Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

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53 Baraia, der Wind gesät hat, erntet auch weiterhin Sturm

Nach dieser Beratung, die den Augen der drei Belagerten kein neues Licht brachte und ihnen keine Aussicht auf Rettung eröffnete, gab sich ein jeder von ihnen wieder still seinen geheimen Gedanken hin. Alle drei lauschten dem dumpfen Rauschen des Wasserfalls in der Tiefe des Abgrunds, dessen ehrfurchtgebietende Stimme ihnen wenigstens sagte, daß ihnen noch zwischen der Gefangenschaft, die schrecklicher war als der Hunger, der Abgrund als letzter Zufluchtsort übrigbliebe.

Lassen wir nun für einen Augenblick die Belagerten all das energisch in Anspruch nehmen, was die Gewöhnung an Gefahren in ihnen an unerschütterlicher Ausdauer, an moralischem Mut und an erfindungsreicher Fruchtbarkeit des Geistes entwickelt hatte, und blicken wir erst einmal genauer auf die Gefahren, die ihnen drohten und die mitten in dem hartnäckigen Schweigen, das die Belagerer hinter den sie deckenden Felsen beachteten, immer größer wurden.

Fünf Indianer – denn bis auf diese Zahl hatten die Büchsen der Jäger und der Hinterhalt in der Ebene sie verringert – lagen hinter ihrer Verschanzung. Sie hatten ihren Kopfputz aus Federn und ihre wallenden Mäntel aus Büffelhaut abgelegt; ihre Körper waren halb nackt; mit racheglühenden Blicken beobachteten sie durch die Zweige der Gesträuche hindurch gierig die geringste Bewegung des Feindes.

Ihnen gegenüber erhebt sich das indianische Grabmal mit seinen düsteren Zieraten und seinen Felsenzinnen, deren Zwischenräume nichts erblicken lassen. Der Wind bewegt das trockene Gras auf dem Gipfel der Anhöhe, wo die drei Christen niedergekauert liegen. Die Zweige der Tannen schwanken langsam über ihren Häuptern. Keine Spur eines menschlichen Körpers ist sichtbar, kein Büchsenlauf glänzt in der Sonne – und doch wissen die Apachen, daß bei der geringsten Unvorsichtigkeit von ihrer Seite die düstere Plattform einen jähen Blitz und zugleich den Tod entsendet. Unter ihnen sitzen der alte weiße Renegat und Sang-Mêlé; ihre langen schweren Büchsen liegen an ihrer Seite; beide rauchen aus einer indianischen Pfeife mit einem Kopf aus roter Erde und werfen von Zeit zu Zeit einen unheimlichen Blick auf den bleichen und unruhigen Baraja.

Zu dem Schrecken, den diesem seine entsetzlichen Bundesgenossen einflößten, gesellt sich noch die Unruhe über die wahrscheinliche Entdeckung des wunderbaren Goldlagers. Er hatte den letzten von der Kugel des alten Waldläufers getroffenen Indianer mitten in das Tal hinabstürzen sehen und zitterte, daß der Apache durch seine krampfhaften Bewegungen im Todeskampf die Zweige, die dessen Oberfläche bedeckten, verschoben haben könnte. Er dachte, daß sein Leben sicher wäre, solange sein Geheimnis noch ihm gehörte, weil er ein unentbehrlicher Bundesgenosse war; aber sobald ein Blick von der Höhe des Felsens dem wilden Mestizen die wirkliche Lage des Schatzes entdeckte, wurde seine Betrügerei offenbar, und vielleicht würde sich dann Sang-Mêlé einen grausamen Scherz daraus machen, den Indianern das Opfer, das sie nur schwer aufgegeben hatten und dessen Leben ihm fernerhin nutzlos wäre, zu überantworten. Der Unglückliche zitterte zugleich für sein Leben und für seinen Schatz.

