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22. Kapitel

Die Heilung des Zimmermanns

Eines Tages erzählte Harm Ott dem Zimmermann, um ihm Vertrauen und Vertraulichkeit zu zeigen, und um seinem Bruder zu dienen, die Geschichte von Eggert, und wie sie, die Brüder, um ihn würben, daß er sich wieder mit dem Elternhaus und der Heimat vertrüge, und bat ihn, freundlich mit ihm zu sein, aber auch vorsichtig, damit er nichts verdürbe. »Du bist ja ein ruhiger Mensch,« sagte er, »wenn du in deiner Weise ihm Widerspruch tust, glaubt er dir; uns glaubt er nicht.«

Der Zimmermann versprach es, und es schien, als wenn er in dieser Sache nicht allein, wie an allen andern Dingen, ein spielerisches, sondern ein herzliches und persönliches Interesse hätte. Er war nun meistens mit dabei, wenn sie vier oder fünf Mann stark den Landurlaub verbrachten. Erst spazierten sie eine Stunde, dann saßen sie eine Weile im Banter Bürgergarten und dann gingen sie zuweilen noch weiter hinaus, wo in einem niedrigen kleinen Saal noch einige Dutzend Mädchen bereit waren, zu tanzen. Draußen auf dem Deich und in den Straßen der Stadt sprachen sie meistens von Heimat und Fremde, ihren Einrichtungen und Gewohnheiten; im Wirtshaus, wo der Zimmermann meistens Bekannte traf – denn er hatte wegen seiner vielen Fahrten und seines offnen Wesens viele Bekannte; ja, er war wohl der Mann, der in ganz Wilhelmshaven die meisten Bekannten hatte – sprachen sie über allerlei Menschen und Menschenschicksale.

Was der Zimmermann aber auch immer plauderte: was für Gegenden stiegen da auf aus allen Meeren! Was für Schiffe trieben da über die wilde, weite See! Welche Naturen und welche Schicksale wurden da vor ihre Augen hingestellt! Wie neugierig waren die drei Brüder, wenn er anhub zu erzählen; denn sie waren alle drei gleicherweise nach dem Menschenleben, das zum besten Teil noch vor ihnen lag, begierig! Wie horchte Harm Ott und verarbeitete es in seiner tüchtigen, männlichen Seele; wie nahm er alles praktisch; wie wandte er es immer auf sein Leben an, und maß es am eignen Kennen und Wollen, und bewahrte es für die Zukunft! Wie vergaß der wilde Eggert, daß er in der Gegenwart der Brüder fremde, kalte Augen machte: wie leuchteten seine Augen, wenn er von Treue und allem Edlen hörte; wie biß er die Zähne zusammen, wenn ein Unrecht geschah und ungesühnt blieb! Wie brannten die Augen dem jungen Reimer, die sowieso schon Feuer genug hatten: welche Wunderdinge horte er; wie war er bei der Sache! Wie wußte er alles, und wie konnte er erklären, und erklärte hitzig, was der Zimmermann unerklärt gelassen oder mißachtet hatte, wie listig schlich er sich hinter die Seelen, und erklärte, was in ihren Tiefen vorgegangen war! Denn was in der Tiefe der Seelen vorging, das wußte er ja! Das ... wie er heimlich bei sich prahlte ... hatte ihm Gott gesagt!

Es war da besonders ein kleiner Mensch, ein Bayer, den seine Bekannten den Italiener, oder, wohl wegen seines großen Kopfes und seiner breiten Nase, Michelangelo nannten; der hatte viele Fahrten mit dem Zimmermann zusammen gemacht. Wenn der da war, und die beiden abwechselnd von den gemeinsamen Erlebnissen erzählten oder von dem, was sie von manchem fremden Menschenleben zu hören bekommen hatten, der Italiener beständig lächelnd, die Hände ausgebreitet, der Zimmermann ruhig zurückgelehnt, ihn genau beobachtend und dies und jenes richtigstellend und zuletzt das Ganze beurteilend: das waren Stunden, die vergingen, ›als flögen sie davon.‹

