Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20 Der Waldläufer

Derjenige Teil der Ebene, der sich hinter der Hacienda ausdehnte, war noch ebenso, wie die ersten Ankömmlinge ihn gefunden hatten – das heißt unbebaut und wild. Einen Büchsenschuß etwa von der hinteren Ringmauer erhoben sich, wie wir schon erwähnt haben, die ersten Bäume; sie bildeten den Saum eines ungeheuren Waldes. Er dehnte sich nördlich bis zur Grenze der Steppen aus, an die sich wiederum das Presidio von Tubac anschließt.

Der kaum gebahnte Weg, der sich in dieser Richtung durch diesen windet – und er ist die einzige gangbare Straße zum Presidio –, war von einem wilden Fluß durchschnitten, zwischen dessen abschüssigen, hohen Ufern das Wasser rauschend dahinströmte. Es war dies jener Bach, der an der Hacienda vorbeifloß und in seinem weiteren Lauf noch durch andere Nebenflüßchen größer wurde. Eine Art kunstlos gebauter Brücke, aus zwei Baumstämmen bestehend, die nebeneinander lagen, verband die beiden steilen Ufer, so daß der Reisende dadurch einen langen Umweg vermied, den er hätte machen müssen, um mittels einer Furt über den Waldstrom zu setzen.

Dicht an diesem Weg nun, ungefähr gleich weit entfernt von der über den Gießbach führenden Brücke und der Hacienda, finden wir an einem in einer kleinen Lichtung angezündeten Feuer zwei Personen wieder, die nur einen Augenblick aufgetreten sind – nämlich die beiden unerschrockenen Jäger, die wir seit dem Kampf mit den Jaguaren nur wiedersahen, als Don Estévan und sein Gefolge eben die Hacienda del Venado erreichten.

Zu der Stunde, wo Tiburcio die Hacienda verließ, war der Wald in tiefes Schweigen gehüllt, kaum unterbrochen von dem dumpfen Rauschen des Waldstromes, der in seinem steinigen Bett dahinflutete. Der Mond warf ein bleiches Licht auf den Wald. Seine Strahlen breiteten über das düstere, grüne Laubdach, das sich endlos ausdehnte, eine leuchtende Decke, auf und nieder wogend wie die Wellen des Meeres, und fielen hier und dort durch die leeren Räume zwischen den Stämmen. Sie färbten die graue Rinde der Wurzelträger und der Sumachs mit bläulichem Schein, beleuchteten den rauhen Stamm der Korkbäume und das bleiche Laub des Eisenholzes. Tausendmal durch das Netz der Zweige gebrochen, fiel das Licht geheimnisvoll in die dichtesten Gebüsche. Die grünen und gelben Moose funkelten in Samtglanz unter den breiten Blättern des Arum, dessen Blüten sich wie silberne Schalen darstellten. In einem Feuer von rötlichem Glanz sahen im Gegensatz zu dem bleichen Licht des Mondes die herabhängenden Lianen wie Eisendraht aus, der eben aus der Glut herausgezogen wird. Diesen durch die Flammen erleuchteten Stellen gegenüber war der Anblick der entfernten Waldgründe noch finsterer und drohender.

Dicht bei dieser Feuerstelle, die sich wie gewöhnlich an dem Ort befand, wo die Bäume spärlicher standen, lagerten die beiden Männer, die wir hier wiederfinden, wie Leute, die nach einem ermüdenden Marsch der Ruhe pflegen.

In einer Gegend, in der es einige Meilen in der Runde keine Wohnungen gibt, würde ein so gewöhnliches Ereignis wie ein Nachtlager mitten im Wald bedeutungslos gewesen sein; so nahe jedoch bei einer reichen Hacienda, deren Besitzer durch seine große Gastlichkeit bekannt war, wurde diese Tatsache, wie Pedro Diaz gesagt hatte, viel bedeutungsvoller. Wirklich konnten die beiden Jäger, wenn sie die Hacienda kannten, nur aus besonderen Gründen so allein bleiben.