»Höre, Blaßgesicht«, sagte endlich der Mestize mit dem ganzen Stolz der indianischen Rasse, »Main-Rouge und ich haben bis jetzt die Indianer ihren eigenen Hilfsmitteln überlassen, um ihnen fühlbar zu machen, daß sie weder geistig noch körperlich stark genug sind, gegen diese drei Weißen zu kämpfen; aber der Augenblick naht, wo wir diesen Schelmen den Unterschied zeigen werden, der zwischen Weihen und Adlern besteht. Ist es nicht wahr, was ich da sage?« fügte Sang-Mêlé hinzu, indem er für Main-Rouge englisch das wiederholte, was er eben Baraja gesagt hatte.

»Gewiß!« antwortete der alte weiße Renegat mit einem grausamen Lächeln. »Mein Sohn und ich, wir werden uns bei der Todesmarter des unverschämten Taugenichts befinden, der unsere Zungen den Raben vorwerfen will.«

Sang-Mêlé fuhr auf die Sonne deutend fort: »Noch lange vor Sonnenuntergang werden diese drei Jäger entwaffnet mein Erbarmen anflehen; aber meine Ohren werden taub sein. Vergiß das nicht, Freund!«

Baraja verbeugte sich schweigend mit beklommenem Herzen.

Der Mestize warf auf den Mexikaner einen wilden Blick und sagte, sich zu ihm wendend: »Wenn ich dann also bemerke, daß du mich betrogen hast; wenn ich dort oben nicht den Schatz finde, den du mir versprochen hast, so werden die Qualen, vor denen ich dich gerettet habe, und die Martern, die diese Jäger erdulden müssen, süß sein wie der Tau des Himmels nach einem glühenden Tag im Vergleich mit der Todesmarter, die ich dir bestimme ... ich selbst!«

»Wie?« schrie der unglückliche Mexikaner, dessen Nerven bei der bloßen Erinnerung an das Schicksal erbebten, das ihn einen Augenblick unter den Händen der Indianer bedroht hatte. »Wenn nun zufällig ... er nicht dort oben wäre ... Wenn sich der Schatz ... wenn ich mich in bezug auf den Ort getäuscht hätte ...«

Main-Rouge hatte Baraja falsch verstanden, und seine Augen funkelten vor Wut. Er entblößte sein Messer. »Also«, sagte er mit dumpfer Stimme, »gestehst du ein, uns wissentlich getäuscht zu haben ... Ah, es gibt keine Schätze mehr!«

»Ruhig, du Hausierer mit indianischen Skalpen!« rief nun ebenfalls der Mestize mit donnernder Stimme. »Das Alter verdunkelt deinen Verstand. Dieser Mensch sagt nicht, daß es keinen Schatz gibt; und dann, was geht es dich an?« fügte er hinzu. »Wer sagt dir, daß ich einwilligen werde, ihn mit dir zu teilen?«

»Ah«, brüllte der Renegat, »du willst nicht mit mir teilen, du Sohn einer indianischen Wölfin? Wohlan ...« Die beiden Scheusale maßen sich einen Augenblick mit den Augen, als ob der verbrecherische Kampf, von dem Pepe erzählt hatte, sich erneuern sollte.

»Gemach! Gemach!« sagte der Mestize, der vielleicht der einzige Mensch auf der Welt war, der einigen Einfluß auf den wilden Amerikaner gewonnen hatte. »Wenn ich zufrieden mit dir bin, so werde ich dir einige Knochen zum Abnagen hinwerfen; aber ich werde den Löwenanteil für mich behalten, verstehst du?«

Der alte Renegat murrte dumpf und sagte nichts weiter; dann legte sich Sang-Mêlé wieder nieder und sog behaglich den Rauch seines Kalumets ein.

Als der Mestize die letzte Asche aus seiner Pfeife geschüttet hatte, erhob er sich langsam wie der Tiger, der sich nach seinem Schlaf beim ersten Erscheinen der nächtlichen Dämmerung streckt, gegen den Wind wittert und bereit ist, die Jagd zu beginnen. »Es ist Zeit, dem ein Ende zu machen«, sagte er zu dem alten Main-Rouge, der nach der Szene zwischen ihm und seinem Sohn in eine gänzliche Teilnahmslosigkeit verfallen war. »Wir wollen nun sehen, ob der Tod von drei der Ihrigen den Durst nach Rache in der Seele unserer Bundesgenossen erstickt oder aufs neue belebt hat.«

