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15. Kapitel

Der Abfall von der »Alten Liebe«

Da gingen sie alle zur Seite, der eine hierhin, der andere dahin, alle möglichst weit fort von der Szene. Peter Söht und sein guter Freund, der Emdener, gingen ins Logis und stellten sich vor ihr Spind und griffen darin herum, als suchten sie etwas. Der Pommer nahm seine Harmonika heraus und fummelte daran und sah nicht auf; über sein breites, dickes Gesicht flog ein Rot nach dem andern. Der Westpreuße kroch in den Verschlag unter der Back und blieb eine ganze Weile verschwunden. Selbst der Steuermann, der von der Brücke die ganze Sache gesehen hatte, sah sich nicht um; er stand da wie festgenagelt und sah vor sich übers Wasser. Die Heizer, die schon bei den Karten hockten, kamen, von dem Lärm aufgestört, herauf, sahen das Unglück, standen einen Augenblick und verschwanden wieder. Dieser grobe, knurrige Peter Hagedorn! Er sollte sich nur nicht einbilden, daß er da ein Heldenstück vollbracht hatte! Was war das für ein Kunststück, den armen Teufel zu entlarven!? O nein! Sie freuten sich, daß sie diese Arbeit, dies Henkeramt, nicht verrichtet hatten!

Peter Hagedorn stand mit wilden Augen drei Schritt vor dem Sünder und machte ihm die Handgriffe vor und schrie die Kommandos und knurrte dazwischen: »Ich will dir preußischen Militarismus beibringen, Lump du! ... das heißt: ich will dich zu einem ordentlichen Menschen machen! Ich will dich zu einem Deutschen machen, du Lump! Weißt du, was deutsch ist? Deutsch ist klar und wahr sein! Stramm, Hund! und kuck mir ins Gesicht!« Sein Atem ging schwer, und der arme Sünder riß sich zusammen; der dicke Schweiß stand ihm auf der Stirn. Schrecklich, dahin zu sehn!

Als sie die Schilling-Reede erreicht hatten, sprach schon einer davon, daß er doch eigentlich Lust hätte, etwas andres zu versuchen, bevor der Krieg zu Ende ginge. Immer auf diesem Boot ... den ganzen Krieg hindurch? And dann, wenn er zu Ende ist, nichts weiter erlebt haben, als dieses Boot? Nein, er wollte einen Antrag stellen, ob er nicht auf einen Minensucher oder so etwas käme! Und schon gegen Abend waren da mehrere, die so dachten. Sie meinten, man solle mal was andres versuchen! Der eine wollte auf einen Kreuzer, der andre auf ein Torpedoboot, der dritte wollte nach Flandern an die Front, so schwer es da wäre. Die »Alte Liebe«, ihr Stolz und ihre Heimat, war ihnen durch diese letzte Begebenheit verleidet. Es war ihnen, als wenn das Boot schmutzig oder doch freudlos geworden wäre, und als wenn sie, die dies erlebt hatten, diese Täuschung und diese Niederlage eines Menschen, es nicht wieder reinmachen könnten, und als wenn sie auch niemals wieder den rechten Zusammenklang, die rechte Harmlosigkeit würden finden können. Nein, es war ihnen nun plötzlich alles verdorben! Diese einzige böse Begebenheit hatte mitsamt dem Bild den Rahmen zerschlagen; es war alles Splitter und Verwüstung geworden.

Sie kamen gegen Mittag in Wilhelmshaven an, lieferten die Schiffbrüchigen ab und reinigten ihr Boot. Sie reinigten es von den schmutzigen Ölfässern und von den schmutzigen Schiffbrüchigen; aber mehr noch von dem Erlebnis mit dem Fremden. Aber obgleich sie fünf Stunden lang gossen und schrubbten, wobei sie wenig oder gar nicht sprachen und es vermieden, sich anzusehn, wurde es doch nicht rein. Dann gingen sie an Land. Aber während sie sonst höchstens in drei Haufen geteilt waren und so die Stadt genossen hatten, behaupteten sie nun, dies oder das besorgen zu müssen, und gingen fast jeder für sich.

