Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

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12 Doña Rosarita

Während des ganzen Rittes von der Poza bis zur Hacienda del Venado war das Schweigen nur selten von den beiden Reitern unterbrochen worden, die zusammen auf einem Pferd saßen. Obwohl Cuchillo keineswegs auf seine Rachepläne gegen Tiburcio verzichtet hatte, so waren doch seine Absichten unter einer anscheinenden Gutmütigkeit, die er nach Bedürfnis anzunehmen wußte, verborgen. Er hatte mehrmals versucht, auf dem Grund der Seele seines Begleiters zu lesen; allein dieser verhielt sich ganz defensiv und suchte seinerseits Cuchillo auszuforschen, denn er vergaß nicht, daß der Mörder Arellanos, seines Adoptivvaters, in seinem letzten Kampf am Fuße verwundet worden war. Cuchillo hatte sich aber jedenfalls mit mehr Gewandtheit verteidigt, als er beim Angriff gezeigt hatte, und so war zuletzt ihre mit Unterbrechungen geführte Unterhaltung nur ein geschicktes Lanzenbrechen gewesen, in dem keiner der beiden Kämpfer gesiegt hatte oder besiegt wurde.

Die Folge davon war jedoch, daß ein instinktmäßiges Mißtrauen der beiden Reisegefährten gegeneinander Wurzeln gefaßt und jeder eine Ahnung davon hatte, daß der andere sein Todfeind sei. Cuchillo war mehr als je entschlossen, sich seiner, auch ohne seiner Sache gewiß zu sein, zu entledigen; der besser gesinnte Tiburcio erinnerte sich des Eides, den er seiner Adoptivmutter geschworen hatte, verschob aber dessen Erfüllung, bis er eine vollkommene Kenntnis des Falls erlangt haben würde. Wir brauchen nicht hinzuzufügen, daß in diesem letzteren Fall der Rächer Marcos Arellanos' die Erfüllung seines Gelübdes nur in einem Kampf auf Leben und Tod sah, aber mit offenem Visier.

Andere Ideen nahmen auch noch die Gedanken Tiburcios in Anspruch: Jeder Schritt brachte ihn derjenigen näher, in der sich seine zärtlichsten Neigungen vereinigten, und wie es dem Herzen des Mannes eigentümlich ist, das zu hoffen, was er nur halb wünscht, so muß er auch immer unübersteigbare Hindernisse sich gegen ihn und gegen den Besitz der Gegenstände auftürmen sehen, nach denen er am eifrigsten begehrt. Darin liegt das Geheimnis der heroischen Entschlüsse.

Während des Rittes war die Aufregung Tiburcios nach und nach gefallen, und er sah nun Unmöglichkeiten, die seine Träume im Nachtlager an der Poza ihn nicht hatten bemerken lassen. Er faßte also den verzweifelten Entschluß, noch diesen Abend zu erfahren, woran er sich zu halten habe.

Als Tiburcio durch die Gunst des Zufalls Doña Rosarita tief im Wald getroffen hatte, verirrt samt ihrem Vater und den Dienern, die sie begleiteten; als er, überglücklich, sie zwei Tage begleiten zu können, der Schönheit des jungen Mädchens jene Huldigung dargebracht hatte, die bei einem jungen Mann eine rasche und tiefe Liebe ist, hatte er sich mit sehr süßen Träumen eingewiegt bis zu dem Augenblick, in dem er erfuhr, daß sie die Tochter des reichen Don Agustin Peña sei, und die ganze Torheit seiner Hoffnungen einsah, indem er die Entfernung maß, die ihn von ihr trennte.

