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5. Kapitel

Bruder Reimer

Als der Bruder gegangen war, suchte der Knabe einen Haufen Bücher zusammen, band sie in ein großes buntes Taschentuch und machte sich über die große Diele heimlich aus dem Hause. Er lief nach dem Deich zu und kam an das Ludwigsche Haus und klopfte ans Fenster. Als die Frau des Fischers im Hemd am Fenster erschien, fragte er sie, ob sein Bruder noch hier wäre. Die Frau sagte ihm, daß er mit dem letzten Zug, vor zwei Stunden, mit ihren Söhnen nach Hamburg gefahren wäre.

Er sagte unsicher: »Ich dachte mir fast, daß er schon fort wäre und nach Hamburg. Ich möchte ihn so gern noch mal sprechen und ihm dies geben.«

Die Frau, die durchaus guten Willens war und die Not der Mutter und der Kinder begriff, meinte, er hätte Auftrag von der Mutter, und sagte: »Dann fahr doch hin, Reimer; es ist ja 'n Katzensprung! Du fährst morgen früh um vier ab und bist um sieben da,« und sie nannte ihm die Adresse der Wirtschaft in Hamburg.

Er merkte sich die Adresse und machte sich wieder auf den Heimweg. Als er sich aber dem Dorf und dem Hof wieder näherte, besorgte er, daß ihn jemand hörte, wenn er wieder ins Haus schliche, und beschloß, in der Weise seines Alters, sich die Nacht draußen zu vertreiben. Also setzte er sich zuerst auf eines der Hecks am Weg und dachte über die Not im Hause nach und ging im Geist bald zum Vater, bald zu Eggert, und trat in jedes Seele wie in ein wohlbekanntes Haus und wußte genau, wie einem jeden zumute war, und sprach mit ihm, mit den einzig richtigen Gedanken und Worten, deutend, enträtselnd, erklärend, tastend, horchend, feurig bewegt, verschiebend, gütig, mit freundlichen Worten zurechtstellend, und ging erst wieder, wenn er aus dem wirren Hause ein schön geordnetes und reines und frohes geschaffen hatte. Besonders ging er dem Geflohenen nach. Er sah ihn in der Wirtschaft im großen Hamburg sitzen. Er saß ganz allein, bei einem Glase Bier, von dem er keinen Tropfen getrunken, in einer Ecke, mit dem hageren, rotblonden, finsteren und bösen Gesicht. Er setzte sich ihm gegenüber und sprach mit ihm. Er horchte seinem Schulterwerfen und bösen Worten, drang von neuem auf ihn ein, vorsichtig, mit langsam bedächtigen, zweifelnden Worten, mit ruhiger, langsamer Stimme ... genau, wie man ein unverständiges, störrisches Tier treibt, das in den Stall soll oder durch ein Heck. Und zuletzt, vorsichtig erklärend, horchend, wieder erklärend, gütig, heiß werbend, Gott und die Mutter ins Feuer führend, gewann er ihn.

