fässer schwämmen ja von selbst auf unsre Küste zu, warum sie sich damit quälen sollten. Aber der Steuermann, der Wohl ein Wort davon hörte, sagte in seiner ruhigen Weise, daß sie wahrscheinlich auf die holländische Küste zuschwömmen, und daß sie großen Wert für Deutschland hätten. Da arbeiteten sie, als wenn sie sich die Seligleit verdienen sollten.

Als sie noch so mitten in heißer Arbeit waren, die Hälfte an der Reling, um zu fassen, die andere unter Deck, um zu verstauen, sahen zwei, die zählen wollten, wieviel da noch trieben, kaum zehn Meter vom Boot, eine Tonne treiben, die keine richtige Tonne war. In dem Augenblick fing der Wind, der nach Nordost übergegangen war, an, Schnee zu treiben. Trotzdem hatten sie erkannt, daß es keine Öltonne, sondern eine Mine war. Sie zeigten mit entsetzten Gesichtern und ausgereckten Händen dahin. Es war ein furchtbarer Augenblick. Es war dem Steuermann, der selbst ans Rad sprang, trotz allen Steuerns nicht möglich, sie von dem Ungeheuer wegzubringen. Sie standen alle wie versteint, die Augen alle auf das grausige Ding geheftet, das die nächste Welle gegen die Bordwand werfen mußte. Aber dann, so plötzlich die Gefahr gekommen, so plötzlich war sie vorüber. Sie trieb, ja sie jagte von ihnen weg, von einer langen, großen Welle fortgetragen. Sie atmeten alle hoch auf. »Ah!« ... sagten sie; und rannten wie verrückt an ihre Gewehre. Aber ehe sie soweit kamen, schlug die Mine mit ihrem ganzen Gewicht gegen eine Öltonne und explodierte mit ungeheurem Krach. Haushoher Gischt flog in den Nebel. Als sie sich dann wieder den Ölfässern zuwenden wollten, waren keine mehr zu sehen. So kehrten sie denn um und fuhren wieder ihre alte Strecke.

Der Wind war stärker geworden und gegen Mitternacht hatten sie Sturm mit Schnee. Es war eine furchtbare Nacht. Das Boot war ja gut; aber das Schlimmste waren die Tonnen, die sie gar zu gern behalten wollten, da sie so wertvoll für Deutschland waren. Sie versuchten erst, sie an Deck festzuzurren, aber sie hatten nicht Ketten genug; zwei gingen über Bord. Da versuchten sie, eine nach der andern in den Raum hinabzuheben, das wollte aber auch nicht mehr gelingen. Zweimal schrie der Steuermann: »Wenn ihr nicht mehr könnt, schmeißt das Deubelszeug über Bord!« Aber sie schüttelten die Köpfe; sie waren wie versessen, sie zu retten. Es war ihnen allen zumute, als täten sie ihrem Volk mit dieser Arbeit eine besondere Liebe an. Und weiß Gott, sie liebten es, so einfache Leute sie waren, und wußten, wie furchtbar groß seine Not war. Der Telegraphist hatte ihnen auch noch gesagt, daß Portwein so gut für Verwundete wäre, daß sie wieder zu Kräften kämen! Sie arbeiteten über ihre Kräfte. Es war ihnen allen wieder, als wenn das ganze deutsche Volk, das sie sich als eine große Volksmenge vorstellten, am Strand stände, auf den Deichen, auf den Hausdächern, auf den Werften und auf den hohen Häusern von Hamburg, ja auf dem Michaeliskirchturm, und ihnen zusah, wie sie sich auf dem wasserüberrauschten Deck in steter Lebensgefahr mit den Öltonnen und den riesigen Portweinfässern abquälten, und jedesmal mit den Köpfen nickten, wenn sie eins sicher geborgen hatten.

So verging die Nacht und diese Sache.