Ein bedeutender Haufe trockener Zweige erhob sich einige Schritte vor ihnen und bewies, daß es ihre Absicht war, an dieser Stelle den Rest der Nacht zuzubringen. Der Schein der Glut fiel auf zwei Gesichter, die vielleicht am Tag nichts Bemerkenswertes gehabt hätten, denen aber der Glanz des Feuers einen ganz besonderen, phantastischen Ausdruck gab. Es ist hier der Ort, ein Bild der beiden Jäger zu entwerfen, dessen Zeichnung wir bisher aufschieben mußten.

Der erste von beiden trug einen Anzug, der zugleich an den Indianer und an den Weißen erinnerte. Sein Kopf war mit einer Mütze aus Fuchspelz in Form eines abgestumpften Kegels bedeckt. Ein baumwollenes, blaugestreiftes Hemd bedeckte seine Schultern; neben ihm auf der Erde lag eine Art Überrock, aus einer wollenen Decke verfertigt. Seine Beine waren nach Indianerweise durch lederne Gamaschen geschützt. Statt der Mokassins jedoch trug er eisenbeschlagene Schuhe von einer Stärke, daß sie zwei Jahre hindurch aushalten konnten.

Ein sorgfältig glattgeschabtes Büffelhorn hing quer über seinen Schultern und enthielt sein Pulver, während in einem ledernen Beutel, der an der anderen Seite hing, ein reichlicher Vorrat bleierner Kugeln war. Endlich wurde sein Jagdgerät noch durch eine neben ihm liegende Büchse mit langem Lauf und durch ein Jagdmesser, das in einem Wehrgehänge oder vielmehr in einem wollenen, vielfarbigen Gürtel stak, vervollständigt.

An dem sonderbaren Anzug wie auch an dem gigantischen Wuchs konnte man in ihm einen von den kühnen Jägern, den Abkömmlingen der ersten Normannen in Kanada, erkennen, denen man von Tag zu Tag seltener an den Grenzen begegnet und die am Anfang dieser Erzählung erwähnt wurden. Seine Haare fingen an, sehr grau zu werden, und würden kaum gegen seine Mütze abgestochen haben, wenn nicht eine breite, kreisförmige Narbe, die von einer Schläfe zur anderen ging, die Grenze zwischen beiden bezeichnet hätte. Diese Narbe bewies, daß, wenn er auch sein Haupthaar noch besaß, er doch große Gefahr gelaufen hatte, es gewaltsam zu verlieren.

Seine sonnverbrannten Züge schienen aus Bronze gegossen zu sein, soviel helles Licht und scharf dagegen abstechende Schatten verliehen ihnen der Glanz des Feuers und die Dunkelheit der Nacht. Übrigens lag in seinem Gesicht ein Ausdruck von Gutmütigkeit, der ganz zu der herkulischen Kraft seiner Glieder paßte, denn die Natur hat vorsorglich solchen Kolossen ebensoviel Sanftmut als Kraft verliehen.

Obgleich sein Gefährte von ziemlich hohem Wuchs war, so erschien er doch ihm gegenüber wie ein Pygmäe; dem Anschein nach war er fünfundvierzig Jahre alt – das heißt fünf oder sechs Jahre jünger als der Kanadier –, aber sein Gesicht ließ bei weitem nicht auf eine solche Seelenruhe schließen, wie diejenige ist, deren Ursache in einer unwiderstehlichen Kraft liegt. Seine schwarzen Augen hatten einen kühnen, fast trotzig unverschämten Ausdruck; seine stets beweglichen Züge zeugten von heftigen Leidenschaften, die, einmal aufgeregt, sich bis zur Grausamkeit steigern konnten. Alles an ihm ließ einen Mann von einer anderen Rasse in ihm erkennen; einen Mann, in dessen Adern südliches Blut floß.

Obwohl er einen Anzug trug, der dem seines Gefährten beinahe gleichkam, und auch ebenso bewaffnet war, so ließ seine ganze Kleidung doch eher einen Reiter als einen Fußgänger in ihm vermuten. Indes bezeugten seine zerrissenen Schuhe, daß er mit ihnen mehr als einen langen Marsch hatte zurücklegen müssen.