So saß er wohl eine Stunde. Da wurden diese Gedanken müde, verblaßten und vergingen, und er gewahrte die Nacht, und saß und sah nach dem dämmernden Dorf, und glitt mit den Augen die lange, dunkle Baummasse entlang und kam bis zu der Stelle, wo um Kirche und Pastorat die Bäume am dicksten und höchsten ragten. Da glitt er unbewußt vom Heck herunter und ging langsam in Sinnen quer übers Feld, sprang über einige Gräben und kam bis vor das stattliche Haus neben dem Pastorat, das früher die Wohnung des Arztes gewesen, nun aber von einem Hamburger Kaufmann bewohnt wurde, der seiner Gesundheit wegen hier mit seinen Kindern lebte. Er kletterte über das Staket in den Garten und stand und sah hinauf und sah deutlich die Fenster, wie sie mit blinden Augen in die blasse Nacht hinaussahen. Da ... ja ... da war die Diele ... und da die Küche und ... da war die Schlafstube der Töchter. Und nun waren seine Gedanken bei dem blonden Kinde, welches das schönste, vornehmste und reinste Wesen war, das es auf der weiten Welt gab. Und er ... er hatte das unsagbare Glück: er sprach fast täglich mit ihr! Wenn er vor dem Pastorat auf der Straße stand, am Eingangstor zum Garten, seine Bücher unterm Arm, und wartete, bis die Turmuhr schlug, kam sie immer aus ihrem Garten und sagte dieses und jenes, und erzählte ihm vom Garten, von ihren Geschwistern, ihrer Lehrerin. Und alles, was sie sagte, war klug und wundergut, und wie sie es sagte, war unsagbar fein und vornehm! Ach, wie war sie schön! Wie war sie reinen Herzens! Ach, sie war viel zu rein und vornehm für ihn! ... Aber nun in der Nacht, da er so da stand, ein Mensch ganz allein, in seinem eigenen Menschentum, und wußte, daß sie schlief und wehrlos dalag, – ihre Waffen waren gar zu herrlich und funkelnd und machten ihn unsicher und bange – umspielten seine Gedanken ungehinderter, mutiger ihr zierlich süßes Wesen. Er redete sie an; er hörte ihre Antworten; er wurde redselig ... er plauderte schön ... er gefiel ihr ... er lachte leise und sah, daß sein Lachen ihr wohlgefiel, und war stolz und eitel darob, und stand da mit sprühenden Augen im jungen klaren Gesicht, bewegungslos und die Seele voll vom bewegtesten Leben. Da kam vom Kirchhof her irgendein Laut eines schlafenden oder schleichenden Tieres. Da wurde er wieder die Nacht gewahr und wie er hier stand, dem Fenster seiner kleinen Liebsten gegenüber und dachte: ›Gerade wie einer‹ – er hatte es mal irgendwo gelesen – ›der seiner Liebsten ein Nachtständchen bringt,‹ und suchte sogleich, lächelnd und wieder den eitlen Schein im Gesicht – er dachte: ›So schön wie ich, kann es keiner‹ – in seiner Seele, was er ihr singen würde, und bildete an großen Gefühlen und Worten, und umgab das kleine zwölfjährige Wesen mit hohem, sanftem, schönem Schein, daß es fast wie himmlischer Glanz um ihr kurzkleidiges Figürchen stand, und seine frischen Lippen bogen und bildeten in schöner Ordnung an ihren Worten, und seine klaren Augen strahlten von der Süßigkeit seiner Gefühle.

Endlich hatte er seiner Liebe und all seinem Gefühl genuggetan und ging langsam aus dem Garten und in den Schatten der alten Bäume, die hier dicht und mächtig standen, am Kirchhof entlang, übersah die Form der Kirche und blieb am dunkelsten Baum im völligen Schatten der Nacht stehen, den Rücken gegen den rauhen, rissigen Stamm, die Augen noch immer auf die Kirche gerichtet, die größer, ruhiger und ernster, als er sie sonst sah, in all dem Dunkel stand. Die Angst, die seine große Phantasie sonst wohl kannte, war hier nicht bei ihm, da der Kirchhof hell genug lag, so daß er jedes der wenigen Kreuze erkennen konnte, und die Straße mit ihren Häusern, falls sich doch Schreckliches begeben sollte, mit einigen großen Sprüngen zu erreichen war. Er sah mit ruhigen, träumenden Augen nach den Fenstern und suchte das, das neben der Kanzel war. Seine Eltern und das ganze Dorf wußten nicht anders, als daß er Lehrer werden sollte und wollte. Er selbst aber trug heimlich im Herzen den festen Glauben, daß er einmal über dies Amt hinaus als Lehrer oder Prediger oder was sonst ... das wußte er nicht ... vor vielen tausend Menschen stehen würde; und seine Worte würden größer und beredter, und anders als aller anderen Menschen Worte sein, selbst der Gelehrtesten im Land, darum, weil er wie keiner wußte, was in der Seele der Menschen an Not und Wünschen und Bedürfnissen war ... keiner! ... Und seine Phantasie, im Nebel der Jugend tastend und greifend, noch unfähig, den Gefühlen eigene Gründung und eigene Form zu geben, erging sich in den alten hergebrachten Worten ... Freiheit ... Güte ... alle Brüder ... blankes, freies, frohes Leben ... nirgends Haß ... nirgends Feindschaft, nirgends Neid ... ein weises, reines Volk ... ewiger, schöner Friede ... Kinder Gottes ... Wie in einem ungeheuren Gesicht, in einem ungeheuren strahlenden Gewoge sah er eine neue Menschheit, stand er vor jener Erscheinung, vor der unsere ganze edle Jugend steht, und war nicht mehr in sich. Ein Erwachsener, in dem Alter und der Kleidung von Pastor Bohlen, den er heimlich aufs heißeste verehrte, in einem einfachen, bäurischen, aber ängstlich sauberen Rock, ein Mann des Volkes, kein Prahler, kein Priester, kein Gelehrter, kein Reicher, stand er mit einem schlichten Gesicht, ohne allen Schmuck und Gebärden, und sprach so zu den Tausenden, die bis über die Ränder des Kirchhofs und drüben noch auf der breiten Straße standen. Seine Eltern, beide mit weißem Haar, saßen ganz weit zurück, auch sie mit stillen, feierlichen Gesichtern seinen Worten lauschend. So feierte er im verschwiegenen eine Vorfeier, ein Fest seines zukünftigen Lebens.