Danach, in dem kleinen Saal, sprachen sie über Mädchen und Mädchengeschichten und über glückliche und unglückliche Ehen; oder sie sprachen über Eggert Ott. Und zuerst redeten sie immer wieder darüber, wie schön er tanze! Denn es war wirklich ein Wunder Gottes, selbst für seine Brüder, ihren Bruder Eggert, den sie heimlich niemals anders als Rode Praß nannten, tanzen zu sehn. Die linke Schulter etwas hoch, wodurch er noch breiter schien als er war und seine hohe Figur so etwas kraftvoll Stolzes bekam, hob er bei jedem Auftakt der Musik mit einer schwungvollen Bewegung den schönen Kopf und suchte mit raschen, scharfen Augen die Straße, die er ziehn wollte, und zog sie dann mit wundervollem Schwung. Wie das Mädchen in seinem Arm eine Feder war, ein Garnichts! Wie er auf sie herabsah, so sicher, so selbstverständlich, so herrisch, und doch gütig und freundlich! Ja, es war eine Freude, Eggert Ott tanzen zu sehn; und es geschah nicht selten, besonders zu Anfang, wenn der Saal noch nicht voll war, daß alle, die da waren, Augen und Atem anhielten, um ihn tanzen zu sehn.

Aber es war ein Leider bei der Sache! Eggert Ott wählte nicht richtig unter den Mädchen! Nicht, daß er eine Häßliche oder eine Schlampige nahm. Er wußte genau, was hübsch und geschmeidig war, ob nun füllig oder hager, und was sauber oder unsauber war. Aber er kümmerte sich nicht um den Charakter des Mädchens! Er tanzte am meisten und am liebsten mit einem Mädchen, das in einem Gasthof angestellt war und keinen guten Ruf hatte. Und er tanzte offenbar nicht nur mit ihr, weil sie schön war und gut tanzte, sondern weil ihm auch ihre Sprache, ihre Unterhaltung, ihre Seele gefiel! Kurz, sie waren während des Tanzes und in den Pausen wie einige, verlobte Leute. Und es gab kein schöneres Paar auf allen Tanzböden in Wilhelmshaven; aber es gab leider auch kein wilderes, und keines, das verwegener tanzte und sich feuriger ansah. Wahrhaftig, es war ein Genuß, sie zu sehen! Allein schon diese Zusammenstellung der Farben! Dieser rötliche Mensch mit dieser Pechschwarzen! Und wie sie mit ihren gesunden, weißen Zähnen lachten ... Gott mochte wissen, über welche Dinge!

Die Brüder waren sowieso schon in täglicher, ständiger Not um Rode Praß, daß er sich irgendwie gegen einen Vorgesetzten versähe, oder mit einem Kameraden in Streit käme! Nun kam dies dazu. Harm zuckt die Schultern. Es war ihm völlig unerklärlich, wie ein Mensch sich nicht an das Tüchtige, Gutbürgerliche hielte. Er selbst tanzte nicht viel, und wenn er es tat, nur mit einem Mädchen, die ihm ehrenwerte Bekannte als anständig und ordentlich empfohlen hatten. Der junge Reimer war tief bekümmert. Er selbst tanzte nicht; er saß mit einem allzuernsten Gesicht, mit einem weltfremden Schein in den jungen Augen, da. Wie konnte er, der eine kleine, heilige Liebste hatte, ein andres Mädchen in den Arm nehmen?! Er fand das große, schmale, dunkle Mädchen durchaus schön, und begriff seinen Bruder soweit wohl. Aber seine Phantasie, die immer bildete, malte ihm vor, daß sie irgendwie eine schlimme oder verwegene Vergangenheit hätte, etwa einen verbrecherischen Vater, von dem sie ausgeschickt wäre, für schwarze Unternehmungen den Helfer zu suchen, oder etwa einen Liebsten, der nun nächstens mit einem großen Auftritt erscheinen und Rechenschaft fordern würde, oder daß sie eine Spionin wäre und einen bösen Plan mit Bruder Eggert hätte. Sie erschien ihm durchaus wie ein Wunder, und also fand sie durchaus Gnade vor seinen Augen; aber er fürchtete, daß sie ein dunkles Wunder wäre.