Als Harm Ott – auch er allein, und auch er in sehr bedrückter und unglücklicher Stimmung – die Hauptstraße entlang ging, kam da ein Admiral des Wegs, und neben ihm ging ein Rechtsanwalt, den Harm Ott aus seiner Stadt her und von dem Thomsenschen Haufe, wo er verkehrte, recht gut kannte, so gut, daß er ihn wohl anreden durfte. Er ging den beiden nach, bis der Admiral in ein Haus trat; dann redete er den Bekannten an. Der, ein mitteilsamer, freundlicher Mann, schien sich zu freuen, einen Heimatgenossen zu sehn, erzählte ihm, daß er von Helgoland käme, und bat ihn, ein Stück Wegs mit ihm zu gehn; und fragte nach dem Thomsenschen Haufe. Harm Ott erzählte ihm, soviel er wußte, und fragte ihn dann, was ihm eben das Herz bewegt hatte: was er wohl meine, wann der Krieg zu Ende ginge. Das war ja die ständige Frage aller Menschen.

Da sagte der Rechtsanwalt, er hätte eben denselben Gegenstand mit dem Admiral verhandelt, schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Sie sind ja ein verständiger und ruhiger Mensch, Ott. Sehn Sie, nach meiner Meinung steht es so: England hat der Reihe nach mit denjenigen Mächten, die ihm gefährlich waren oder wurden, Krieg angefangen und sie niedergeworfen. So hat es der Reihe nach erst Spanien, dann Holland, dann Frankreich, dann Dänemark geworfen. Wir Deutschen, wir haben ja darin eine ganz andre Natur; wir sagen: laß andre Völker auch blühn! Laß sie blühn, so schön sie können, wenn wir nur auch unser Teil Luft und Sonne haben! Aber die Engländer sind anders; sie wollen alles für sich allein haben; sie wollen der Herr der Erde sein. Nun beschloß es also, das, was es andern getan, nun auch mit Deutschland zu machen; denn Deutschland war nun an der Reihe; denn es war in den letzten dreißig Jahren sein gefürchtetster Konkurrent geworden. Um nun viele Helfer zu haben, und um es völlig zu erniedrigen und unschädlich machen zu können, sammelte es sich Bundesgenossen, wo immer es möglich war, und erdachte und verbreitete schon Jahre vorher ungeheuerliche Lügen; und dann ging es los, mit allen Händen, die es in der ganzen Welt hatte bekommen können! Es dachte, es sollte nun eine leichte Sache werden; so in zwei, drei Monaten, meinte es, sollte der Mord geschehen sein! Nun aber wehren wir uns! Ja, wir siegen! Gut! Nun muß man aber nicht denken, daß England den Kampf nun aufgeben wird, daß England nun sagt: ›Falsch spekuliert! Ein andres Geschäft!‹ Nein, ganz und gar nicht! England ist solche anfänglichen Niederlagen und ist lange Kriege gewöhnt. Es kann sie auch viel leichter und viel länger ertragen als andere Völker, da sein Land eine Insel ist und also verschont bleibt. Lange Kriege sind England durchaus nicht unangenehm. Nein, indem es immer beharrlich und zäh blieb, siegte es zuletzt um so gründlicher; und erreichte noch dazu, daß auch seine Bundesgenossen sehr geschwächt wurden. Sehen Sie, und so handelt es auch jetzt! Es wird immer weiter kämpfen, jahrelang. Denn je länger es dauert, um so schwächer und mürber werden alle andern. Freunde wie Feinde; selbst aber behält es seine Schiffe, seine Kolonien und seine ungeheuren Meere, und darf hoffen, daß es endlich siege, und zwar wie es immer siegte: über Freund und Feind.«

Harm Ott stand das Herz still und er sagte: »So halten Sie es für möglich, daß der Krieg noch jahrelang dauert?«

Der Rechtsanwalt sagte: »Ja, es ist schrecklich ... aber es ist durchaus möglich.«

Dann sprach er noch wieder von gemeinsamen Bekannten in der Heimat, und dann ging er.