Da krähte in einem fernen Hof ein Hahn auf und ein kühler Luftzug fuhr durch die Bäume. Da schüttelte er seinen Traum ab und gedachte der schweren Aufgabe dieses Tages und ging in diesen Gedanken unter den Bäumen hin und her, bis im Osten und seitwärts der Kirche ein schwacher Schein des Morgens erschien und im höchsten Baum mit lärmendem Flügelklatschen eine Krähe aufflog. Da ging er in der Morgendämmerung nach dem Bahnhof.

Die Viehhändler und Lotsen, die um ihn saßen ... Bekannte waren nicht unter ihnen ... fragten ihn, da er so etwas überwacht und verloren dasaß, was er denn in Hamburg wolle, und scherzten, er wolle doch wohl nicht auf Abenteuer aus? Er verstand sie nicht, sah sie mit seinen offenen Augen an und sagte: er wolle seinen Bruder besuchen. Als sie ihn fragten, was der Bruder denn wäre, merkten sie an dem hilflosen, unsicheren Ausdruck in seinem Gesicht, daß da eine Not wäre, ließen ihn und vergaßen ihn fast. Nur einer sah ihn dann und wann an, als gedächte er eines Tags der eignen Jugend, wo auch er eine Aufgabe hatte, die über die Kraft seiner Jahre ging.

Er war noch nie in einer großen Stadt gewesen, wagte sich nicht auf eine Straßenbahn, sondern machte sich zu Fuß auf den Weg und ging und ging, so wie die Leute ihn wiesen, und redete in Gedanken eifrig auf seinen Bruder ein, und kam über sein hitziges Reden in immer hitzigeres Laufen; er fürchtete auch, den Bruder nicht mehr anzutreffen, und lief sich aus Atem und Kraft. Er war in den Jahren, wo der Körper lang und schmal aufschießt und nicht viel überschüssiges Blut hat; und er hatte gestern abend nichts gegessen und war die Nacht durch auf den Beinen gewesen. So wurde er müder und müder. Endlich kam er an die Reeperbahn, und die Leute sagten ihm, daß es nicht mehr weit wäre. Aber nun war er auch am Ende seiner Kraft. Er ängstigte sich entsetzlich, daß ihm die Leute und die Häuser vor den Augen verschwanden und daß er bald niederfallen würde, aber mehr noch, was es denn wäre, was ihm fehlte. Er riß sich zusammen, warf die Füße straffer vor sich und versuchte zu singen, und so ging es eine Weile besser. Als er dann aber einen Menschen fragte, wo die Wirtschaft wäre, und der Gefragte nach einem Hause schräg über die Straße deutete, verschwand die Stimme und der Mann in ganz merkwürdiger Weise vor seinen Augen und Ohren. »Ich fall' um,« sagte er. Da sprang der Mann hinzu und führte ihn an die Haustür und in die Stube.

Die kleine kümmerliche Frau, die da in dem Stübchen am Fenster saß, erkannte gleich, daß er vom Lande kam und aus gutem Hause und daß er verhungert wäre, stand auf und humpelte über den Gang nach der Wirtsstube und rief nach Brot und Wein und kümmerte sich vorläufig nicht darum, daß dieser plötzliche neue Gast mit einer schwachen Gebärde und Bitte auf den Packen deutete, der nun, wie er jetzt wieder sah, vor ihm auf dem Tisch lag. Als er dann aber ein Stück Brot in der Hand hatte, nahm sie den Packen und sah nichts als einen Haufen zerlesener Bücher und oben darauf eine kleine Zahl Lichtbilder. Sie besah die Bilder und wunderte sich und sagte: »Gott bewahre ... was für eine große Familie! Ihr seid ja wohl mehr als zehn Kinder. Ja... und der da ... das bist du! Jawohl ... aha ... und da ist ja der, der heute nacht mit den Ludwigs gekommen ist... Jawohl! Ach, nun kann ich mir schon einen Vers machen! Ja! Ja! Aber die Bücher... das versteh' ich nicht!«