Die Brüder dachten eine Zeit – und das war ihr Trost – daß Bruder Eggert sich so weit mit jenem Mädchen einließe, weil er ihnen damit seinen Trotz, seinen Eigensinn, seine Nichtachtung der Familie zeigen wolle. Als es aber Abend für Abend so weiter ging, wurden sie ernstlich bedrückt, zumal auch der Zimmermann in ihre Sorge einstimmte. Es war nötig, meint er, daß sie es ihm sagten, daß sie ein ernstes Wort mit ihm sprächen; so gefährlich es auch wäre, ihm an den Wagen zu kommen.

Als er nun eines Abends wieder von einem Tanz mit ihr an den Tisch zurückkam, wo sie mit dem Zimmermann und dem Italiener und andern Bekannten saßen, sah ihn Reimer mit seinen guten, jungen Augen an und sagte mit Herzklopfen: »Du solltest wirklich nicht mit dem Mädchen tanzen.«

Er fuhr auf, als hätte er darauf gewartet, warf die Schulter hoch und fragte gleichmütig: »Und warum nicht?«

»Weil sie nicht rein ist.«

Er fuhr noch mehr auf; man merkte, wie er an sich halten mußte, um den Stuhl nicht zu zerschmettern, den er gefaßt hatte. »Nein?!« sagte er, »rein? Was ist rein in der Welt?« Er war gleich wieder in seinem wilden Gram, und wollte sagen: ›Wo bin ich schmutzig geworden? Wer hat mich schmutzig gemacht? War es nicht mein eigner Vater?‹

Der junge Reimer erschrak und preßte die Lippen zusammen und wußte nicht, was er weiter sagen sollte. Er war immer so groß und sicher, wenn er in einer Vorstellung, einem Bilde war; wurde es ihm aber durch ein rasches Wort zerschlagen, dann war er verwirrt. Unsicher murmelte er ... er sprach vom Vater ... »Es war im Grunde nichts andres als Liebe, Eggert ... nichts als Liebe.«

»Liebe?!« sagte er mit wildem Zorne; und die ganze Fülle seiner kranken Seele brach heraus: »Liebe?! Eine schöne Sorte Liebe ... Halt' deinen Mund!«

Harm Ott merkte, daß da nichts zu machen wäre. Es war auch peinlich für die andern. Also stand er auf und sagt«: »Komm, wir wollen gehn, Reimer!«

Und zum Zimmermann gewandt, sagte er: »Wir wollen noch eine Stunde im Vorgarten sitzen.«

Da gingen sie alle, die mit am Tisch saßen, auch Eggert, der starr und böse vor sich hin sah.

Als sie die Wirtsstube des Bürgergarten betraten, saß da in der hintersten Ecke, über eine Zeitung gebeugt, ein alter Bekannter des Zimmermanns und des Italieners. Es war der Kapitän Bosselmann, ein großer, schwerer Mann von etwa vierzig Jahren, sonst Segelschiffskapitän, jetzt Steuermann auf einem alten Torpedoboot, das als Verkehrsboot im Hafen diente. Der Zimmermann und der Italiener hatten vor sieben oder acht Jahren unter diesem Kapitän Bosselmann eine schwere Fahrt mitgemacht, die mit der Explosion und dem Untergang des Schiffes geendet hatte und derzeit in Seemannskreisen viel beredet wurde. Seit jener Zeit hatten sie den Kapitän jahrelang nicht gesehn. Nun aber, in diesem letzten Jahr, hatten sie ihn dann und wann in dieser Wirtschaft wiedergesehn; und hatten sich auch schon in einer kurzen Unterhaltung der gemeinsamen Not erinnert. Dieser saß nun also wieder da in seiner Ecke, sah auf, und erkannte unter den Eintretenden seine beiden alten Matrosen, erwiderte stumm und ernst ihren militärischen Gruß und beugte sich wieder über seine Zeitung.