Der Kanadier hatte sich seiner ganzen Länge nach auf das Moos gestreckt und schien mit besonderer Aufmerksamkeit eine Hammelkeule zu überwachen, die an ein Eisenholzstäbchen, das auf zwei kleinen Gabeln von demselben Holz ruhte, gespießt war und über glühenden Kohlen röstete, während deren schmackhafter Saft niedertropfte und zischend ins Feuer fiel. Er entwickelte bei diesem Geschäft so viel gastronomischen Eifer, daß er nur unvollkommen hörte, was ihm sein Kamerad sagte.

»Ich versichere dir«, sagte dieser, der auf einen Einwurf zu antworten schien, »daß, wenn man einem Feind auf der Spur ist – sei er Apache oder Christ – man sich auf gutem Weg befindet.«

»Aber«, antwortete der Kanadier, »du vergißt, daß wir nur gerade Zeit haben, nach Arizpe zu gehen, um den Preis zweijähriger Anstrengungen zu holen, und daß du mich schon zwingst, unsere beiden Jaguarhäute und die des Pumas zu opfern.«

»Ich vergesse niemals meinen eigenen Vorteil; ebensowenig aber vergesse ich auch die Gelübde, die ich getan habe; zum Beweis dafür dient, daß ich schon vor fünfzehn Jahren das getan habe, was ich nun nächstens zu erfüllen hoffe. Ich rechne darauf, noch lange genug zu leben, um jedes Ding zu seiner Zeit zu tun – nur fange ich immer beim Notwendigsten an. Ich werde immer noch die Summen vorfinden, die man uns in Arizpe schuldet; wir werden überall diese drei Häute verkaufen können, die dir am Herzen liegen – aber der Zufall, der mich mitten in diesen Einöden dem Mann begegnen läßt, dem ich soviel Haß angelobt habe, wird mir keine solche Gelegenheit wieder bieten, wenn ich sie entschlüpfen lasse.«

»Bah!« sagte der Kanadier. »Die Rache ist eine Frucht wie viele andere: sie ist süß, ehe man sie gepflückt, sie ist bitter, wenn man sie gekostet hat.«

Einen Augenblick schwiegen beide Jäger, dann begann Pepe wieder: »Es will mir indes vorkommen, Señor Bois-Rosé, daß du in bezug auf die Apachen, die Sioux, die Crow und andere innige – Feinde von dir nicht dieser Ansicht bist, denn deine Büchse hat ihnen ich weiß nicht wie viele Schädel zerschmettert, ohne die Krieger zu rechnen, denen dein Messer den Leib aufgeschlitzt hat.«

»Oh, das ist was ganz anderes, Pepe; die einen haben mir meine Häute gestohlen, die anderen haben mich halb skalpiert, alle haben mich schreckliche Augenblicke erleben lassen; und dann ist es auch eine gerechte Strafe, die Wälder und die Ebenen von solcher Brut zu befreien! Aber obgleich ich mich fast ebensosehr über die Engländer zu beklagen habe, so wird doch niemals meine Büchse einen von ihnen töten, den der Zufall vor die Mündung ihres Laufes führen könnte – ich müßte denn dazu gezwungen sein –, und das um so mehr, wenn es statt eines Engländers ein Landsmann wäre.«

»Ein Landsmann, sagst du, Bois-Rosé? Das ist ein Grund mehr! Man haßt immer nur diejenigen recht von Herzen, die man aus Pflichtgefühl oder seiner Stellung halber lieben sollte, wenn man dennoch besondere Gründe hat, sie zu hassen. Diejenigen, die dieser Mann mir gegeben hat, sind der Art, daß sie nicht so bald vergessen werden könnten, denn vor fünfzehn Jahren habe ich geschworen, ihrethalben Rache zu nehmen. Um dir die Wahrheit zu sagen, so trennte uns ein solcher Abstand, daß ich nicht wußte, wann ich meinen Eid würde erfüllen können, und ich kann es mir noch immer nicht erklären, wie zwei Menschen, die sich in Spanien gekannt haben, in diesen Wäldern einander wieder treffen. Aber dieser Tag ist gekommen, und ich wiederhole es dir: Ich will mir diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen!«