Er konnte ihre Sprache nun schon verstehen und sah auch ihre gebückte Figur und daß sie wie ein rechte kleine Großmutter aussah, und freute sich, daß es so etwas in Hamburg und gar in einer Wirtschaft gäbe; er hatte gemeint, ganz Hamburg wäre nichts als hohe Häuser, schweres Wagengerassel und große lärmende Menschen ...; aber er konnte noch kein Wort sagen. Also saß er und sah sie an, wie sie der Reihe nach die Bücher aufschlug und die Titel vor sich hinsagte: »Die Goldfelder Australiens ... Niebuhrs Reise durch Arabien ... das ist aber ein altes Buch ... wie'ne alte Bibel... mein Gott, wie altmodisch! Was wollte der Mann denn in Arabien; ich habe noch niemals gehört, daß einer nach Arabien ging ... Die Zukunft der Levante ...Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ... wunderliche Titel ... na, meinetwegen! Die Landwirtschaft Argentiniens ... das Gesangbuch ... das Neue Testament... Schillers Gedichte... Balladen von Uhland ... Was soll er aber damit... mit Gedichten ... und dann noch von einem Uhland! ... Und die andern Bücher? . ..« Sie schüttelte den alten weißen Kopf.

»Ja,« sagte er ... »damit er weiß, wie es da ist.« Und mit heller Angst im Gesicht: »Er kann doch nicht aufs Geratewohl in die Welt laufen!«

»Ach,« sagte die Alte, »warum nicht?« und schüttelte wehmütig den Kopf, »laß ihn laufen! Er kommt wieder oder er kommt nicht wieder!«

»Er muß aber wiederkommen!« sagte er und Tränen stürzten ihm aus den Augen.

»Nun, nun!« sagte die Alte, »du hast ja noch Geschwister genug.«

Er weinte auf: »Das wohl,« sagte er, »aber wir... wir halten so schrecklich viel voneinander ... wir halten zusammen wie Pech und Teer!«

»So!« ... sagte die alte Frau mit stillen, nachdenklichen Augen: »einige so, andere anders. Mein Mann ist über alle Berge ... und meine Kinder kommen nicht mehr zu mir ... ich gab ihnen nicht Geld genug. Ja ... ja! so was gibt es alles im Leben! ... Nun iß man erst mal, daß du einen andern Glauben im Magen bekommst. Ach ja ... iß und sei guten Muts, du bist ja noch jung. Iß nur ... das kostet dir nichts. Deinen Bruder sollst du auch sehen.«

Er aß und sammelte seine Gedanken und hörte nun auch von jenseits des Ganges Lärm und Lachen und Musik, und dachte voller Mitleid: ›Der arme Mensch ... sitzt da mit seiner Not allein in seiner Ecke und muß diese Lustigkeit ansehn!‹ Er stand auf und sah die alte Frau bittend an.

Sie erhob sich langsam und ging mühsam über die Diele und trat an die Tür, schob den Vorhang, der vor dem kleinen Fenster in der Tür war, zurück, sah hinein und sagte: »Kuck, da ist er.«

Er sah hinein und sah da acht oder zehn Mann, Fischer und Seeleute, in schweren Tabakswolken hinter dampfenden Groggläsern um einen runden Tisch sitzen, mitten unter ihnen seinen Bruder Eggert und die beiden Ludwigs. Einige unterhielten sich lachend mit einer großen älteren schwarzhaarigen Kellnerin, zwei verhandelten mit großem Eifer und Lärm eine Streitfrage, einige sangen mit guter Stimme zweistimmig ein Heimwehlied, Bruder Eggert aber saß mit einem Inder oder Mulatten, der unter der offenen, schmutzigen Jacke ein breites rotes schleierartiges Tuch um den Leib trug, auf dem Sofa. Sie saßen Schulter an Schulter, jeder seine Maultrommel in der Hand und stritten sich mit Zeichen, Singen, Trommeln und Lachen über ihre Kunst. Der Mulatte spielte eine Weise, die wie das Stöhnen einer Schubkarre klang, und war offenbar entzückt davon; Bruder Eggert aber schlug vor Vergnügen über die verrückte Musik auf seinen Schenkel und auf den Tisch, daß es krachte.

»Siehst du,« sagte die Alte, »da ist er! Sie gehen in einer Stunde an Bord und feiern Abschied. Du siehst, er ist gar nicht in Not. Soviel ich von der Welt verstehe ... laß ihn seinen Weg gehn!«

»Nein,« sagte er jäh, voll brennendem schönen Eifer: »Ich will mit ihm reden. Nun erst recht!«

Die alte Frau öffnete die Tür und rief: »Du da im Sofa ... ich meine nicht den Gelben ... du! Dein Bruder ist hier und will mit dir reden.«

Eggert war im selben Augenblick, da er es hörte, wieder der eisige. Seine Trinkgesellen sahen die Veränderung und die meisten schwiegen. Er richtete sich steil im Rücken und sagte lässig und gleichgültig von oben herab: »Mag er herkommen.«