Als sie da nun saßen, versuchten Harm Ott und der Zimmermann eine gemütliche Unterhaltung zustande zu bringen. Aber die kühle, lässige Art des Zimmermanns, die sonst so gut tat, wollte in dieser erregten Stimmung nicht einschlagen. Eggert machte ein Gesicht, als wenn er alles in den Grund schlagen wollte, und der junge Reimer war blaß und still. Und das quälte wieder die Brüder; ja, es quälte auch Eggert. Es tat ihm in der Tiefe der Seele jammerleid, daß sein junger Bruder so traurig da saß. Aber was rührte er an seine wilde Wunde?! Und so war eine peinliche Stimmung am Tisch. Jeder wollte gern helfen und wußte nicht wie. Der Zimmermann war aber auch nicht ganz bei der Sache. Er hatte sich so gesetzt, daß er, wenn er nur ein wenig den Kopf wandte, den Kapitän Bosselmann sehen konnte; und er sah oft zu ihm hinüber; und seine Gedanken waren offenbar mehr bei ihm als bei den Brüdern.

Da wollte der Italiener, dem Reimers Gesicht leid tat, die Sache retten, und fing an, den Zimmermann zu necken, und sagte: »Es ist ganz merkwürdig, Zimmermann, mit welchen Augen du den Käp'tn Bosselmann ansiehst, grade so ... ja ... wie soll ich sagen ... als wenn du ein schlechtes Gewissen gegen ihn hast. Es ist mir schon immer aufgefallen. Sag' doch mal: was habt ihr miteinander gehabt, was ich nicht weiß?«

Der Zimmermann runzelte die Stirn und sagte gegen seine sonst sehr gleichmütige Weise unwillig: »Ich mit Käp'tn Bosselmann? Nichts weiter, als was du weißt! Ich mag ihn nicht, das ist es! Er ist mir irgendwie unangenehm. Das geht ja dem Menschen so, daß der eine ihm angenehm ist, der andere nicht.«

»So,« sagte der Italiener verwunderter ... »Du magst ihn nicht? Aber warum gingst du denn nachher doch wieder auf sein Schiff? Es scheint mir im Gegenteil, daß du ihn gern hast, ja, daß du ihn nicht recht entbehren kannst! Auch jetzt hast du dich wieder so hingesetzt, daß du ihn sehn kannst; und das tust du jedesmal, wenn er da in seiner Ecke sitzt, und die Augsburger Zeitung liest; denn er ist von Augsburg oder da herum, und katholisch.«

Der junge Reimer verstand, daß der Italiener helfen wollte, und war auch sofort neugierig, da er da etwas Seelisches witterte. Alles Seelische war für ihn, was für den Jagdhund das Such' ... Such' des Jägers. Er war immer auf der Suche nach Menschenerlebnissen. »Das hast du dem Zimmermann schon mal gesagt, Michelangelo,« sagte er; »und der Zimmermann ließ sich das gefallen, wie jetzt; aber inwendig knurrt er doch. Du solltest der Sache doch einmal auf den Grund gehn, Zimmermann! Ich meine ... in dir selbst! Irgend etwas ist da nicht in Ordnung.«

Der Zimmermann lehnte sich zurück und sagte in seiner ruhigen Weise lächelnd: »Nicht in Ordnung? Bei mir ist alles in Ordnung.«

»Dann erzähle mal, aber gründlich!« sagte Bruder Reimer hitzig.

Der Zimmermann, bequem zurückgelehnt, wollte anfangen zu erzählen. Der Italiener, die Hände weit vor sich auf dem Tisch, dunkel und klein, von unten heraufsehend, sprang ihm mit seinen dunklen Augen an, daß er nichts unterschlüge. Der Zimmermann sah ihn an und sagte: »Erzähl' du!«

Aber der Italiener, der wußte, daß er vor lauter Eifer und Widerspruch nicht ruhig erzählen könnte, sagte kurz und herausfordernd: »Bitte ... Du! ... Du bist dran!«

Da fing der Zimmermann lächelnd und ruhig an, froh, bei seinem geliebten, spieligen Plaudern zu sein.

