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11. Kapitel

Hamburg

Der zweite Offizier meinte, er sollte die Nacht an Bord bleiben, da er heute doch nicht mehr nach Wilhelmshaven kommen könne, und morgen mit dem frühesten nach dem Bahnhof gehn. Da die Kaileute aber sagten, daß heute schon der dritte Mobilmachungstag wäre und er also gestern schon in Wilhelmshaven sich hätte stellen sollen, ließ es ihm keine Ruhe. Er ließ sich vom Kapitän einen Schein geben, daß er heute erst angekommen wäre, warf seinen Sack über die Schulter und ging in die Stadt und nach dem Bahnhof; elf Mann, lauter junge Kerle, die wie er gleich eintreten sollten – die meisten in Kiel – gingen mit ihm. Sie gingen zu zwei und zwei und machten rüstig vorwärts. Auf dem Wege sagte der eine oder andere mindestens dreimal: »Laßt uns doch langsamer gehn, Kinder... der Krieg läuft uns ja nicht weg!« Aber immer kamen sie wieder in rascheren Schritt. Es brannte ihnen das Herz, zu erfahren, wie es in Deutschland stünde, und sobald wie möglich an der Stelle zu sein, wo sie hingehörten, wo sie nötig waren. Sie hatten alle das Gefühl ... sahen alle irgendwo im Geist ... auf dem Hof einer Kaserne ... eine Lücke in einer langen Reihe, wo gerade sie stehen sollten. Wenn sie nicht an die Ihren dachten, sahen sie eine blauschwarze Linie in einem Kasernenhof stehn und sahen einen Offizier sich fragend umsehn, und sahn sich und viele andre hinlaufen, um sich in die Reihe zu stellen, daß sie voll würde.

Vorm Hauptbahnhof wimmelte es und staute es sich von Menschen. Wie an einem ungeheuren Bienenstock stand und drängte es sich an den Eingängen. Als sie mit ihren Säcken herankamen, kamen zugleich in großen Scharen andere Seeleute und Reservisten aus den Straßen vom Hafen her. Aus den Hotels und Kaffeehäusem am Glockengießerwall kam es in langen Zügen, wohl die Leute, die vor einer Stunde aus England angekommen waren. Dazwischen standen und gingen andre Menschen, in jedem Alter, viele in mittleren Jahren, die in dieser Stunde nicht ahnten, daß sie im nächsten Jahr selber den grauen Rock anziehen müßten ... die grüßten und nickten und riefen ihnen zu: »Nun ... macht es gut! Na ... ihr werdet tun, was ihr könnt!« Und sie antworteten: »Keine Bange! Wir schaffen es! Das alte deutsche Blut ist noch in uns! Ah ... laßt sie nur kommen!« Alles grüßte und freute sich an ihnen. Ein hübsches, junges Blut, das nicht weit von Harm Ott ging und ihm im Gedränge nicht näher kommen konnte und sich dadurch wohl sicher fühlte, nickte ihm immer freundlich zu. Es wurde ihm warm ums Herz, und er dachte: ›Die könnte ich so nehmen, wie sie da geht und steht, und ans Herz drücken;‹ und er fühlte, daß auch sie so dachte. Nun war sie nicht mehr da. Auch die Kameraden waren von ihm abgekommen, und er stand allein in dem ungeheuren Trubel und mußte lange so stehn. Von der Straße her klang eine feierliche vaterländische Weise von vielen, vielen Menschenstimmen. Dicht neben ihm klagte ein Schüler um seinen Bruder, der Kaufmann wäre und gerade eine Reise in Rußland machte: »Wenn der die Grenze nicht erreicht und die ganze Zeit in Gefangenschaft sitzen muß, stirbt er. Er ist mit Leib und Seele Soldat.« Auf der andern Seite stand ein junges Paar und redete leise miteinander. Er war noch sehr jung; aber es war ein so tiefer, lichtloser Ernst in seinem Gesicht, daß es Harm Ott jäh durchfuhr: ›Der wird fallen!‹ Ein älterer Mann ... es schien ein gutgestellter Kaufmann zu sein ... der wegen Harm Otts Sack auf der Schulter den Kopf schief halten mußte, nickte ihm zu und sagte: »Na, Seemann? Hoffentlich brauchen Sie nicht auf die englische Flotte zu schießen.« Harm Ott hob den Kopf und sagte: »O nein, das wird nicht geschehn,« und auch andre, die umherstanden, sagten: »Unmöglich!« Und einer, der wohl ein Lehrer war, sagte: »Das ist schon wegen der Geschichte, die hinter unsern beiden Völkern liegt, unmöglich.« Alle, die ihn hörten, nickten.