Sein Bruder kam heran und setzte sich neben ihn und legte auf den Tisch, was er mitgebracht hatte, und sagte: »Hier sind Bilder, Eggert ... die sollst du gern mitnehmen ... und hier sind einige Bücher.«

Er sah mit schiefen Augen auf die Bilder und schob sie dem Bruder wieder zu. »Ich will nichts davon,« sagte er. Er sah die Bücher, kannte sie und sagte verächtlich: »Was soll ich damit? Ich brauche keine Bücher, ich finde meinen Weg ohne Bücher. Es wäre ja höchstens das Neue Testament ... wegen der Geschichte vom verlorenen Sohn. Deswegen haben sie dich wohl hinter mir herlaufen lassen. Geh mit dem ganzen Kram!«

Da stand einer der Ludwige auf, kam um den Tisch herum, berührte den Knaben am Ärmel und sagte freundlich mit ruhiger Stimme: »Es nützt dir nichts, Reimer, du mußt es aufgeben; dein Vater hat es zu stark mit ihm verdorben. Ihr müßt nun abwarten, ob die Zukunft es wieder in Ordnung bringt.« Er wollte noch mehr sagen, da schrie Eggert, kreideweiß im Gesicht: »Sag' deinem Vater, ich hätte es wirklich getan! Ich wäre der Pfeifer! Ich hätte vom Haus weg wollen, ich hätte den muffigen Geruch zu Hause nicht mehr ertragen können, darum hätte ich es getan! Daß er stolz ist! Daß er recht gehabt hat, und als ein wahrhafter Mann in die Grube fährt!«

Der Knabe richtete sich auf und sagte, indem ein schönes Leuchten über sein Gesicht ging: »Bruder ... unser Vater hat sich geirrt ... jeder Mensch kann irren ... Bedenke ...« Sein Gesicht war voller Zutrauen und Lust, zu werben, zu gewinnen, des Bruders Seele zu erobern. Er war daran, zum erstenmal in seinem Leben, einen Menschen zu bilden, eine Seele zu überwinden.

Aber der Sinnlose sprang auf und stand mit rasender Gebärde vor ihm und hob die Hand, ihn zu schlagen. Als der Knabe aber stehen blieb und ihn mit diesen reinen guten Augen ansah, als wollte er sagen: ›Tu' es, Bruder! Vielleicht hilft es dir und löst deinen Zorn!‹ schrie er in sinnloser Wut: »Scher' dich! Weg mit dir!« und wies nach der Tür.

Da führte der junge Ludwig den Aufweinenden aus der Stube wieder zu der Alten, versuchte ihn zu trösten und sagte freundlich: »Du mußt es nicht glauben, was er sagt ... er verstellt sich jetzt in allem, was er tut und redet. Sag' deiner Mutter, daß wir alles getan haben und noch in dieser Stunde tun, daß er uns später mal schreibt. Wir machen das so in unserer Weise, so von achtern, ohne daß er es merkt und wild wird. Von euch will er nun vorläufig nichts wissen ... Geh nur ... fahr wieder nach Haus. Es war unpraktisch, daß du kamst. Auf diese Weise wird es nur immer schlimmer. Geh nur ... dein Paket bring' ich dir wieder mit.«

Die alte Frau sah ihn mit stillen, ruhigen Augen an ... »Du mußt ihn reisen lassen,« sagte sie. »Das Reisen, das Weitfortlaufen ... einerlei, wohin ... das ist nun das beste für ihn. Kennst du das nicht auch ein wenig? Bist du nicht auch so aufs Geratewohl von Hause weg gegangen ... ich kenne doch deine Gegend ... nach der Geest hinauf ... und dann immer so weiter ... und du warst toll von Erwartung, ob da nun ein Berg von Glas käme oder ein Loch in der Erde mit einer dicken Kröte, die wahrsagen konnte?«

»Ja,« sagte er altklug, mit hochmütiger Sicherheit: »Als ich ein Kind war, da dachte ich so!«

»Ja,« sagte sie, »viele bleiben bis zu fünfundzwanzig, und viele bleiben zeitlebens Kinder. Immer drauf los ... ohne Gedanken ... ohne nach einem Wegweiser zu sehen! Laß ihn reisen! ... du hältst ihn nicht auf ... und wein' nicht so.«

Sie wollte ihn zurückhalten, daß er noch ruhte und äße. Er aber dachte nun, da er mit seiner Aufgabe hier zu Ende war, an die Sorge, die sie zu Hause um ihn hatten. Er dankte der alten Frau und lief nach dem Bahnhof zurück.