»Sie werden nur um so hartnäckiger darauf bestehen, ihre drei Feinde lebendig haben zu wollen«, antwortete der Amerikaner; »du weißt es so gut wie ich. Und wer kann vorhersagen, wann wir uns ihrer bemächtigt haben werden? Die Zeit drängt, und meine Ansicht ist, daß wir uns ohne viele Umstände bemühen, sie so schnell wie möglich zu töten.«

»Wahrhaftig«, sagte Sang-Mêlé mit spöttischem Ton, »der Durst nach Gold drängt dich gar sehr. Das ist recht gut, aber wie würdest du es anfangen, diese Fische aus ihrem Bad zu locken und sie ohne viele Umstände zu töten?«

Der Renegat suchte einige Augenblicke eine befriedigende Antwort auf die Frage seines Sohnes, und da er keine fand, so schwieg er.

»Du siehst«, fuhr Sang-Mêlé fort, »daß du ohne die Hilfe dieser Indianer nicht leicht zum Ziel kommen wirst; und gerade darum will ich wissen, ob sie noch auf ihrem Plan bestehen, ihrem Häuptling seine drei Feinde an Händen und Füßen gefesselt zuzuführen. Obgleich ich meinesteils das kleinste Stückchen von dem Gold, das uns dieser weiße Luchs verspricht, allem Blut vorziehen würde, das in den Adern der drei Jäger fließt ...«

»Sang-Mêlé hat einen seiner Gnadentage«, unterbrach ihn spöttisch der amerikanische Räuber. »Meinetwegen geschehe, was deine Laune und die dieser ... Indianer will; aber machen wir jetzt ein Ende damit!«

Ohne länger zu zögern berührte der Mestize mit dem Finger einen der wilden Krieger, die auf einer Felserhöhung lagerten, denn diese Unterhaltung fand am Fuß der Felsenabdachung statt. Der Indianer wandte sich um und kam zu ihm herab; es war derjenige, der sich selbst mit dem Namen Gemse bezeichnet hatte. Er heftete auf Sang-Mêlé einen glühenden Blick, in dem man einen düsteren Groll lesen konnte. Man wäre in Verlegenheit gewesen, ob man ihn mehr der Unzufriedenheit oder dem Mißtrauen zuschreiben sollte – vielleicht drückte er beides aus.

»Was will El Mestizo von dem Indianer, der drei seiner Brüder betrauert?« fragte der Krieger.

»Etwas wissen, was mich in Verlegenheit setzt«, sagte Sang-Mêlé: »Nämlich das Mittel entdecken, diese drei weißen Krieger, deren Hände von indianischem Blut gerötet sind, lebendig zu fangen. Eine Wolke verdunkelt den Geist Sang-Mêlés und hindert ihn, eines zu entdecken. Wir müssen die drei Weißen töten.«

»Es gibt ein Mittel: Während wir in der Ebene jagen und das Fleisch der Springböcke und Damhirsche verzehren; während der Duft unseres Wildbrets bis auf den Gipfel des Felsens steigen wird, wo sich die drei Weißen befinden, wird sich der Hunger bei ihnen niederlassen.«

»Das ist sehr langwierig«, erwiderte der Mestize; »die Apachen werden mehrere Tage und mehrere Nächte zählen müssen.«

»Sie werden diese vorübergehen lassen.«

»Die Stunden Sang-Mêlés und Main-Rouges sind kostbar; ihre Geschäfte rufen sie jenseits der Berge. Sie können nur bis zur nächsten Sonne bleiben. Findet die Gemse kein besseres Mittel als den Hunger?«

»Mein indianischer Bruder wird eines finden, weil er mit den Gaben des Indianers den Scharfsinn der Weißen verbindet, denen nichts unmöglich ist. El Mestizo hat es versprochen; er hat nur ein Wort!«

»Die Gemse«, erwiderte der listige Mestize, »hat auch nur ein Wort und hat gesagt: »Die Gemse willigt ein, ihr Leben und das ihrer Krieger zu opfern, um die drei Weißen zu fangen.‹«

»Die Gemse hat nur ein Wort!« erwiderte der Indianer hochherzig.