Nach einiger Zeit wurde von Soldaten mit Helmen und weißer Binde um den Arm Platz gemacht, und er kam bis an den Schalter, und erfuhr, daß er am besten am andern Morgen in aller Frühe führe.

Da nahm er Feder und Papier aus dem Sack und gab ihn ab, und drängte sich eine Zeitlang durch die Menge und sah sich um, ob er nicht das Glück hätte, auf irgendeinen aus seiner Gegend zu stoßen. Er fand aber lange niemand. Als er aber dann in den Wartesaal gehn wollte, um zu schreiben, da stand plötzlich die vor ihm, die er auf der ganzen Welt am allerwenigsten sehn wollte! Ja ... da stand sie! ... und es ging nicht an, daß er tat, als säh' er sie nicht. »Woher kommst denn du?« sagte er kühl.

Sie war sehr verlegen, sah an ihm vorbei über die Menge und sagte: »Vater hatte hier zu tun und hat mich mitgenommen ... wir wohnen im Holsteinschen Hof in Altona und nun suchte ich einen Bekannten, mit dem ich ein Wort reden kann.« So waren sie alle unterwegs und suchten alle Menschen, um alle die Fragen in sie hinein zu schütten, die im übervollen Herzen brannten. Denn sie wußten ja alle nicht, was Krieg wäre. Das Wort Krieg war ihnen ein grauses und graues Märchen aus alten Zeiten geworden, und sie hatten so wenig geglaubt, daß es sich wieder einmal ereignen könnte, wie es andre Märchen tun. Sie plauderte lebhaft und eintönig, und tat, als wenn sie Nachbarskinder wären oder entfernte Verwandte, die sich nie nahe gestanden; aber sie war blaß, und ihre schönen leuchtenden Augen, die über die Menschenmenge hinsahen, waren unruhig und verlegen.

Harm Ott war gequält und zornig; er hätte ihr am liebsten gesagt: ›Geh weg von mir! Was willst du grade neben mir gehn? Geh tausend Meilen weg! Quäl' mich nicht. Ich bin nicht hartherzig wie du; ich kann nicht mit dir reden, als wärst du eine Fremde! Weg mit diesen Augen! Mit diesem Haar! Mit deinen Schultern! Weg, weg von mir! Ich geh' jetzt in Tod und Kampf ... Was gehe ich dich an!‹

Sie plauderte unruhig weiter und fragte: »Was glaubst du ... wie viele fallen werden? Wie viele meinst du, daß aus dem Kirchspiel Altensiel nicht wiederkommen werden? Einer oder zwei? Das wäre ja schrecklich! Kann es nicht geschehn, daß sie alle wiederkommen? Es stand ja einmal in der Zeitung, daß die Kriege immer ungefährlicher werden. Und England wird uns ja beistehen; es ist ja mit uns verwandt und wir sind ja unschuldig. Und was meinst du, wie lange der Krieg dauern wird? Sie sagen: Höchstens fünf Monate.« Und dann erzählte sie, was »ein Bekannter« ihr heute geschrieben hätte, der zu den Sechsundachtzigern nach Flensburg gegangen war und schon in Reih und Glied stand.

›Dieser ›Bekannte‹ ist natürlich ihr Verlobter‹, dachte er bitter.