Am Morgen ... es war noch dämmerig ... sichtete der Unteroffizier Peter Hagedorn von der Brücke herab – der Ausguckmann, der durch den Nebel, Regen und Schnee nichts gesehn hatte, bekam mächtige Schimpfe – in Nordwesten einen Gegenstand, den sie erst für den Turm eines U-Boots, dann für eine Mine, dann für ein großes Faß hielten, bis sie endlich darauf zuhielten und erkannten, daß es ein großes Boot war, das so altmodisch, dick und wuchtig war, daß es allerdings eher einem Faß als einem Boot glich. Sie liefen vorsichtig näher, und bald sahn sie, daß es besetzt war, und wie die Insassen mit Tüchern und Mützen winkten und schrien. Dann hörten sie eine helle Stimm auf englisch prahlen und schimpfen, die von nun an das Wort führte: »So ... wißt ihr nun, was das ist? Kennt ihr den Lappen? ... Was? ... Nun kommt ihr auf ein deutsches Schiff und in einer halben Stunde seid ihr geschlachtet, gesalzen und gepökelt!«

Die andern im Boot, ... es waren etwa achtzehn Menschen, alle heruntergekommen gekleidet ... waren still. Einige knieten, die meisten lagen, mehrere schienen tot.

»Mehr Leine, Kapitän!« schrie die helle Stimme auf deutsch. »Einige wollen nicht herauf; andre können nicht, weil sie halbtot sind! ... Vorsicht, Kapitän, Sie haben nicht viele Mann an Bord! Wer weiß, ob die Schurken nicht an einen Überfall denken, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen haben!«

Der Wind hatte nachgelassen; der Himmel sah im Westen gelbdunstig aus und im Osten wurde es heller. Sie sahn nun deutlich, daß es Menschen in schlimmer Not waren. Sie griffen zu, wo sie konnten. Es war eine bunte Gesellschaft: Spaniolen, Engländer, Norweger, Brasilianer. Einige sanken lautlos an Deck zusammen, andre knieten nieder und beteten sie an, wohl weil sie nach den Zeitungen die Deutschen für Mörder hielten. Sie aßen mit Gier das Brot, das sie ihnen in die Hand drückten, und steckten ihre Köpfe wie Pferde in den kleinen Wassereimer. Als letzte band der mit der hellen Stimme die beiden Sterbenden oder Toten in die Leine. Sie legten sie an Deck nieder, da wo sie sie aufgehiewt hatten; es waren zwei ältere Männer, einer von germanischer, der andre von jüdischer Rasse; sie waren der Kälte und den Entbehrungen erlegen, und Hilfe nützte nichts mehr. Als letzter kam der junge Mensch mit der hellen Stime herauf, etwas über zwanzig Jahre, in verschmutztem, abgerissenem Anzug, in lässiger Haltung, aber in seinem Wesen frei und munter, so als wenn er von einem Ball käme und nicht stundenlang dicht an seinen Knien Menschen hatte sterben sehn. Es schien ihn auch nicht zu frieren, obgleich er in seiner dünnen, verkommenen, völlig durchnäßten Kleidung da im kalten Wind stand. Er hatte ein nicht unedles, freimütiges Gesicht, wie er da so stand, abgesondert von der elenden Gesellschaft, die sich in einem Klumpen zusammendrängte, und Deutsch und verkommenes Englisch wie Kraut und Rüben durcheinander warf: »Wir sind auf einem Dampfer von Newport abgefahren ... mit Munition für England, und haben es alle gewußt. Auch ich hatte mich anwerben lassen, um auf diese Weise nach England und von da nach Deutschland zu kommen, um für mein Vaterland zu kämpfen. Weit von hier ... dort hinüber ... ist das Schiff in der vorigen Nacht auf eine Mine gelaufen und gesunken. Daß der Dampfer Munition geladen hatte, kann ich bezeugen, denn ich habe die Schiffspapiere, die dem Kapitän beim Sturz von der Brücke entfallen waren, bei mir. So ist es denn nun sicher, daß diese ganze Gesellschaft an den Galgen kommt.«

Der Steuermann hörte den jungen Mann mit gerunzelter Stirn an. Er war unsicher, was er mit ihm machen sollte, und fing an, die übrigen auszufragen, die mit starren Augen den Worten ihres Genossen zugehört hatten. Sie gaben zu, daß es so wäre, wie jener gesagt hatte, und wollten Entschuldigungen vorbringen: sie wären alle arme Kerle und die hohe Heuer hätte sie gereizt. Sie meinten, es wäre so, wie der junge Mann sagte, daß sie ihr Leben verwirkt hätten.