Pepe schien so hartnäckig seinen Entschluß gefaßt zu haben, daß sein Gefährte wohl einsah, wie es verlorene Mühe sein würde, ihm eine andere Ansicht beizubringen, und da er einen nachgiebigen Charakter hatte und die Tat mehr liebte als den Wortstreit, so begann er nach einigem Nachdenken: »Alles in allem habe ich zu lange unter den Indianern gelebt, um deine Anschauungsweise zu mißbilligen, und wenn ich die Gründe kennte, die dich leiten, so würde ich dir vielleicht ganz beistimmen.«

»Das kann ich dir mit zwei Worten sagen«, antwortete der Jäger, den der Kanadier Pepe nannte. »Vor zwanzig Jahren war ich, wie ich dir schon gesagt habe, Grenzsoldat im Dienste Seiner katholischen Majestät. Ich wäre mit meinem Schicksal ziemlich zufrieden gewesen, denn unser Sold war gut; unglücklicherweise zahlte man ihn uns aber niemals aus. Wir hätten wohl, da wir zugleich Küstenwächter waren, auf einen guten Fang der Konterbande, der uns früher oder später entschädigt hätte, hoffen können; aber die Schmuggelei war dabei ebenso selten als die Auszahlung unseres Soldes.

Welche Hoffnung blieb auch wohl den Schmugglern übrig, zweihundert kühnen Burschen gegenüber, die immer auf der Lauer lagen? Wenn ein hungriger Magen, wie man zu sagen pflegt, keine Ohren hat, so hatte in diesem Fall der unsrige Luchsaugen, und vom Capitan bis zum letzten Soldaten fand sich ein erschreckender Eifer in Wachsamkeit und Dienstpflicht.

Unter solchen Umständen betrachtete ich die Sache aus folgendem Gesichtspunkt: Es ist klar, sagte ich zu mir, daß ein Schmuggler, wenn er sich trotz dieser Lage der Dinge an unsere Küste wagt, dies nur unternehmen wird, nachdem er sich mit dem Capitan verständigt hat. Der Capitan würde, wie du wohl denken kannst, eine solche Verständigung nicht zurückweisen und müßte in solchem Fall den Beistand desjenigen unter seinen Grenzjägern in Anspruch nehmen, der ihm das meiste Vertrauen einflößte.

Um zu diesem Ziel zu gelangen, machte ich einen Umweg: Ich tat, als ob ich immer schliefe. Ich hatte dabei einen doppelten Vorteil, denn wer schläft, ißt nicht, und von einem Tag zum anderen hoffte ich den Gewinn mit dem Capitan zu teilen, der mich vor allen wählen würde, in der festen Überzeugung, daß ich auf meinem Posten schliefe.«

In diesem Augenblick holte der Kanadier die Hammelkeule aus dem Feuer, die einen köstlichen Duft durch die kühle Nachtluft verbreitete. »Heran«, sagte er, Pepe unterbrechend, »wenn du Appetit hast; du kannst deine Geschichte beim Essen vollenden.«

»Ob ich Appetit habe?« antwortete Pepe. »Caramba! Die Erinnerung an meine Enthaltsamkeit im Dienst des Königs von Spanien macht mir immer fürchterliche Magenschmerzen.«

Die beiden Männer setzten sich einander gegenüber und bildeten mit ihren Füßen einen länglichen Kreis, dessen Mittelpunkt der Braten bildete; ein gewaltiges Geräusch der Kinnbacken unterbrach während einiger Augenblicke allein die Stille der Wälder.

»Ich sagte dir also«, nahm Pepe wieder das Wort, »daß ich immer schlief; ich tat gar nichts anderes und war wirklich nicht allzu unglücklich dabei. Eines Abends ließ der Capitan mich rufen.

Gut, sagte ich zu mir, da steckt etwas dahinter, denn der Capitan wird mir einen Posten anvertrauen. Wirklich schickte er mich zum Schlafen – so hoffte er wenigstens – an das Ufer des Meeres, und zwar sehr weit entfernt. Aber ich schlief nicht, wie du dir wohl denken kannst.