Wenn er also mit so großem Eifer die Hoffnung festhielt, die die Offenbarung des Geheimnisses, das er besaß, in ihm erregt hatte; wenn die ängstliche Gier nach Reichtum ihn quälte, so geschah dies nicht um des Reichtums willen. Er hatte dabei einen noch edleren Zweck, der seinem mehr poetischen als der Wirklichkeit sich hingebenden Charakter viel angemessener war, nämlich den, sich eine goldene Brücke zu bauen, um bis zur Tochter Don Agustin Peñas zu gelangen. Unglücklicherweise konnte er es sich nicht mehr verhehlen, daß er nicht allein das Dasein und die Lage der geheimnisvollen Goldmine wußte. Mit einem Mal leuchtete ihm ein, daß die Expedition, mit der er sich unfreiwillig vereinigt sah, keinen anderen Zweck haben könne als die Eroberung dieses Schatzes, und der Mann, der das Geheimnis mit ihm teilte, mußte sich unter denen befinden, die unter den Befehlen desjenigen standen, den er hatte Don Estévan nennen hören. Die zweideutigen Fragen Cuchillos, sein Aussehen, dieses Pferd, das wie das des Begleiters und Mörders seines Adoptivvaters strauchelte, hatten plötzlich ein aufhellendes Licht in die Dunkelheit seiner Gedanken geworfen – aber das war nicht genug! Wie sollte er sich vollständige Gewißheit verschaffen?

Eine andere, noch viel schmerzlichere Ungewißheit ließ sein Herz höher schlagen: Welche Aufnahme bereitete ihm Doña Rosarita – ihm, dem armen Landmann ohne Hilfsmittel, ohne Familie, ohne Namen, der sich an einer wechselvollen Expedition beteiligt und sich unter den Schwarm der heimatlosen Abenteurer geworfen hatte, die die Habgier mitten in diese Einöden trieb? Traurige Vorgefühle jeder Art stiegen in seiner Seele auf, als der Zug, an dem er so bescheiden teilnahm, die Palisaden der Hacienda erreichte.

Die Schranken waren offen, um sie zu empfangen, und Don Agustin selbst kam seinen Gästen, die er erwartete, entgegen. Er war noch in kräftigem Alter, und sein sonnverbranntes Gesicht trug ganz die ländliche Ungezwungenheit und jenes entschlossene Aussehen, das einem Mann eigentümlich ist, der mitten in Gefahren lebt. Er hatte eine Weste von ungebleichtem chinesischen Batist angezogen, und sein gesticktes Hemd, das sich über einer breiten Brust faltete, ließ in seiner Durchsichtigkeit auf eine rauhe Haut von fast ebenso gebräunter Farbe als sein Gesicht schließen. Mit der seinen Landsleuten eigentümlichen gefälligen Haltung empfing er ehrerbietig Don Estevan und den Senator, und der herzliche Empfang, der Tiburcio zuteil wurde, schien diesem von glücklicher Vorbedeutung.

Die Reisenden waren alle vom Pferd gestiegen; Cuchillo, der aus Ehrerbietung für seinen Chef und um sein Pferd zu besorgen, draußen geblieben war, ließ sich das Zimmer der beiden Abenteurer zeigen, die vorausgeritten waren, und suchte dann die Ställe auf.

Was Tiburcio anlangt, der nicht dieselben Gründe hatte, ähnlich zu handeln, so ging er mit dem Senator Tragaduros und Don Estévan in den gemeinschaftlichen Saal, obwohl mit bleicher Stirn und klopfendem Herzen. Der Saal, in den er durch seinen Gastfreund geführt wurde, war der große Salon, mit dem der Leser schon bekannt ist.

Aber alles verschwamm vor den Augen Tiburcios. Es befand sich dort ein Wesen, dessen Lippen das Rot der Granatäpfel erbleichen ließ, die verschwenderisch auf dem Tisch lagen, und dessen Wangen die rosige Farbe der »Sandias« widerstrahlten: das war Doña Rosarita selbst. Ihr über den Kopf geworfener seidener Schleier ließ dazwischen hindurch die glänzenden Flechten ihres Haares sehen und umgab mit seinen Falten das bezaubernde Oval ihres Gesichts. Der schmale Schleier verhüllte ihre Schultern, fiel aber nicht bis zur Taille hinab, deren Umrisse durch einen scharlachenen Gürtel gehoben wurden, und unter den schillernden Falten des Schleiers verliehen strahlendweiße Arme dem himmelblauen Rebozo einen neuen Glanz.