Unterdes war daheim auf dem Hof am Deich große Unruh um ihn. Harm der Zimmermann war am Morgen in seine Kammer gekommen, hatte zu seinem Schreck sein Bett unberührt gefunden, war sofort auf den Gedanken gekommen, daß er hinter dem Geflohenen her wäre, war zu den Ludwigs und von da nach dem Bahnhof gegangen, und hatte so erfahren, daß es war, wie er sich's gedacht hatte.

Als er nach Haus zurückkam und in die Küche trat, fand er seine Mutter vor dem Herd stehend, den Kopf zwischen den Händen. Es war noch ganz früh am Tag und in der großen, niedrigen Küche noch fast dunkel. Das Feuer warf den Schatten ihrer großen Gestalt, die im Weinen zuckte, gegen die dunklen Balken. Sie sah ihn mit verzweifelten Augen an und sagte: »Ich weiß schon: der eine ist über alle Berge und der andere liegt irgendwo im Wasser.«

»Ach, Mutter!!« sagte er, »rede doch nicht so was! Deine Kinder gehen nicht ins Wasser ... sie haben alle zuviel von deiner Art. Ja ... Vater ... der könnte es tun ... aber wir, deine Kinder, nicht. Eggert, statt ins Wasser zu gehen, ist unterwegs, um auf den höchsten Berg zu klettern und den Goldklumpen herunter zu holen, der da liegen soll, und dann nach Jahren, hinten und vorn vergoldet, wieder zu kommen und vor seinem Vater und seinem ganzen Kirchspiel zu prahlen: ›seht, was ich für ein Mensch bin!‹ Und Reimer ist nach Hamburg gefahren, um seinem Bruder noch einmal ins Herz zu reden und ihm Bücher zu bringen, aus denen er die Welt kennen lernen soll. Denn er kennt die Welt und kennt die Seelen, sagt er! Er kann damit machen, was er will, sagt er! Andere, sagt er, kennen sie nicht, er allein kennt sie! Vielleicht macht er nachher noch einen Abstecher nach Berlin, um zu versuchen, ob er dem Kaiser eine Zacke von seiner Krone abschwatzen kann. Denn er kann alles und zwar besser als andere Leute ... Und das hat er von dir.«

Da wurde sie stiller und ging zu Emma, die in der Milchkammer arbeitete, und auch zu ihrem Mann, der im Stall war, und sagte ihnen, wo Reimer wäre. Dann gingen sie alle ihrer Tagesarbeit nach. Sie waren aber alle in großer Angst um den Knaben. Die Mutter stand am Fenster in der Küche und spähte nach dem Weg, der zu dem kleinen Bahnhof führte, und nach der Straße hinaus, die von der Stadt kam; und wenn sie hinaustrat, um deutlicher zu sehen, sah sie ihren Mann an der Ecke des Hofs stehen und in dieselbe Richtung starren. Er stand da ohne Mühe, ohne die er sonst nie das Haus verließ; der Wind spielte mit seinem dünnen ergrauten Haar. Sie stand lange und sah nach ihm hinüber, in ihren grauen Augen ein Gemisch von Haß, Ehrfurcht und heißer Liebe. Dann ging sie wieder an den Herd. Harm war in die Stadt und zur Arbeit gefahren. Abends kam er wieder.

Bald nach ihm kam auch Reimer. Er ging nicht in die Stube, wo der Vater und Emma waren, sondern ging in die Küche, wo seine Mutter und Harm waren, und setzte sich müde und bedrückt auf die Wasserbank und erzählte, wie er ihn getroffen und was er gesagt hatte. Seine Niederlage verschwieg er – es war ihm zu beschämend, sie zu gestehen –; er tat so, als wenn Eggert ihn überhaupt nicht hatte zu Wort kommen lassen. Als er fertig war, lehnte er den Kopf auf den Tisch und weinte.

Die Mutter, da sie den auf der Wasserbank in Sicherheit wußte, war mit all ihren Gedanken bei dem andern und sah ihn so ... so zornig und sinnlos in die Welt laufen, und Zorn und Kummer schlugen über ihr zusammen und sie sagte jäh, mit bösem Gesicht: »Euer Vater hat mir meinen Jungen ganz verrückt gemacht ... und er ... er selbst ...« und sie wollte ein arges Wort sagen; denn es vertrug sich durchaus in ihr, daß sie ihren Mann über alles liebte und ihm danach zuweilen bitterlich gram war. Ihre Liebe war die des Blutes und nicht des Geistes. Gegen seinen Geist hatte sie oft gehadert.