Der Steuermann beruhigte sie. »Das ist ja Unsinn,« sagte er, »ihr werdet interniert und weiter wird euch nichts geschehn,« und er befahl ihnen, aufs Wort zu gehorchen, und ließ sie unter Deck führen.

Unterdes hatte die Mannschaft angefangen, die beiden Toten notdürftig in Leinen einzuwickeln und einzuschnüren. Dann legten sie die beiden auf ein Brett und hoben sie auf die Reling. Sie standen mit abgezogenen Mützen; auch von den Schiffbrüchigen kamen einige heran, grade, ernste Augen auf die Toten gerichtet; dann rutschten die beiden schmalen Bündel, von denen die Tau-Enden im Winde flatterten, ins Wasser. Dann gingen sie ihrer Arbeit wieder nach.

Gleich darauf kam die Ablösung; und sie fuhren mit ihrer doppelten Last und gegen den Wind, der sich mehr und mehr östlich gedreht hatte, nach Wilhelmshaven zu. Der junge Deutsche stand hier und da herum und plauderte mit der Mannschaft, so, als wenn er sie alle schon lange kannte, fragte, erzählte, prahlte, und lief auch auf die Brücke, und fragte den Steuermann nach diesem und jenem. Er erzählte, er wäre der Sohn eines Hamburger Reeders und Reserveoffizier und nannte auch das Regiment. Er hätte sich ein ganzes Jahr lang als einfacher Arbeiter in New York aufgehalten, um die englischen Schiffsspione zu täuschen; aber es wäre ihm nicht gelungen, sich zu verbergen, da sein Vater da drüben gar zu bekannt wäre. Da wäre er auf den Gedanken gekommen, mit diesem Schiff wenigstens bis England zu gehen; so wäre er doch Deutschland schon näher.

Sie waren alle, vom Steuermann bis zu dem breitköpfigen Pommer, obwohl einige von ihnen schon rund um die Erde gefahren waren, seinetwegen unsicher. Daß er sich taktlos benahm, fühlten alle; denn sie hatten ein gutes Empfinden für vornehm und unedel. Aber sie rechneten es ihm an, daß er schwere Zeiten hinter sich hatte, die ihn aus der Form gebracht, und daß der Schiffbruch, die Gefahr und die Entbehrung ihn erregt hatten, und zuletzt, daß er mit so großer Not Deutschland hatte aufsuchen wollen. Denn auch das glaubten sie ihm. Sie hatten überhaupt den heißen Wunsch, ihm alles zu glauben, ihn zu verstehn und zu entschuldigen, um doch nur ja seine Ehre zu retten. Denn der Gedanke, der ihnen aufsteigen wollte, daß er ein Schwätzer, Lügner und Hochstapler sein könnte, war ihnen furchtbar. Sie verschlossen ihn im innersten Herzen. Der Westpreuße kam, in seiner Not und Angst um ihn, um ihn über allen Verdacht zu erheben, auf den Gedanken, daß er vielleicht ein Prinz wäre; denn man hörte damals schon von vielen Offizieren, darunter auch Prinzen und Fürsten, die sich heimlich in Verkleidung nach Deutschland schlichen, um ihrem Lande zu helfen. Denn es brannte ja allen, was deutsches Blut in den Adern hatte, das ihre zu tun; und die Vornehmsten scheuten nicht den größten Schmutz und das schwerste Leben, um nach der Heimat zu kommen. Also trat der Westpreuße, so schweigsam er sonst war, an diesen und jenen seiner Kameraden heran, so, als wenn er da ein wenig stehn und ins Weite sehn wollte, und sagte leise und mit zusammengepreßten Lippen: »Du, weißt du, was das für einer ist? ... Das ist ein Prinz... vielleicht ein Sohn vom Kaiser. Der hat ja so viele ... da ist vielleicht einer im Ausland gewesen!« An diese Möglichkeit glaubten sie ja nun natürlich nicht; aber sie waren doch alle überzeugt, ja, das waren sie, daß er ein Junge aus gutem Hause wäre. In diesen Gedanken bissen sie sich ordentlich hinein; denn der andre, daß er ein windiger Patron und Hochstapler wäre, war ihnen so peinlich, daß sie schon im voraus, im Gedanken an die Möglichkeit, sich in seinem Namen schämten und einer nach dem andern im voraus rot wurde. Nein, so etwas wollten sie nicht erleben! Nein! Sie kamen heute abend nach Wilhelmshaven ... da mochte denn sein Schicksal ihn ereilen. Da, wo es Leute gab, die fester zugriffen! Dazu hatten sie keine Begabung! ... Nein!