Ich fasse mich nun kürzer, denn ich spreche nicht gern beim Essen; man verliert zuviel Zeit. Kurz und gut – ein Nachen landete; der Mann, der sich darin befand, mußte Lösegeld bezahlen, dann ließ ich ihn seinen Geschäften nachgehen. – Später erfuhr ich, daß diese Geschäfte durchaus nichts mit dem Handel zu tun hatten. Es wurde Blut vergossen, das mir seit dieser Zeit einige Gewissensbisse macht ... Aber warum bezahlte mich auch der König von Spanien nicht? Ich bekam Geld dafür, daß ich schwieg – ich wollte mehr haben; wir entzweiten uns, jener Mann und ich; darauf zeigte ich ihn, um auch meine Schuld zu sühnen, bei den Gerichten an; der Prozeß begann, und da die Justiz in Spanien die Überraschungen liebt, so war das Resultat dieses Prozesses, in dem ich alleiniger Belastungszeuge war, daß ich schuldig befunden und nach der Präsidentschaft Ceuta geschickt wurde, unter dem Vorwand, der Staat bedürfe meiner dort, um Thunfische zu angeln.

Heilige Jungfrau!« fuhr Pepe fort. »Ein solches Ende setzte mich in Erstaunen und war mir durchaus nicht lieb, denn ich verlor eine prächtige Stelle und hatte gar keine Lust zur Fischerei. Deshalb machte ich mich davon und kam nach tausend Abenteuern, deren Erzählung zu lang ausfallen würde, nach Amerika – und da bin ich nun.«

»Es war also ein reicher und mächtiger Mann, den ihr angegriffen habt?« fragte Bois-Rosé.

»Ei freilich! Es war ein großer Herr; ich war der irdene Topf, der am eisernen zerbricht. Doch in der Steppe gilt kein Rangunterschied mehr, und ich hoffe es ihm morgen früh oder später zu beweisen. Ach, wenn ich doch hier ebenso sicher einen gewissen Alkalden Don Ramon Cochecho und den ihm mit Leib und Seele ergebenen Señor Cayatinta hätte, ich würde sie alle drei eine schlimme Viertelstunde erleben lassen!«

»Wohlan – ich gebe dir recht«, sagte Bois-Rosé, indem er ein Stück Hammelbraten zu sich nahm, das zwei Männer hätte sättigen können; »wir wollen demnach unsere Reise nach Arizpe aufschieben.«

»Es ist, wie du siehst, eine alte Geschichte«, sagte Pepe zum Schluß, »und wenn ich seit zehn Jahren mein Schicksal mit dem deinigen verbunden habe und nach deiner Anleitung Waldläufer geworden bin, nachdem ich Grenzjäger Seiner katholischen Majestät gewesen bin, so verdanke ich es jenem Mann, den wir den Reitertrupp haben befehligen sehen, der die Richtung nach dieser Hacienda einschlug.« Und Pepe zeigte mit dem Finger in der Richtung der Hacienda del Venado.

»Ja, ja«, sagte der Kanadier lachend, »ich erinnere mich noch der Zeit, wo du einen ›Cibolo‹ auf fünfzehn Schritt gefehlt haben würdest, und ich glaube jetzt aus dir einen ziemlich guten Schützen gemacht zu haben, obgleich du noch zuweilen das Auge einer Fischotter mit ihrem Ohr verwechselst, was den Preis ihres Felles immer geringer macht. Aber du brauchst dich nicht darüber zu beklagen, das Garnisonsleben mit dem Waldleben vertauscht zu haben. Ich bin auch nicht immer Otternjäger gewesen. Ich war Matrose, wie du weißt; nun gut, ich finde, daß die Steppe dem Meer gleicht – diejenigen, die darin gelebt haben, können sie nicht wieder verlassen.« Dann nahm er nach einem Augenblick wieder das Wort: »Ich würde indes auf das Meer nicht ohne ein trauriges Ereignis verzichtet haben ... Doch warum von dem sprechen, das nicht mehr ist? Vergangen ist vergangen!«