Sie redete lebhaft und lachte in ihrer Verlegenheit über einen Satz in dem Brief des »Bekannten« und betrachtete dabei eine Schar Schüler, die mit Jungen vom Hafen Arm in Arm durch die weit offne Tür zogen, wobei sie den Vorübergehenden zuriefen: »Ich gehe morgen zu den Fünfundsiebzigern!« »Ich nach Rendsburg!« »Ich zu den Jägern nach Ratzeburg!« und »Ich nach Mürwick zur Marine!« Sie gingen hinter der Schar her aus der Halle.

Sie waren aber eben aus der Bahnhofshalle herausgekommen und gingen in der Menge, die den ganzen breiten Platz vollgestopft füllte, auf den Glockengießerwall zu, da erhob sich plötzlich vor ihnen, von der Alster her, ein Toben und Tosen, und bald kam hier und da ein Schrei: England! England! England hat uns den Krieg erklärt! Und gleich darauf war es dicht um sie ein Toben, Schreien, Erschrecken, Entsetzen: »England ... Nein! ... Unmöglich!! ... Doch! ... Sie sagen es! ... Es ist ja nicht möglich! ... Doch ... Natürlich! ... Die Harwich-Dampfer, die ausfuhren, sind heute zurückgekommen!... Herrgott! ... England!!« ...

Sie sah ihn an und sah, daß die Nachricht ihn völlig verstörte, daß er mit all seinen Gedanken bei diesem Ereignis war und keine Seele mehr für sie hatte. Sie gab ihm plötzlich die Hand und sagte mit verlegenem Gesicht, rasch und überstürzt: »Ich will nun wieder zu meinem Vater.«

Er besann sich schwer: »Geh,« sagte er kalt.

Sie wollte noch etwas sagen, ihm Gutes wünschen, fand aber nicht das Wort und murmelte, daß sie den Seinen sagen wolle, daß sie ihn getroffen hätte. Und wandte sich ab.

Er wollte sein Herz gleich von ihr losreißen, horchte auf die Worte, die um ihn gerufen wurden, und suchte zu einem Haufen zu gelangen, der sich um ein Extrablatt drängte. Aber das große blonde Menschenkind mit den schönen fliegenden Augen, die mit einem seltsamen Ausdruck die seinen gesucht, schob sich heischend, fordernd und zugleich bittend dazwischen. Er machte drei lange Schritte zur nächsten Haustreppe, und nahm die Stufen, und spähte über die Menschenmenge, ob er sie noch einmal sähe. Erst fand er sie nicht; aber dann, plötzlich, sah er sie, wie sie drüben an dem großen Kandelaber stand, genau wie er, und ihn suchte und ihn erst nicht sah, und ihn dann, eine völlig veränderte, mit vielem Nicken des Kopfes grüßte, innig, still, heftig. Es war die erste Liebkosung, ja die erste Liebesäußerung, die er von ihr empfing. Es ging ihm heiß und zugleich bitter durchs Herz. Er nickte ihr langsam zu, mit finstern Augen. Nun war sie in der Menge verschwunden.

Da stürzte mit erneuter Wucht die neue Begebenheit auf ihn ein. Es war ihm, als wenn die ganze Welt über seinem Vaterlande zusammenstürzte, ja, als wenn Gott selbst vom Himmel fiele. Sein ganzes Denken, von seiner Kindheit an, das immer, wenn auch ohne Worte und ohne Formel, in seinem Herzen lebte, daß ein Herrgott im Himmel lebte, war ihm verwirrt und verstört. Es würgte ihn wie einen Menschen, der aus Trümmern und Rauch nach freier Luft ringt, und es schrie in seiner Seele zu Gott: ›Sage mir, was willst Du mit Diesem? Was Du tust, das tust Du doch zum Wohle der Menschheit?! Krieg ... Krieg ... ein frischer, wilder Krieg? mag nötig sein, die Menschen zu wandeln, zu erfrischen, zu läutern ... aber Krieg zwischen germanischen Brüdern?! Der Bruder fällt über den schon hart genug bedrängten Bruder her?! Willst du damit Neues schaffen?‹ ... Solche Gedanken stürmten wirrend durch sein Herz, während er von der Menge, die ihn umdrängte, weitergetrieben wurde; und er verstummte vor Grausen vor Gottes Tun, während die Menschen um ihn schrien und aus der Ferne der feierliche Gesang von Tausenden herüber drang.