Kapitän Bosselmann war fortgegangen. Allmählich standen zwanzig Mann um den Tisch und hörten atemlos zu.

»Hört also!« sagte der Zimmermann. »Wir beide, Michelangelo und ich, hatten also – es sind ungefähr zehn Jahre her – auf der Dreimasterbark »Gesine« von Hamburg angemustert, und hatten bei etwas unruhiger See, aber gutem Wetter, Leith verlassen, und segelten bei schwachem Wind ungefähr in der Höhe von Sunderland. Land war nicht zu sehn. Ich stehe gerade am Ruder, und der Steuermann neben mir, und wir sprechen von unserer Ladung – Kohlen, und Pulver in Kisten – und rede darüber, daß uns die Kohlen das schöne Schiff so schwarz gemacht haben, und wozu all das Pulver dient, das immerfort über alle Meere geschleppt wird, obgleich nirgends Krieg ist ... genau in dem Augenblick müssen die Kohlen unter uns entweder heiß oder verrückt geworden sein ... im selben Augenblick muß auch das Pulver angesteckt worden sein ... genug: wie und wodurch es gekommen ist: es geht plötzlich eine furchtbare Gewalt durch das ganze Schiff ... es kracht und bricht und berstet ... und dann geht das ganze Mittelschiff, mit Masten und Rettungsbooten, und mit allem, was drunten im Raum ist, in die Höhe, hinauf in die Luft! Ich sage euch: die Augen, die wir machten ... als wir wieder auf den Beinen standen ... und dieser Rauch, dick und schwarz wie Blei, in dem wir um Atem kämpften! Und wie der schwarze Staub sich etwas verzog, und wir uns schwarz wie Neger sahen! Und vor uns in der Tiefe nichts als dicker, schwarzer Kohlenstaub, und drüben, auf der andern Seite des Abgrunds, auf der Back, noch drei Matrosen ... die übrigen waren mit in die Höhe gegangen, tot und zerrissen! Und in dem ungeheueren, leeren Raum vor uns, in der Tiefe, palschte in zwei Strömen, dick wie zwei Männer, das blanke Wasser und wurde im Nu schwarzer Kohlenbrei. Da standen wir ... und das Schiff sank! Und weit und breit nichts weiter, als hier und da am Horizont eine dünne Rauchwolke, nicht mehr als von einer kleinen Pfeife.

»Der Alte, der sonst doch immer tat – das weißt du – als wenn er auf alles gefaßt war, der immer, wenn was Merkwürdiges vorfiel, mit seinem dummen: ›Das habe ich just so gedacht!‹ bei der Hand war, sagte wohl zehn Minuten gar nichts. Dann bekam er die Stimme wieder, und rief denen nach vorn zu, sie sollten ihre Korkwesten nehmen und über Bord gehn und sehn, daß sie eine Rahe erreichten, die ungefähr hundert Meter im Wasser trieb. Dann gab er dem Jungen und dem Koch die beiden Rettungsringe, und zeigte Michelangelo und mir die Gräting, und trieb uns an, daß wir uns fortmachten. Wir hatten jeder seinen Trost eben unterm Arm, da lag das Schiff auch schon so tief, daß das Wasser nur noch vier oder fünf Fuß vom Deck war. Da stieß er den Jungen, der nicht recht wollte, mit einem Stoß über Bord, und machte nach See zu eine Handbewegung, als wenn er auch gegen uns handgreiflich werden wollte, da sprangen wir hinterher, und machten, jeder auf eigne Faust, daß wir uns vom Schiff fortwühlten, um das es schon gurgelte und sog. Als wir uns umsahen, hob es sich gerade vorn, und lag einen Augenblick, wie ein Pferd auf den Hinterbeinen; dann sank es zurück und verschwand.