So anmutig auch das Lächeln war, das sie Tiburcio entgegensandte, so war doch etwas Hochfahrendes in dem Willkommensgruß, mit dem sie den glücklichen Zufall erwähnte, der ihn zu ihrem Vater führte, der für seine guten Dienste ebenso dankbar wie sie sei.

Tiburcio seufzte bei dem Gedanken, daß dieser Zufall durch den Tod seiner Adoptivmutter eingetreten sei und daß diese kalte Höflichkeit weit entfernt sei von der Hingebung, die sie bei ihrem ersten Zusammentreffen gezeigt hatte. Dann richtete er seine Blicke auf seine zerrissenen Kleider, die in seinen Augen einen peinlichen Kontrast zu dem eleganten Anzug der beiden anderen Reisenden bildeten. Während Don Estévan seinen Gastgeber mit jenem feinen Anstand unterhielt, der ihn auszeichnete, verschlang der Senator mit den Augen die Tochter Don Agustins und verfehlte nicht, seine hochtrabenden Komplimente mit den geschmackvollen Artigkeiten zu verbinden, die Señor Arechiza wie ein Mann an sie richtete, der die Welt besser kennt.

Wohl war das Lächeln, mit dem die junge Doña diesen Wetteifer an Artigkeiten aufnahm, sehr verschieden von demjenigen, das sie Tiburcio gewährt hatte. Auch beobachtete dieser ängstlich die gefällige und überlegene Haltung derjenigen, die er schon als Gegner ansah, und vorzüglich die lebhaften Farben der Wangen Rosaritas, das Blitzen ihrer Augen und die unregelmäßigen Bewegungen ihres Busens, der ihren Rebozo sich heben ließ. Sie schien alle naive Freude einer ländlichen Kokette bei den Artigkeiten eines großen Herrn zu empfinden, sobald eine innere Stimme ihr sagt, daß sie verdient sind.

Seinerseits las Don Estévan in den ausdrucksvollen Zügen Tiburcios die Gefühle seines Herzens, und mehr als einmal verglich er wider Willen dessen männliche Schönheit mit der gewöhnlichen Gestalt des Senators; und als ob er gefürchtet hätte, seine geheimen Pläne durchkreuzt zu sehen, runzelte er mehrmals zornig die Augenbrauen, und seine Augen blitzten in düsterem Feuer. Nach und nach hörte er auf, sich an der Unterhaltung zu beteiligen, und schien in tiefe Gedanken versunken. Unmerklich zeigte sich auch ein Zug von Melancholie auf dem Antlitz Rosaritas.

Was den Senator und Don Agustin betraf, so schienen sie beide eine unstörbare Zufriedenheit zu genießen.

In diesem Augenblick kam Cuchillo, von Baraja begleitet, herein, um ebenfalls dem Herrn der Hacienda seine Aufwartung zu machen. Sein Eintreten brachte eine etwas verwirrte Bewegung hervor.

Tiburcio schien jetzt einen verzweifelten Entschluß zu fassen, und den Augenblick der Verwirrung nützend, näherte er sich Rosarita: »Ich würde mein Leben dafür geben«, sagte er zu ihr mit leiser, bittender Stimme, »mit Euch – und wäre es auch nur einen Augenblick – über Dinge von der höchsten Wichtigkeit sprechen zu können.«

Rosarita sah ihn mit erstaunter Miene an, obgleich vielleicht alte Bekanntschaft und die Ungezwungenheit mexikanischer Sitten eine solche Forderung hätten entschuldigen können. Sie machte eine verächtliche Bewegung mit den Lippen und schien zu überlegen; Tiburcio warf einen bittenden Blick auf sie. Da alles bei ihr Sache der augenblicklichen Eingebung zu sein schien, so dauerte die Überlegung nicht lange; sie antwortete kurz: »Heute abend um zehn Uhr werde ich hinter dem Gitter meines Fensters sein.«

Während noch der herrliche Klang ihrer Stimme wonnig in den Ohren Tiburcios widertönte, kündigte man an, daß das Abendessen bereit sei. Man ging in einen anderen Saal.