Aber Harm kam ihr zuvor und sagte klar und hart: »Still, Mutter! Wenn du so etwas sagen mußt, so sage es vor dir allein und nicht vor den Ohren deiner Kinder! ... Und nun will ich euch beiden mal etwas sagen ... was ich mir heute bei der Arbeit und auf dem Weg so ausgedacht habe ... Hört mich an! ... Was ist uns in diesem Winter passiert? Da ist zuerst das Pfeifen! Wir wissen nicht, was es gewesen ist ... Ein Tier ... ein Windstoß? Kaum möglich ... Eggert? Nein ... er kann wohl Faxen machen und ist ein Schelm ... aber es fehlt ihm das Rasche und die Schläue, die zu solchem Stück gehört; auch hätte er sich, nachdem Emma davon zusammenbrach, ganz anders benommen ... Die Ludwigs oder sonst jemand vom Dorf? Aber wie sollten die so flink und ungesehen über das leere Feld zurückkommen und warum sollten sie es tun? Das Mädchen? Unmöglich! ... Da es nun feststeht, daß es irgendwie und zwar natürlich zugegangen ist ... denn an Hexen glauben wir nicht ... so bleibt der Knecht. Ich sage, der Knecht hat es getan! Aber warum hat er es getan? Aus Bosheit? Ich glaube nicht – ein schlechter Mensch war er nicht. Aus purer Lust am Unfugmachen? Das scheint mir auch nicht. Ich will es euch sagen! Ich will sagen: es könnte ihn irgend etwas in unserem Hause geärgert oder gereizt haben ... irgend etwas ... und das könnte ihn dazu getrieben haben. Und was wäre das? Was konnte diesen fremden Menschen kränken und reizen, daß er dies Stück aufführte, das nun als Elend über uns gekommen ist?! Darüber habe ich nachgedacht. Ich habe heute zum erstenmal in meinem Leben versucht, unser Haus und uns alle mit den Augen eines fremden Menschen, der von draußen hereinkommt, anzusehn. Was konnte ihn ärgern, und zwar mit Recht? ... Und da will ich euch nun dies sagen: Seht, da ist der Vater: wie ist er verschlossen, wie still für sich! Keiner kennt ihn! Wir Kinder ... wir ahnen ihn nur. Du selbst, Mutter ... ich sehe es oft an dem Blick, mit dem du ihn ansiehst: Du fragst immer noch an ihm und rätselst. Reden, sich aussprechen, sich in Unterhaltung mischen, wohl gar lebhaft werden: das ist für ihn, was für einen ungeschickten Menschen das Glatteis ist. Ich weiß wohl, daß er im ganzen und großen unschuldig an diesem seinem Wesen ist. Seine Vorfahren haben alle auf einsamen Höfen gearbeitet und ein jeder ging einsam hinter seinem Pflug. Gut! Es ist alles natürlich, und es ist alles so wahr. Aber welchen Eindruck hat ein Fremder davon?! Einer, der aus einem lebhafteren Volk kommt und selbst ein heiterer, gedanken- und redefertiger Mensch ist?! Er hat den Eindruck: ›Warum ist der Mensch so gefroren? Was hat er? Was ziert er sich? Was stellt er sich an? Ist er hochmütig? Ist er stolz? Sind die Menschen nicht gut genug für ihn?‹ Sieh, so mochte der Knecht wohl denken! Und weiter: Da bist du ... Du! du bist eine gute Frau und Mutter; du bist sogar sehr gut! Aber du bist zu stolz auf Mann und Kinder. Obgleich du zuweilen tüchtig auf uns schiltst ... weil du uns nämlich noch länger, noch stolzer, noch klüger wünschst ... du bist doch überzeugt, daß keine Frau einen solchen großen, ruhigen und ernsten Mann hat und so kluge und tüchtige Kinder, wie du. Den Wert anderer Familien, anderer Kinder siehst du nicht; dein Urteil ist rasch, und meist ist es hochfahrig, und oft ist es hart. Diese deine Art sah der Knecht und dachte: ›Was fällt der Frau ein? Was hat sie? Meint sie, daß andere Mütter nicht auch wackere, kluge Kinder haben? Was fällt ihr ein? Ist ihr Geschlecht ein Volk von Habichten ... sind nicht auch Sperlinge darunter, sind sie nicht vielleicht alle Sperlinge?‹ Weiter ... da sind wir Kinder! Wie hoch denken wir von diesem Hof, von diesem Haus, von unseren Eltern, von unseren Geschwistern! Fremde Menschen? Die brauchen wir nicht! Wir gehn nicht zu ihnen; sie mögen zu uns kommen! Wenn wir aber mal mit ihnen zusammenkommen, so haben wir Sorge ... besonders du, Mutter ... ob wir auch mit reinen Ellbogen nach Hause kommen ... Sieh, so ist es! So ist unsere Art! Und das konnte ein kluger Fremder wohl bald erkennen, und es konnte ihn wohl reizen, uns einen Tort anzutun und einen Stoß zu geben, daß wir davon erwachten, unsern Stolz ein wenig zu erschüttern, daß wir zu einer neuen Erkenntnis kämen. Und so glaube ich denn, daß der Knecht der Pfeifer gewesen ist. Daß sein kleiner Stoß sich so schlimm, so heftig, ja so verderblich auswirken würde, so wie ein Steinwurf ins Wasser Welle auf Welle fortwirkt: Emma dauernd krank, Eggert beschuldigt und in der weiten Welt, unsere ganze Familie verstört ... das hat der Lump, der kecke Hanswurst, nicht bedacht und nicht gewollt ... Wir aber, Mutter, wir müssen, was er böse gemacht hat, zum Guten wenden! Ich sage euch: wir müssen danach trachten, daß wir gerechter und freundlicher gegen die Menschen sind, auch mitteilsamer! Bring' Vater unter die Menschen, Mutter! Laß deine Kinder zu anderen Kindern laufen als zu ihres gleichen! Greif nicht gleich an dein rotblondes Haar, als wenn du es raufen willst, wenn sie mal einen unfeinen Ausdruck oder gar ein Läuschen mit nach Hause bringen! Kurz, laß uns zutraulicher, freundlicher, mitteilsamer, neugieriger, respektvoller zu anderer Menschen Leben und Weise werden!«