Sie waren alle erregt und von Arbeit und Wache übermüde. Es war ein wunderlicher, fast unwirklicher Zustand.

Gegen Abend stand Harm Ott an der Reling, da trat der Fremde auf ihn zu und fing in seiner Weise auch mit ihm an; und erzählte ihm unter anderm, daß er auch New York gut kenne. Da sagte Harm Ott, um etwas zu sagen – denn auch er wollte in der Vornehmheit seiner Seele gar zu gern an ihn glauben und freundlich und höflich gegen ihn sein – und weil er nach der geringsten Hoffnung griff, etwas von seinem Bruder zu erfahren, daß er dort einen Bruder hätte.

Da fing der junge Fremde an, sich zu erinnern: »Einen Menschen mit Namen Eggert Ott ... ja ... habe ich den nicht mal kennen gelernt?! ... Hat er nicht blondes Haar und ist ein besonders hübscher junger Kerl?! So was Finsteres im Gesicht? ... Ja! Namen erinnere ich nicht mehr; aber den muß ich kennen! ... Gut sogar! Ja ... ich habe mit ihm gearbeitet! Jawohl, ja ... wir haben in einer Wirtschaft zusammen Teller gewaschen, ja! ... Und er hat mir auch erzählt, daß er einen Bruder in der deutschen Marine hätte.«

Harm Ott wollte sich ein wenig wundern, daß Bruder Eggert Teller gewaschen haben sollte. Eher tat er jede andere Arbeit und wenn es die schwerste war! Aber er war zu glücklich, daß er von seinem geliebten Bruder hörte, und strahlte über das ganze Gesicht. Welch ein wunderbarer Zufall! Er fragte und fragte, und der Fremde stand Rede und Antwort. Und ging, um mit einem andern zu plaudern.

So ging er von einem zum andern durchs ganze Schiff und redete jeden an und war freundlich, und hatte dabei so etwas Herablassendes; und sie waren alle unsicher, und fühlten sich ungemütlich. Aber sie wußten nichts dagegen zu machen. Sie waren alle überhöflich und sehr freundlich gegen ihn ... Ja, der lange, hagere Söht, der Fischer, versuchte, als der Fremde ihn etwas fragte, so etwas wie eine Verbeugung zu machen, ließ es aber und wurde rot. Es war ein schlimmer und peinlicher Zustand. Wenn er sich doch so benommen hätte, so daß sie ihm von ganzem Herzen geglaubt hätten! Mit wie freudigem Herzen hätten sie ihn behandelt! Wie frei hätten sie ihn angesehn! Wie neugierig und wieviel ihn gefragt! Wie stolz wären sie auf ihn gewesen! Welche Liebe hätten sie ihm erwiesen. Denn ihr Herz brannte ja danach, einem Menschen auf der Welt Liebe zu erweisen! Die Schiffbrüchigen saßen da unten zusammengepfercht in ihren Reservekleidern, die sie an Bord hatten; einige hatten ihnen das beste Zeug gegeben, das sie besaßen. Wie hätten sie erst diesem Fremden Gutes getan, diesem tapfren Landsmann und feinen, freundlichen Jungen, der so verfroren und verhungert aussah! Wenn sie ihm nur von ganzem Herzen geglaubt hätten! Warum in aller Welt sorgte er nicht dafür, daß sie ihm von ganzem Herzen glauben konnten, so wie es in der Bibel steht: glauben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt?! Ein Mensch muß glauben oder nicht glauben; der Zwischenzustand, der Zweifel, ist fürchterlich. Es war ihnen schrecklich, daß er der Herr des Schiffes war, und der Herr von ihnen allen ... ja, das war er! ... und sie nicht an ihn glauben konnten!