Eine glänzend servierte Tafel nahm dessen Mitte ein, und das Licht zahlreicher Kerzen, die die kühle Nachtluft in ihren kristallenen Leuchtern erzittern ließ, beleuchtete das alte und massive Silberzeug, das überall funkelte. Obgleich, der Sitte gemäß, der ganze Speisenreichtum, mit dem der Tisch beladen war, für einen europäischen Palast nur eine närrische Parodie aller Regeln der Kochkunst gewesen wäre, so schien er doch allen Gästen, mit Ausnahme Don Estévans, als das Nonplusultra von Luxus und Wohlgeschmack.

Das obere Ende der Tafel war von Don Agustin, seiner Tochter, Don Estévan, dem Senator und dem Kaplan der Hacienda eingenommen. Tiburcio, Cuchillo, Pedro Diaz und Oroche waren an das andere Ende verwiesen worden.

Der Beichtvater sprach das Benedicite. Obgleich er nicht mehr so ganz ohne Umstände stotterte wie damals, als er die Totengebete in der Hütte Tiburcios hersagte, sondern in salbungsvollem Ton ein der Feierlichkeit angemessenes Gebet sprach, erweckte doch seine Stimme im Herzen des verwaisten jungen Mannes die traurigen Erinnerungen, die neuere Eindrücke auf Augenblicke verwischt hatten.

Fröhlichkeit begann bald unter den Tischgenossen zu herrschen. Man sprach von der Expedition, man tat Gelübde auf ihr Gelingen; dann brachte man ungeheure Wasserkrüge wie in alter Zeit, und diese gingen nach und nach aus den Händen eines jeden Tischgenossen zu seinem Mund.

»Ehe ihr euch zurückzieht, meine Herren«, rief der Wirt, »habe ich die Ehre, euch morgen zu einer Jagd auf wilde Pferde einzuladen, die beim Anbruch des Tages stattfinden wird.«

Alle Gäste nahmen die Einladung mit der Nachlässigkeit von Leuten auf, die gut gespeist haben und folglich glauben, daß der folgende Tag ihnen gehört.

»Caramba!« rief Cuchillo. »Ich würde auf die Expedition verzichten, könnte ich täglich eine solche Mahlzeit halten.«

»Das wäre der Teufel«, sagte Tragaduros, der Senator, Don Estévan ins Ohr, »wenn ein Mann, der seine Gäste so aufnimmt, sich weigern sollte, mir tausend Piaster zu leihen.«

Tiburcio sagte nichts; die Eifersucht quälte ihn. Er hatte die Speisen kaum berührt, die man ihm vorgelegt hatte. Er warf nach der Seite Don Estévans, der selbst nicht aufgehört hatte, ihn während des Abendessens mit einem gewissen Mißtrauen zu beobachten, einen Blick des Hasses um aller Aufmerksamkeiten willen, mit denen er Rosarita überhäuft hatte, und tat nur in einem Punkt wie die übrige Tischgesellschaft: er suchte nämlich sein Zimmer auf, das man ihm bezeichnet hatte.

Bald erstarb nach und nach das letzte Geräusch – auch die Diener gingen auf die Gesindezimmer –, und dieses weitläufige Gebäude, noch eben so voll von Lärm, wurde still, als ob alle, die es bewohnten, tief im Schlaf begraben lägen.

Dennoch schlief nicht alles.


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