Sang-Mêlé schien einige Minuten nachzudenken, obgleich sein Plan schon im voraus gefaßt war. Er hatte einen Augenblick gefürchtet, trotz der prahlerischen Worte der Gemse mit schwachherzigen Bundesgenossen zu tun zu haben, und wünschte sich im Grund des Herzens Glück zu dem wirklichen, nicht prahlerischen Mut, den er bei einem von ihnen fand. Der Gedanke, daß nur indianisches Blut fließen sollte, um seine Habgier zu befriedigen, war auch weit davon entfernt, ihm zu mißfallen. »Mein Geist ist jetzt wolkenlos wie der Himmel; meine Augen sehen deutlich die drei Jäger in den Händen ihrer Feinde; aber drei Krieger unter meinen Brüdern werden sie nicht sehen, denn der Tod wird über sie gekommen sein.«

»Sang-Mêlé, dessen Verstand so scharf ist, hätte nicht schon drei andere töten lassen sollen!« sagte der Indianer mit vorwurfsvollem Ton.

»Sang-Mêlé kann seinem Verstand nicht befehlen; er wartet auf seine Eingebungen, wenn sie gerade kommen. Ich sage noch einmal: Drei Krieger müssen ihre Gebeine hier zurücklassen, aber die Hand ihres Bundesgenossen wird sie bewachen.«

»Was hilft es?« sagte der Indianer heldenmütig. »Der Mensch ist geboren, um zu sterben. Welche sind diejenigen unter uns, die ihr Dorf nicht wiedersehen werden?«

»Das Los wird es entscheiden«, antwortete der Mestize. »Gut! Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, oder der Schwarze Falke möchte finden, daß seine Krieger lange Zeit zu dem Entschluß gebraucht haben, zu sterben.« Darauf teilte die Gemse ihren Begleitern die Absichten des Mestizen mit, und alle nahmen mit mehr oder weniger Eifer – doch ohne Ausnahme – den schrecklichen Vorschlag an, der ihnen gemacht worden war. Es blieb nur noch übrig, den Plan des Mestizen kennenzulernen, den dieser auch sogleich entwickelte. Als die Indianer ihn vernahmen, stießen sie ein Freudengeschrei aus, das eine ganze Minute dauerte.

Die drei unerschrockenen Jäger ließen nicht lange auf Antwort warten.

Über den Plan, den der Heldenmut ihrer Verbündeten und die mit Recht berühmte Schlauheit von Main-Rouge und Sang-Mêlé zur Ausführung ebenso leicht als schrecklich machten, wird der Leser später urteilen; jetzt sagen wir nur, daß der Mestize, nachdem er ihn mitgeteilt hatte, sich mit theatralischer Miene auf den Lauf seiner mit Messingnägeln beschlagenen Büchse stützte und den Ausbruch der Freude der Wilden abwartete.

Diese ließen es nicht daran fehlen und nahmen mit neuem Freudengeschrei eines befriedigten Rachegefühls die letzten Worte El Mestizos auf. Auch diesmal blieben die drei Jäger die Antwort nicht schuldig. Dann schritt man zur Ziehung der Todeslotterie.

Die Leidenschaft des Spiels ist bei den wilden Völkerschaften Amerikas viel allgemeiner verbreitet, als man denkt. Sie ist zuweilen so heftig, daß sie – trotz des Eifers der Indianer für die Jagd auf Tiere oder auf Menschen – oft den Sieg über den Blutdurst bei ihnen davonträgt. Es ist mehr als einmal der Fall gewesen, daß wilde Krieger, die im Hinterhalt lagen und im Begriff standen, ihren Feind zu überraschen, diesen entschlüpfen oder sich selbst mitten in einer Knöchelpartie – ihrem Lieblingsspiel – überraschen ließen.

Ein solches Spiel zog jetzt einer der Indianer aus seiner Weidtasche. Die Knöchel dienen auch bei den Indianern statt der Würfel, und man kam überein, daß die drei, die die wenigsten Augen würfen, sich für die allgemeine Sache opfern sollten.