Als Harm Ott nach dem Essen mit einigen von seiner Wache, die da schon saßen und standen, in den Schutz des Schornsteins trat, eine Pfeife zu rauchen, kam der Fremde wieder heran und erzählte, er sei in die Welt gelaufen, um in den Wäldern Kanadas Pelztiere zu jagen. Und er erzählte ihnen von Kanada! Kanada im Sommer ... Wälder so groß wie Europa. Weizenfelder so groß wie Deutschland! Und Kanada im Winter: Schneeberge wie die Alpen, und Pelztiere ... ganze Zelte voll! Aber er sei aller dieser Dinge müde! Er sei glücklich, daß er durch diesen wunderlichen Zufall auf ein deutsches Schiff gekommen; und nun wolle er seinem Freund Wilhelm helfen.

Sie standen um ihn und schämten sich seiner sehr und sahen an ihm vorbei. Besonders gefiel ihnen das ewige Prahlen nicht, und gar der Ausdruck, den er über den Kaiser brauchte. Das schickte sich durchaus nicht! Kaiser war Kaiser, und war kein Freund, am wenigsten für so ein junges, leichtsinniges Reichemannskind! Denn windig war er auf jeden Fall; das war ihnen klar!

Um die Verlegenheit abzulenken ... da keiner ein Wort der Erwiderung fand –, der Unteroffizier Peter Hagedorn knurrte vor sich hin und biß an seiner Pfeife – sagte Harm Ott: »Hast du schon gehört, Hagedorn? Er hat meinen Bruder in New York kennengelernt und hat mir von ihm erzählt!«

Da legte Peter Hagedorn seine Pfeife auf die Reling und sagte mit einem schweren Stöhnen: »Du, Pommer! Was hast du dem Mann vorhin erzählt, als du da neben ihm standest? Du erzähltest so wichtig und eifrig. Heraus damit, Pommer!«

Der Pommer sah aufs Wasser und sagte: »Ich habe ihm die Geschichte von Eggert Ott erzählt.«

»Na, also, Kinder!« sagte Peter Hagedorn, »denn ist es nun genug! Ihr alle miteinander, von dem Alten auf der Brücke bis zu dem elenden Pommer, der mich nicht ansehn mag, sondern aufs Wasser starrt ... ihr seid alle miteinander Feiglinge!« Und plötzlich schrie er mit wildem Gesicht nach der Luke hinüber, wo der Ewerführer stand: »Ewerführer, zwei Gewehre!« Der lief mit verwirrten, entsetzten Augen und kam mit zwei Gewehren und warf sie Peter Hagedorn in den Arm. Als Peter Hagedorn die Gewehre in der Hand hatte, wurde sein Gesicht noch wilder. Er sah aus, als wäre er ein Feind der ganzen Menschheit. Er warf das eine Gewehr dem Fremden in den Arm, riß sich auf und schrie: »Knochen zusammen, du elender Bengel!«

Der war blaß geworden, hatte das Gewehr in der Hand und versuchte, es zu halten; aber es zeigte sich, daß er nie eins in der Hand gehabt hatte.

»Stramm gestanden!« schrie Peter Hagedorn, »stramm, sage ich dir! Wer bist du, Du elender Hund?!«

Der Fremde zuckte mit den Schultern: »Ein Kellner! Ein deutscher Kellner.«

»Ein verlogener Deutscher, heißt es,« schrie er. »Sage es: ein verlogener Deutscher! ... Und ich ... ich will dir auf die Beine helfen! Du mußt doch ein ordentlicher Kerl werden?! Jeder Deutsche muß jetzt ein ordentlicher Mensch werden! Alle auf der Wacht! Keiner eine Schlafmütze, und keiner ein Narr! Her die Augen, Du Lump! Präsentier'!«


 << zurück weiter >>