So redete er. Es kommt für einen jeden Menschen, der sich voll auswächst, der Tag, wo er den Eltern gleich wird, und danach der, wo er ihr Führer wird und vielleicht der Führer der Geschwister. Für Harm kam dieser Tag früh. Sein Vater hörte schon seit Jahr und Tag auf ihn; es war ihm ein angenehmes Gefühl, eine Empfindung von leiser Sicherheit, wenn er ihm zuhörte. Seine große Mutter geriet an diesem Tag unter seine Führung. Sie saß auf dem Herd, die Augen fragend auf seinem Gesicht, hielt die Hände im Schoß und sagte kein Wort. Sein Bruder Reimer sah mit klugen, ernsten Augen zu ihm auf. Unter seinen Geschwistern war er schon seit Jahr und Tag der Häuptling gewesen.

Sie saßen noch lange beieinander und beredeten noch, daß sie unter sich nun diesen Glauben haben wollten, daß der Knecht es getan; und sie wollten es auch den Kleinen wenigstens andeuten, damit sie denn also sicher wären, daß die unheimliche Begebenheit sich nicht wiederholen würde. Auch dem Vater wollten sie ihren Glauben mitteilen, aber mit besonderer Vorsicht und nur als eine unsichere Meinung; denn dem Vater würde die klare Erkenntnis, daß er seinen Sohn falsch beschuldigt hätte, fast zur Verzweiflung bringen. Emma aber wollten sie nichts sagen und auch den andern verbieten, es ihr zu sagen. Sie betrachtete und streichelte mit Augen und Händen das kleine goldene Herz, das der Knecht ihr geschenkt, und dieser Glaube und diese Freude sollte der so Stillen und Traurigen nicht verstört werden.

Als es Nachtzeit war und sie auseinander gingen, sagte Harm in der Kammer zu Reimer: »Ich gehe ja nun in acht Tagen nach Kiel und kann also nicht mehr wöchentlich nach Hause kommen und nach den Rechten sehen, und Eggeit ist weg. So geht es nun nicht an, Reimer, daß du schon diese Ostern aufs Präparandeum gehst. Es geht nicht anders: du mußt noch ein Jahr beim Hause bleiben, damit Vater, nachdem Eggert weg ist, doch eine kleine Hilfe an dir hat, nicht allein bei der Arbeit, sondern auch, um seine Not mit zu tragen und ihn zu ermuntern. Denn wenn er trübsinnig würde oder in Verzweiflung fiele, das wäre über die Maßen schrecklich. Es muß auch jemand hier sein, der mir ordentlich Nachricht schickt, wie es mit jedem einzelnen und mit allen geht und steht; denn mit Mutters Briefen ist es nichts.«

Der kleine Reimer sah ihn mit seinen hübschen, klugen Augen still an und sagte: »Das habe ich mir alles genau so gedacht ... merkwürdig ... genau so, wie du es sagst! Ich dachte mir, daß du genau so denken und zu mir sagen würdest. Merkwürdig, wie genau ich immer weiß, wie es in einem anderen Menschen aussieht!«

 


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