Er war zur Tür eines Kaffeehauses gedrängt, in dem wohl nach der Meinung der Menschen neue Nachrichten zu erfahren waren, und befand sich, ehe er's sich bewußt wurde, in dem großen Raum. Neben ihm sagte ein einfacher Mann in unendlichem Erstaunen vor

sich hin: »Wie ist das möglich? Sie haben ja doch blondes Haar und blaue Augen wie wir?!« Ein andrer sagte: »Und wir haben ihnen nichts getan, nichts,« und laut sagte er, als wenn er es bekräftigen müsse, daß sie es ihm glaubten: »Ich kenne die ganze englische Geschichte, es ist tatsächlich so; wir haben ihnen nie etwas Böses getan.« Ein andrer sagte: »und wir wollen auch jetzt nichts von ihnen! Sie sollten nur ruhig zusehn, wie wir diesen schweren Kampf bestünden.« Gleich darauf stellte sich ein älterer Mann auf einen Stuhl ... wie es schien, ein Maschinist oder Werkmeister ... und rief mit kurzen Atemstößen: »Ich will nicht darüber reden, warum England als unser Feind auftritt! Ich will nur sagen: es wird ein ungeheurer Kampf werden! Besonders England ist gewaltig an Mitteln und Kräften! Trotzdem werden wir siegen; denn es ist nötig, daß wir siegen! Denn wenn wir unterliegen, werden sie uns das Fell über die Ohren ziehen! Sowohl Bismarcks wie Bebels Lebenswerk geht dann zugrunde! Also müssen die Jungen im Felde von Anfang an ihre Pflicht tun und die Feinde so werfen, daß sie um Frieden bitten. Das wollen wir von ihnen erhoffen, und Gott sei Dank: wir dürfen es hoffen!« Er wollte noch mehr sagen, aber da sprang ein junger Mann mit einem geistvollen Gesicht und langem hellen Haar, vielleicht ein Gelehrter, auf einen Tisch und sagte mit knirschenden Zähnen, und jedes Wort sprang ihm wie ein Falte vom Munde: »Leute! Mein Vorredner hat recht: es werden schwere Tage und Monde sein ... die, die wir jetzt haben werden. Das ganze Europa gegen uns! Aber die Zahl unserer Feinde ... so groß sie ist ... sie macht uns nichts! Seht, wir haben dreierlei, was unsre Feinde nicht haben: wir haben erstens: ein gutes Gewissen. Leute! Wir haben diesen Krieg nicht gewollt! Weder unser Volk, noch unsre Regierung! Wenn wir unsrer Regierung einen Vorwurf machen können ... das wissen wir alle... so ist es nicht der des Krieges, sondern der des übergroßen Freundlichseins, der des Zurückweichens, der des Friedenhabenwollens um hohen Preis! Zweitens haben wir Einigkeit! Sie sollen sehn und sollen sich entsetzen! Deutschland in Not? Deutschland einig bis zum letzten Mann! Drittens: wir haben einen Zorn, einen Haß! Leute! Wie groß haben wir, von unserm Kaiser bis zum einfachsten Mann, von England gedacht! Wir meinten, sie wären unsre Freunde, von vornehmer, edler Gesinnung, ja unsre Brüder um ihres Herkommens willen! Oder liegt es an uns? Haben wir uns gegen England versündigt? Im Gegenteil: wir sind seine Helfer gewesen in mehr als einer Not! Oder, wollten wir uns in Zukunft an England versündigen? Das ist ein unsinniger Gedanke für deutsche Art! Wir, wir Deutsche ... wir leben und lassen leben! Leute! Warum will England denn kommen und Deutschlands Kinder töten? Warum? Wo ist seine Not? Wo ist die unendliche Qual, die allein ein redliches Volk in den Jammer des Krieges jagt? Leute! England ist ein andres Volk, als wir alle gedacht haben; es ist ein Volk, einzig in der Welt: es ist das Volk, das Kriege anzettelt und führt, wenn irgendwo auf der Erde ein andres Volk aufsteigt, das besser und tüchtiger ist, als es selbst! Das ist es! Es ist das Volk, das vom