»Ich sage euch, als es wegsank ... als es nicht mehr da war, da fing unsre Not an! Da waren wir erst verlassen! Die drei von der Back trieben an einer Rahe; die andern zerstreut hier und da. Der Italiener war von mir abgekommen; und ich war gleich von Anfang an etwas zur Seite getrieben und schlug mich mit einem Holzstück herum, das für meine Armlänge zu breit war, und sah auf jeder Welle, auf die ich trieb, in die Ferne, und dachte: Herrgott ... man muß doch gesehn haben, baß dreitausend Tons Kohlen in die Luft gingen?! War es nicht eine Wolke so groß wie England? Schoß nicht der Mast mit einem Knall gegen Gottes Stuhl? Natürlich haben sie uns gesehn! Und kommen, und holen uns aus dem Wasser!

»Und dann kam auch einer! Ich meinte, er wäre noch weit weg, und sähe uns nicht. Aber da fuhr er schon gerade auf uns zu, und ich hörte die Stimmen. Es war ein kleiner, breiter Fischdampfer, so einer von der Doggerbank. Von jeder Wellenhöhe, die ich hinaufkam, übersah ich sein ganzes Deck. Er fischte erst die an der Spiere herauf, dann die vier um den Mast, darunter den Kapitän. Ich sah deutlich, wie der Junge in den Knien lag, und einen der Leute um den Leib faßte, als wenn das Deck ihm noch nicht fest genug war, und dachte noch: der hat vom Seefahren genug und wird Schuster! Da sah ich plötzlich, wie sie sich alle umsahn, und, wie es die Marktschreier von ihrem Tisch herab tun, laut übers Wasser riefen... nach allen Seiten. Da wurden mir die Glieder im kalten Wasser steif und die Augen weit; denn ich merkte, daß sie mich nicht sahen! Da schrie ich aus allen Leibeskräften! Aber sie hörten mich nicht, und sahen nicht, daß der Strom mich von ihnen wegtrieb. Ihre Schraube setzte wieder an ... Die andern Geretteten... ich sah es... gingen unter Deck... Nur der Alte stand noch da.

»Er stand ganz allein ... Na ... du kennst ihn ja ... und ihr andern habt ihn ja zuweilen über seiner Zeitung da sitzen sehn... so ein bißchen töfflig stand er da... ich weiß nicht, wir haben oft darüber gesprochen, ob er X- oder K-Beine hat ... oder was es sonst ist ... genug er steht nicht ordentlich stramm und gerade wie andre Leute... So stand er da, bald das Glas vor den Augen, bald ohne Glas, und suchte, und sah sich um. Und ich sah so an seiner Haltung, wie er sich besann, ob sie alle gerettet wären, und wie er deswegen mächtig nachdachte . .. Und da ... Kinder ... als ich ihn da so stehn sah... an der niedrigen Reling, weit nach vorn gebeugt, als wollte er mit seinen Augen dem, der noch zu fehlen schien, näher kommen, da schrie ich in meiner Angst noch einmal. Und zwar schrie ich das Wort, mit dem wir ihn damals nannten. Weil er nämlich, wenn ihm etwas nicht rasch genug ging ... und was ging ihm rasch genug? ... immer mit so hoher, sausender Stimme vom Hinterdeck herabrief, mit so juhendem Ton, und mit dem Vornamen Julius hieß, nannten wir ihn >Schuulius<; und er wußte, daß wir ihn so nannten.

Das also schrie ich! Na, ... ich schrie so laut ich konnte... Schuulius!... Und seht: das hörte er! Er drehte sich um, als wenn er in die Seite gestochen wäre, und gab Befehl, auf mich zuzuhalten. Und da fanden sie mich und fischten mich auf.