Der Fatalismus der Indianer weicht in keinem Punkt dem der Orientalen, und der Tod hat nur sehr selten etwas Schreckliches für sie. Bei dieser außerordentlichen Rasse ist Feigheit nur selten zu finden. Dies war eine jener feierlichen Gelegenheiten, bei denen die Indianer den größten Ruhm darein setzen, vollkommenen Gleichmut zu zeigen. Hier besonders war noch ein Weißer gegenwärtig, denn sie gefielen sich darin, den Mestizen als einen von ihrer Rasse zu betrachten.

Man würde sich indessen täuschen, wenn man glaubte, daß die Indianer trotz ihrer gewöhnlich düsteren und verschlossenen Stimmung immer mit ihrem stolzen Ernst gewappnet wären. Diese Söhne der Natur haben ebenfalls ihre Augenblicke der Freude und der Mitteilung, in denen die Kinder unserer Städte nicht lärmender sind als die Krieger der Steppe. Aber hier blickte ein Weißer auf die roten Krieger.

Der Mestize und Rothand saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden. Auf ihren Knien lagen die furchtbaren Büchsen, die die letzte Szene in diesem Einzeldrama spielen sollten, wo es sich um das Leben von drei Indianern handelte; sie schickten sich an, die Augen zu zählen.

Der erste, der die Laune des Glücks versuchte, war Gemse. Seine Hand schüttelte die Knöchel und ließ sie dann auf den Sand rollen. Seine schwarzen Augen folgten leidenschaftlich ihren Bewegungen, aber kein Muskel seines Gesichtes hatte gebebt.

»Vierundzwanzig!« sagte der Mestize, nachdem er gezählt hatte, während der Renegat, der etwas mehr von einem Schreiber an sich hatte als seine wilden Gefährten, diese Ziffer in den Sand schrieb.

Da es unmöglich war, die vier Indianer, die die Ebene bewachten, zurückkommen zu lassen, ohne sie einem gewissen und nutzlosen Tod auszusetzen, so waren sie natürlich von der Ziehung ausgeschlossen.

Ein zweiter Krieger folgte der Gemse. Seine Hand berührte kaum die Knöchel; sie rollten zum zweitenmal auf den Sand.

»Sieben!« rief Sang-Mêlé.

»Die Krieger werden den Tod von Felsenherz beweinen«, sagte der Indianer, der seine Leichenrede hielt; »sie werden sagen, daß er ein Tapferer war.«

Jeder von den Knöcheln hatte nur ein Auge gezählt, und sein Schicksal war deshalb nicht zweifelhaft; nachdem jedoch der Indianer so gesprochen hatte, unterdrückte er durch eine gewaltige Anstrengung seines Willens das stürmische Klopfen seines Herzens, das nicht mehr lang in der Brust eines Kriegers schlagen sollte.

Während der Indianer, dessen Schicksal soeben unzweifelhaft entschieden war, mit bewunderungswürdigem Mut eine Gleichgültigkeit zeigte, die seinem Herzen sehr fern lag, mußten sich die anderen derselben Förmlichkeit unterziehen. Das geschah mit demselben Ernst, mit demselben Schweigen. Jeder von den Kriegern suchte etwas darin, dem anderen nicht an Ergebung nachzustehen, und es bedurfte der ganzen unbarmherzigen Hartherzigkeit der beiden Zeugen dieses Heldenmutes, um nicht mit dem Schicksal dieser Tapferen Mitleid zu fühlen, die dem Tod entgegengingen: Opfer der Willkür eines Häuptlings und der Habgier seiner Bundesgenossen.

Die beiden Freibeuter der Prärien waren aber weit vom Mitleid entfernt und nahmen an diesem Schauspiel das ganze Interesse, mit dem die Römer einst den blutigen Festen im Zirkus zuschauten. Sieben und zwölf waren die beiden niedrigsten Würfe, die man bis jetzt gemeldet hatte, und es war nur noch ein Indianer übrig, der nicht um Leben oder Tod gewürfelt hatte. Es war nicht wahrscheinlich, daß seine Hand ebenso unglücklich sein würde als die von Felsenherz. Die höchste Zahl nach zwölf war siebzehn; man konnte also hoffen, daß eine höhere Nummer als die letztere geworfen würde. Auch konnte sich der Apache trotz seiner Anstrengungen nicht enthalten, durch ein nervöses Erbeben jene Liebe zum Leben zu verraten, die niemals erlöschen will. Der Amerikaner zog die Augenbrauen zusammen: der Mestize warf verächtlich die Lippen auf; die Indianer ließen ein dumpfes Murren vernehmen.