Töten des Guten lebt! Es ist der böse Henker der Völker! Aber jetzt schlägt seine Stunde! Jetzt schlägt Gottes Stunde! Dieser Krieg wird neben vielem andern, das alt und morsch ist und das er wegfegen wird, dies eine bewirken: daß dieser Völkerhenker seines Amtes verlustig geht, daß alle Völker der Erde frei und gleichberechtigt nebeneinanderstehn, bis einst in fernen Zeiten der Tag kommt, da sie alle einander Brüder sind! Hör' es, deutsches Volk! Ihr, Brüder, die ihr hinauszieht zum Kampf ... Ihr kämpft nicht allein für Deutschland! Ihr kämpft: den Thron des frommen Weltschurken zum Wanken zu bringen! An diesem ... diesem Niedertreter der Völker, die in allem Guten wachsen wollen ... diesem Entmanner der Nationen, das Gottesgericht zu halten!« Die ganze Menschenmenge, die den Raum füllte und in den offnen Türen und Fenstern stand und draußen, rief laut und wild immer wieder: »Richtig! Das ist es!« Ein junger Schüler, der mit funkelnden Augen nicht weit von dem Redner gestanden, sprang auf einen Stuhl und rief: »Hört mich ...! Ich ... ich bin nicht breit« ... er schlug immerfort gegen seine Brust ... »ich bin erst siebzehn ... aber ich ... mit diesen hier« ... er zeigte auf seine Genossen, die hinter ihm standen ... »wir sind heute abend schon im grauen Rock. Was wollen wir? Wir wollen unser heißgeliebtes Vaterland, seine schöne Erde, seine Frauen und Kinder verteidigen gegen Franzosen und Serben, Neger und Kosaken, gegen allen Schmutz in der Welt. Und wollen ihm Ehre und Luft schaffen in der Welt! Zuletzt aber, wenn die andern am Boden liegen, wollen wir dem Bruder an die Gurgel, dem Schurken, der seine Heimat und sein Blut verraten hat ... der, große und fromme Worte im Mund, uns überfällt, uns ... die wir ihn liebten und ehrten. Was redet aus uns, Brüder? Woher unser rasender Zorn? ... Weil wir ihn liebten ... weil wir stolz auf ihn waren ... ihn ... von unserm Blut ... aus unserm Land hier gekommen!« Er schluckte und kämpfte mit Tränen. Er wollte noch weiter sprechen, da kam von der Straße her der rauschende anschwellende Gesang von mächtigen jugendlichen Stimmen: ›Ein feste Burg ist unser Gott ... Und wenn die Welt voll Teufel war ... so fürchten wir uns nicht so sehr ...‹ Schüler zogen in Haufen vorüber, tausende junger Mannschaft. Die Menschen standen mit abgezogenen Hüten und lauschten oder sangen mit; viele weinten. Ganz betäubt von dem, was er erlebt hatte, ganz erfüllt von all den Gedanken, die es ihm neu gegeben hatte, ging er still für sich durch die Menge, die die Straßen füllte, und gelangte wieder nach dem Bahnhof. Dort ging er gleich nach dem Wartesaal, um nun den Brief an die Eltern zu schreiben. Es gelang ihm, durch all die Menschen hindurchzukommen und in einer Ecke ein Plätzchen zu finden. Rechts von ihm saß ein Haufen junger Kerle, gelbe Pappschachteln vor oder neben sich, Reservisten, die zu ihren Regimentern wollten. Sie redeten, müde der Kriegsunterhaltung, ruhig von daheim, von Eltern und Pferden, Schwestern und Kameraden; sie schienen aus benachbarten Dörfern zu stammen. Links von ihm saßen ganz junge Gesellen, die Köpfe auf den Pappschachteln und schliefen, Freiwillige, die morgen früh weiter wollten, um in Berlin und daherum ihr Heil zu versuchen. Durch die Gänge des großen Saals drängten sich Haufen Menschen. Er saß noch eine Weile da, in Gedanken an die Szene, die er eben erlebt hatte und an das so bedrängte Vaterland; dann fing er an zu schreiben:

Liebe Eltern und Geschwister!

Ich habe in New York Bruder Eggert nicht gesehen; ich weiß aber, daß er dort als ein ordentlicher Mensch lebt. Rebekka Pein ist eine alte Frau und gehört zu denen von der Sorte von St. Margarethen. Wir sind sehr rasch nach Deutschland zurückgefahren mit einem Bogen nach der norwegischen Küste zu, und sind heute abend hier in Hamburg angekommen.

Liebe Eltern! Nun geht ja auch England gegen uns; der Teufel weiß warum; Gott und anständige Menschen wissen es nicht. Liebe Eltern und Geschwister, es ist nun wohl möglich, daß ich nicht wiederkomme. Ich tröste mich aber damit, daß ich dann für eine gerechte und reine Sache falle, und damit müßt Ihr Euch auch trösten; denn einen andern Trost gibt es nicht. Also trauert dann nicht um mich; sondern habt guten Mut darum! Sagt den Geschwistern, daß sie nicht so aneinander kleben, sondern hell in die Welt sehen und sich jeder seinen eignen Weg suchen sollen. Sie müssen immer denken: Wenn nur das Fähnlein flattert! Das habe ich manchmal im Spaß zu ihnen gesagt, wenn sie sich über mein Rad lustig machten; ich meinte es aber im Ernst. Grüßt den Bruder Eggert von mir, und er soll ins Elternhaus zurückkehren, wenn ich nicht wiederkomme. Vater aber soll an ihn glauben; glauben ist das beste im Leben. Bruder Reimer wird wohl ein gelehrter Mann werden; der kann dann alle Geschwister zusammenhalten, soviel es gut und möglich ist.

Mein Rad soll Bruder Reimer haben.

Euer treuer Sohn und Bruder Harm Ott.

So schrieb er ruhig und in kurzen, klaren Sätzen, so wie wohl ein älterer Mann schreibt. Als er die Feder hinlegte, hatte er auch selbst das Gefühl.

Er machte den Brief zu und ging hinaus in die Halle, um ihn dort in den Kasten zu stecken. Als er sich durch Menschen durchdrängte und die Halle erreicht hatte, und mit seinen Gedanken wer weiß wo war und über die Menge hinsah, kam ihm der Gedanke an seinen Bruder Reimer. Es wurde ihm aber nicht klar, woher der Gedanke käme; und er verlor ihn wieder. Aber gleich darauf war er wieder da, und da ... sieh ... da stand ein junger Mensch, dessen etwas langes Haar und hohe Schläfen grade wie Reimers waren ... und da ... o ... da sahen sie sich beide und erkannten sich!

Die Augen von Bruder Reimer leuchteten und es flog der schönste Schein über sein Gesicht: »Da bist du!! O ... Wie schön, daß du schon wieder da bist!! Nun kannst du doch mithelfen! O ... hast du Eggert getroffen?! Hast du ihn gesprochen, und was sagt er?«

Harm schüttelte den Kopf vor Verwunderung, daß er den Bruder hier sah. »Ich habe Eggert nicht getroffen, aber ich weiß, daß es ihm gut geht. Aber was willst du hier? ... Junge! ... Du willst doch nicht ...?! Was soll der Koffer?«

Bruder Reimer richtete sich hoch auf und sagte verlegen, aber sicher und glücklich: »Ich ... ich gehe mit ... was denkst du?«