»Der Alte sagte bis Hull, wo uns der Fischer ablieferte, und auch nachher auf der Fahrt nach Hamburg kein Wort über mein Geschrei. Bloß als wir dann auf dem andern Schiff, das sie ihm gaben, auf der Roberta, wieder anmusterten, sagte er mal so ganz verloren und nebenbei: »Wenn du noch mal wieder schwimmst, kannst du mich auch beim rechten Namen nennen.« Ich sagte: ›Das tu' ich sicher nicht, Kä'pt'n; das nützt nichts; Sie würden mich nicht hören.‹ Da schüttelte er den Kopf, erstaunt über mich oder über sich, und ging nach achtern.«

So erzählte der Zimmermann und sah gedankenvoll vor sich hin und schüttelte langsam und stumm den Kopf. Dann warf er einen langen Blick nach dem Tisch hinüber, an dem vorhin der Kapitän gesessen hatte, und sah ihn da nicht mehr, und sah Michelangelo an und sagte wieder ruhig und in seiner alten, gleichmütigen Weise: »Ich weiß ... ich habe irgend etwas gegen ihn ... aber ich weiß nicht was.«

Die andern sprachen eine ganze Weile über den Fall. Es war doch höchst rätselhaft, warum der Alte gerade diesen Ruf gehört hatte! Der Italiener meinte, er habe eben lauter gerufen, da es die letzte Not gewesen wäre.

Der Zimmermann aber leugnete es entschieden. »Ich habe nicht lauter gerufen. Ich war schon ein bißchen verklamt, und konnte nicht mehr.«

Ein andrer meinte, das eigentümliche Wort mit dem langgezogenen u hätte es getan. Er hätte eben in seiner Not ebenso gesaust und gejuht, wie der Alte vom Hinterdeck herab, wenn es stürmte; und das wäre eben weithin zu hören.

Aber auch das schien nicht wahrscheinlich.

Der junge Reimer hatte still dagesessen, die Augen auf den Zimmermann gerichtet. Plötzlich, aus langem Nachdenken heraus, sagte er rasch und heiß: »Wißt ihr was ... ich will es euch sagen! Es ist nicht dies und nicht das ... Wißt ihr, was es ist? Der Zimmermann hat den Alten lieb! Das ist es ... und darum hat er auch was gegen ihn!«

Sie sahen ihn alle dumm an. Dann sahen sie alle auf den Zimmermann. Der hatte plötzlich die Zähne zusammengebissen und sah starr, glühend über das ganze Gesicht, auf den jungen Reimer Ott: »Wie kommst du darauf?« sagte er verstört.

Der junge Reimer sagte, die brennenden Augen scharf auf ihn: »Das ist nämlich nicht so, daß wir nur Hände haben, die langen können ... sondern unsre Seele, müßt ihr wissen, kann auch langen! Du sahst den Alten da stehn, wie er in Not um den einen war, und die See absuchte! Da brannte dein Herz nach ihm. Eben weil du ihn so in Not um den Einen sahst! Und da riefst du ihn mit dem Namen, mit dem du ihn lieb hattest, und langtest mit deiner Seele nach ihm. Und die langte weiter, als das Geschrei von deinem Mund! Viel weiter! Und so kam es an ihn heran, daß er es hörte! Du hast ihn lieb, Zimmermann!« Und plötzlich schrie er laut mit funkelnden, wilden Augen: »Lüge nicht, Mensch!«

Der Zimmermann wollte ihn mit bösem Zorn ansehen; aber plötzlich taumelte er auf, glühendrot im Gesicht, schlug die großen braunen Hände vors Gesicht, und ging aus der Tür.

Er war noch nicht draußen, da rief dieselbe hohe Stimme: »Und du, Eggert, bist auch so einer! Du hast einen Haß gegen den Vater und gegen die Heimat, weil du sie lieb hast! Das ist es! Aber du wirst dich noch eine Weile weiter verstellen; denn du bist härter als der Zimmermann!«

Eggert Ott biß die Zähne zusammen und murmelte: »Was soll unsre Sache vor fremden Menschen?« Aber er war doch unsicher und biß an seinen Lippen; und fuhr mit der Hand übers Haar, wie seine Mutter es tat. »Ich gehe,« sagte er.

Da standen sie alle auf. Und die, die um sie standen, traten mit stillen, stummen Gesichtern auseinander, und gingen ihrer Wege, jeder an seinen Bord.

Das war am Abend des neunundzwanzigsten Mai.


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