Der Krieger ließ die Hand ruhen, die eben die Knöchel hinwerfen wollte, warf einen traurigen, nachdenklichen Blick umher und sagte, um seine Schwäche zu entschuldigen: »In der Hütte von Lufthauch befinden sich eine junge Frau, die erst seit neun Monden darin wohnt, und der Sohn eines Kriegers, der heut erst seine dritte Sonne erblickt.«

Und der Indianer warf die Knöchel hin.

»Elf!« rief der alte Räuber beinahe freudig aus, der es ganz staunenswert fand, daß man sein Weib und seinen Sohn lieben könne.

»Schmerz und Hunger werden die Gäste in der Hütte von Lufthauch sein«, fügte der Indianer mit sanfter, wohlklingender Stimme hinzu, von der er auch seinen Namen erhalten hatte. Sein letzter Gedanke galt den beiden schwachen Wesen, denen die Liebe und der Schutz eines Kriegers zugleich fehlen sollte. Er setzte sich schwermütig abseits, und man beschäftigte sich nicht mehr mit ihm.

Sang-Mêlé warf auf seinen Vater einen triumphierenden Blick der Überlegenheit, worauf dieser mit einem Lächeln wie ein Jäger in guter Laune antwortete, denn das Blut sollte ja unter seinen Augen fließen.

Da nach dem Plan des Mestizen die Krieger nur einer nach dem anderen geopfert werden durften, so kam man überein, zum zweitenmal das Los zu ziehen, wem die schreckliche Ehre zufallen würde, zuerst vorzugehen. Der alte Freibeuter schien begierig, die Aufregung zu verlängern, die ihm dieses Spiel verursachte, denn er hatte diese neue Lotterieziehung veranlaßt.

Dem Lufthauch verblieb der Vorteil oder, wenn man lieber will, der Nachteil, der letzte zu sein.

»Seid ruhig, Kinder«, sagte der Amerikaner mit einer stolzen Gebärde, die seine Farbe ihm einflößte, und der sich keine Mühe gab, die beredte, blumenreiche Sprache der Indianer zu gebrauchen; »ich werde mir eine Pflicht daraus machen, eure Leichen in den Schlund des Wasserfalls zu werfen, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn man den Versuch machen wollte, dort eure Skalpe zu holen.«

Baraja war ein stummer Zuschauer all dessen geblieben, was sich eben, ohne daß er davon wußte, zugetragen hatte. Der indianische Dialekt war unverständlich für ihn, und er suchte vergeblich das Interesse zu erraten, das die Indianer an dieser mitten unter den Vorbereitungen zur Belagerung der Pyramide plötzlich begonnenen Knöchelpartie nehmen konnten. Zwei Gefühle kämpften in seinem Herzen und nahmen ihn ganz in Anspruch.

Furcht und Habgier schienen um die Wette seine geistigen Kräfte zu verdunkeln. Zwanzigmal riet ihm die Furcht, dem Mestizen zu gestehen, daß der Schatz, nach dem er so gierig strebte, beinahe im Bereich seiner Hand sei, und ebensooft erstickte die Habgier das Wort auf seinen Lippen; endlich entschloß er sich, nichts zu sagen. Ein Gedanke, der alles in sich vereinigte, glänzte vor seinen Augen. Wenn die Indianer sich der Pyramide des Grabmals bemächtigten – wie ihre Zahl es recht wohl voraussetzen ließ –, so müßte es ihm ein leichtes sein, während der Mestize und der Amerikaner den Gipfel durchsuchten, in das Val d'Or unter dem Anschein, ebenfalls zu suchen, einzudringen und dort im voraus zur Entschädigung für seine Unternehmungskosten einen hinreichenden Zehnten zu erheben. Er mußte jedoch erst darüber Gewißheit haben, ob die auf der Oberfläche des Tales liegenden Zweige immer noch sein Geheimnis verbargen, und obgleich dies eine gefährliche Unternehmung war, so entschloß er sich doch, sie ins Werk zu setzen.


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