Sein Bruder erschrak aufs heftigste. »Du?!« sagte er, »so mitten aus deiner Arbeit?! Herr Gott, ich dachte vorher noch an dich, als ich so viele Freiwillige sah; aber ich tröstete mich, daß du ja so heftig gegen den Krieg redetest, so als wenn du nie mitgehn würdest, wenn du nicht müßtest.«

»Ja,« sagte er großartig, »das ist doch was andres! Ich bin durchaus gegen den Krieg ... verstehst du ... so als menschliche Erscheinung; er wird sicher überwunden werden! Aber wenn mein Volk angegriffen wird, muß ich doch helfen ... das ist doch selbstverständlich!«

»Und Mutter?« sagte der Bruder.

»Ja ... Mutter« ... sagte er ... »es tut mir ja leid um sie; aber was soll ich machen? Ich sagte: ›Mutter, wenn du mich nicht gehn läßt, wird mir der ganze Rest meines Lebens nicht schmecken.‹ Da sagte sie kein Wort mehr.«

»Du warst bei den Eltern? Wann bist du denn von Kiel gekommen? Heute?«

»Nein, gestern vormittag. Als die Kriegserklärung gegen Frankreich und Rußland da war ... das war vorgestern ... oder wann war es ... ich weiß es nicht mehr ... da wollten wir gleich mit; aber einige Lehrer hielten uns noch zurück und sagten, England würde uns helfen, es würde nicht dulden, daß ein Brudervolk von zwei so mächtigen Gegnern überwältigt würde. Als es dann aber gestern abend hieß, daß England uns nicht helfen könne ... ich weiß nicht warum ... da brach es los. Da war kein Halten mehr. Denk' dir: wir allein mit Österreich gegen Frankreich und das ungeheure Rußland.«

»Ja,« sagte der Bruder bitter, »wenn es damit getan wäre! ... Weißt du denn noch nicht, daß auch England gegen uns geht?«

Bruder Reimer starrte ihn an, totenblaß. »England!?« rief er entsetzt, »England ... gegen uns?« Es flog eine tiefe Röte der Scham über sein junges Gesicht. »Ah,« sagte er leise, »wie ist das schrecklich! ... das geht ja gar nicht ... wir können doch nicht Bruder auf Bruder schießen?! ... Harm ... wir haben ihnen nichts getan, und sind von so großen Mächten überfallen! O, ein Brudervolk! ... O nein! ... nein ... Du, Harm ... so etwas ist noch niemals geschehn, solange die Welt steht! Davon wird man nach tausend Jahren noch reden!«

Sie hatten sich wieder in den Saal gedrängt und saßen wieder an dem Platz, wo Harm gesessen hatte. Sie hatten eine Weile geschwiegen. Da sagte Bruder Reimer: »Nun muß ich mit gegen England, Harm ... Du mußt mir helfen, Harm! Ich gehe dir nicht von der Seite! ... Ich will mit gegen England! Ich will!«

Sein Bruder schüttelte heftig den Kopf und sagte: »Wenn es sein muß, wenn dir dein Leben sonst nicht schmecken wird, so magst du mit in den Krieg gehn, aber nicht zur See! Ich helfe dir nicht und nehme dich nicht mit! Nein, ich tu es nicht!« Er war aufs Tiefste erregt. Er hatte jetzt das Gefühl, daß nun, da England mitging, der Hof am Deich seinen Teil an diesem Krieg würde zahlen müssen, und so genügte es, daß allein er es wäre. »Bedenke,« sagte er und sah den Bruder mit Augen an, die mit dem Leben fertig waren, »was es für ein Kampf werden wird: ihre Flotten sind dreimal größer als unsre! Es geht nicht an, daß keiner von uns beiden wiederkommt.«

»Das wäre freilich schlimm,« sagte Reimer; »aber es muß dann eben sein. Es muß so gehn, wie Gott es will.«

»Ob es noch einen Gott gibt!« sagte der Bruder bitter.