Harm Ott glaubte, daß es so sein würde, wie der ältere und kluge Mann gesagt hatte. Es sah ja auch ganz danach aus. Der Krieg dauerte nun schon anderthalb Jahr, und man sah noch kein Ende. Herrgott ... jahrelang noch dieser Zustand!? Dieses Menschenmorden!? Diese Angst in Millionen Herzen im Land!? Jahrelang noch sollte er fern von der lieben Heimat sein, fern von friedlicher, schöner Tätigkeit!? Das Heimweh, das ihn vorher schon gefaßt hatte, packte ihn nun mit furchtbarer Gewalt; es sprang ihm wie ein wildes Tier gegen die Brust, und er stöhnte; und aus ihm stöhnte daß ganze Land und all die Millionen Menschen. Wie süß war die Heimat im Frühling! Wie schön war die Heimat im Sommer! Wie schön im Winter! Wie schön im Sonnenschein, wie schön, ach wie schön in schwerem Regenwetter! Wie schön das Elternhaus mit all seiner Sorge und Freude! Wie schön der Friede! O, Friede! ... Friede!... Aber wenn die Feinde den Frieden nicht geben wollten? Wenn sie uns ausplündern, uns auf Jahrhunderte arm und demütig machen wollen?! Nein, das geht auch nicht? Nein, das ist unerträglich! Nein, wenn ich das abwehren kann ... mit meinem Leben ... so wollte ich mich hierher legen, hier, wo ich geh' und steh', und wollte hier, auf dieser Stelle, sterben! Das darf nicht sein! Was ist mein Leben, wenn mein Land und Volk keine Ehre und keine Zukunft mehr hat?! Nein, dann schmeckt das Leben bitter ... dann lieber weg damit! Also uns wehren! Kämpfen, bis sie den Frieden geben! Ein andres gibt es nicht! Gut, daß wir beiden Brüder dabei sind! Eine gute Sorte! Und wenn der dritte nicht in der Ferne wäre? ... Was der wohl denkt... da drüben! Wie er wohl trotz seines Zornes und Hasses an das Elternhaus und an die Heimat denkt! Denn im Grund seiner Seele hängt er ja unsagbar an den Seinen und an der Heimat. Darum ist ja sein Zorn und Gram so groß geworden! Ob er wohl versucht, wie so viele, herüberzukommen und mitzuhelfen? Sicher wird er es versuchen! Wer weiß, vielleicht sitzt er schon in englischer Gefangenschaft; vielleicht liegt er schon auf dem Boden des Meeres; vielleicht kämpft er schon an irgendeiner Front, oder liegt schon unbekannt unter den Hunderttausenden, die namenlos gefallen sind! Nun gut! Leben ist recht und gut; aber zuweilen ist Sterben nötiger!‹ So stand er lange und dachte nach, und suchte sich das Herz klarzumachen und den Mut zu bewahren: ›Noch jahrelang!? Es muß mir recht sein!‹ dachte er. ›Ich habe keine Schuld daran! Ich muß es tragen und meine Pflicht tun! ... Fertig!‹

Er atmete tief und richtete sich auf, und ging in schweren Sinnen nach seinem Boot zurück, setzte sich in eine Ecke, und las unter dem Gerede der Kameraden zwei Stunden in der deutschen Geschichte, die ihm Bruder Reimer gegeben hatte. Er las an dem Abend vierzig Seiten: von Friedrich dem Großen bis zum Anfang der Befreiungskriege, und wurde darüber ruhiger.

In der Nacht, als er lange nicht schlafen konnte, überlegte er sich, daß auch er, wie die andern, versuchen wolle, ob er nicht vom Vorpostenboot wegkommen könne. Auch ihn bedrückte, was sie da erlebt hatten. Es quälte und beschämte ihn, daß er dem Fremden so ohne weiteres sein Lügen geglaubt hatte. Er hatte immer gemeint, daß er gewitzigt, weltklug und überlegt genug wäre, die Dinge um sich genau zu besehn und sich nicht irreführen zu lassen; und nun war ihm dies widerfahren! Es war ihm bitter. So lieb ihm die Kameraden waren, jeder in seiner Weise, am liebsten wäre er schon jetzt fortgegangen, jetzt sofort; und am liebsten würde er keinen von ihnen wiedersehn. Nein, er wollte weg, es sei nach Flandern an die Front oder auf einen großen Kreuzer. Es war ihm auch plötzlich nicht mehr recht, daß er auf dem kleinen Schiff entweder zugrunde gehn oder weglaufen sollte, wenn der Engländer kam! Obgleich es ihm ganz klar war, daß es ein bitterharter und tapfrer Stand war, vielleicht der härteste und tapferste an allen Fronten: auf solchem kleinen Schiff vor Englands Zähnen auf Wacht zu stehn. Nein, er wollte nun doch lieber dahin, wo man mit Wut und Zähneknirschen ihm an die Brust sprang, ihm, der das arbeitsame deutsche Volk nicht leben lassen wollte, dem Welträuber, dem Entmanner und Entehrer der Völker!

Erst am Spätnachmittag kam er dazu, seinen Bruder aufzusuchen.

Als er aber nach dem Torpedoboothafen kam und nach ihm fragte, erfuhr er, daß er Urlaub bekommen hätte und nach Hause gereist wäre.

Am andern Morgen stachen sie wieder in See, und waren gegen Mittag auf dem Posten. Es wehte ein sehr kalter, scharfer Nordwestwind.


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