Dann schwiegen sie wieder.

Nach einer Weile fing Reimer an, ihn nach seiner Reise zu fragen; und er erzählte es ihm. So sprachen sie eine Zeitlang. Dann schwieg er lange, und sein Bruder, der ihn von der Seite ansah, sah, wie die Gedanken in ihm arbeiteten, und sah, wie sie erst mühsam hin und herliefen; aber allmählich sah er einen ruhigen, stillen Schein über sein kühnes Knabengesicht ziehn. So verharrte er lange. Dann sagte er: »Bruder Harm, es ist also abgemacht: ich gehe mit dir, oder ich gehe allein nach Wilhelmshaven. Rede nicht dagegen ... es muß sein! Falle ich, so ist es gut; komme ich zurück, so werde ich mein Leben lang stolz sein, daß ich mit gegen England gekämpft und damit das Heiligste in meinem ganzen Leben getan habe. Denn es ist nicht so, wie du sagtest: Gibt es noch einen Gott? Grade diese Tat Englands wird beweisen, daß es einen Gott gibt. Du wirst sehn, wie England es wird büßen müssen, daß es diese gemeine Tat beging. Von diesem Tag an wird man den Niedergang Englands rechnen. Denn es ist so mit Gott ... er kann nicht anders ... er führt die Welt und die Menschheit weiter, indem er den Bösegewordenen, den er verderben will, zu furchtbarer Gier und zu Ungerechtigkeiten verleitet und den andern, den Kleinern und Bessern zwingt, gegen ihn zu kämpfen und ihn endlich niederzuschlagen. Und dabei will ich helfen! Ja, das will ich und muß ich; sonst mag ich nicht mehr leben!«

Dann saß er wieder still und sah mit großen Augen in das Getriebe um ihn her. Sein Bruder saß neben ihm und sah zuweilen nach ihm hin und sah, wie große, reine Gedanken durch seine Seele wogten: ›Deutschland ... altes Vaterland ... in großer, schwerer Stunde ... in Not ... in schrecklicher Sorge ... in heißer Verteidigung ... O! Deutschland! ... tapfres, ernstes Volk! Dies ist deine große Stunde ... Gott verläßt dich nicht darin! ... Aus tiefer Not schrei' ich zu dir ... Sie gedachten es böse zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen ... Du wirst siegen! ... Du wirst der Menschheit helfen, die in Gold und Lüge verkommen wollte! Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt‹ ... Solche Gedanken, sah sein Bruder – denn er kannte ihn von seiner Kindheit an – bewegten seine reine Seele, während seine tiefen Augen langsam über das Gedränge der Menschen sahen. Aber allmählich wurden ihm die Augen müde. Er sah Bruder Harm an und sagte: »Ich habe in der vorigen Nacht nicht geschlafen; ich will den Kopf auf den Tisch legen und die Augen zumachen.«

Sein Bruder, der Zimmermann, saß noch eine Weile und sah mit ruhigen Augen über das Gedränge, das diese ganze Nacht nicht nachließ. Dann wurde auch er müde. Er hatte von der Südspitze Norwegens bis nach Hamburg, im ganzen dreißig Stunden, gewacht und gespäht, die Seele immer voll von allem Grausen und allen Wundern dieser Tage. Der Kopf sank ihm nach vorn; er hörte noch wie ein Trupp Reservisten, leise, um sie nicht zu stören, an ihnen vorüberging. Dann fiel sein Kopf auf den Arm und er schlief ein.

Als er erwachte, schien ein blasser Schein des Morgens durch die hohen, bunten Fenster. Da weckte er den Bruder, und sie tranken eine Tasse heißen Kaffee und nahmen ihre Sachen; und gingen hinunter, um nach Wilhelmshaven zu fahren.

Die weite Halle war voll von Reservisten, die sich an den Sperren zu ihren Bahnsteigen sammelten. Von unten herauf donnerten die Züge und die tausendfachen Rufe der Ausziehenden.

 


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