»Das Leben in den Wäldern hat seinen Reiz, ich gebe es zu«, sagte Pepe; »aber ich habe es nicht gern, daß ein Beruf mir aufgenötigt wird! Nicht darum jedoch zürne ich ihm, sondern der Umstände halber, die dem abenteuerlichen Leben, das ich nun seit fünfzehn Jahren führe, vorangingen und mich dazu bestimmt haben.«

»Still!« unterbrach ihn der Kanadier, indem er seinen Finger an die Lippen legte. »Ich glaube das dürre Gestrüpp brechen zu hören; andere Ohren als die meinigen könnten deine vertrauliche Mitteilungen mit anhören. Das ist übrigens kein Mann, der unbemerkt zu bleiben sucht«, fügte er hinzu, indem er seine Büchse nachlässig zur Hand nahm; »der Mond läßt ja im Dickicht den geringsten trockenen Halm erkennen, und er hätte die Zweige sehen können, die er auf seinem Weg zertrat.«

Pepe warf einen raschen Blick nach der Richtung, aus der der Lärm kam. Das Auge des spanischen Jägers hatte bald einen Schatten bemerkt, der sich auf dem grünen Teppich einer Lichtung, ungefähr dreißig Schritt von ihm, immer mehr verlängerte. Unter allen anderen Umständen würde er über diese Erscheinung nicht unruhig geworden sein – besonders nach den Erklärungen, die der Kanadier abgegeben hatte –, aber der Herankommende näherte sich von der Seite der Hacienda her, und allein aus diesem Grund war er ihm verdächtig.

»Wer geht da?« rief er mit einer Stimme, deren Klang durch die schweigende Nacht erscholl.

»Ein Mann, der einen Zufluchtsort bei Eurem Feuer sucht«, antwortete eine andere Stimme, nicht in dem hellen Ton, den diejenige Pepes hatte.

»Soll ich ihn herankommen lassen oder soll ich ihn ersuchen, seinen Weg fortzusetzen?« fragte dieser den Kanadier.

»Wolle Gott nicht, daß wir ihn zurückwiesen«, antwortete der. »Vielleicht hat man ihm dort unten die Gastfreundschaft verweigert; er ist allein, und seine Stimme, die ich, wie mir scheint, nicht zum erstenmal höre, beweist, daß er ermüdet oder vielleicht krank ist.«

»Wohlan, Ihr seid willkommen am Feuer und beim Essen.«

Gleichzeitig erschien Tiburcios Gesicht, noch bleich von der Aufregung der letzten Ereignisse und auch vom Blutverlust, den er erlitten hatte.

Obgleich seine Züge schon beiden Jägern bekannt waren, so schien doch Pepe davon betroffen zu sein, so daß er eine kaum bemerkbare Gebärde des Erstaunens machte, während das Gesicht des Kanadiers nur jenes natürliche Wohlwollen des Alters für die Jugend ausdrückte.

»Seid Ihr weit von den Reitern verirrt, bei denen Ihr Euch befandet?« fragte Pepe Tiburcio, der sich mehr auf den Rasen fallen ließ, als daß er sich setzte. »Und wißt Ihr nicht, daß Ihr eine Viertelstunde von hier eine bessere Gastfreundschaft als die unsere hättet finden können? Ich kenne den Besitzer des Hauses da unten nicht, aber ich denke nicht, daß er sie Euch verweigert hat. Oder kommt Ihr vielmehr nicht von der Hacienda selbst her?«

»Ich komme von ihr«, antwortete Tiburcio. »Ich kann Don Agustin nicht den Vorwurf machen, mir die Gastfreundschaft verweigert zu haben; aber sein Dach beherbergt Gäste, mit denen ich meiner Sicherheit halber nicht weiter zusammenwohnen kann.«

»Wie denn?« erwiderte Pepe mit mißtrauischer Miene, denn diese Ähnlichkeit mit seinen eigenen Gedanken schien ihm zu offenbar, um nicht einen Hinterhalt zu verdecken. »Ist etwa da unten etwas Außerordentliches vorgefallen?«

Tiburcio schlug seinen Zarapa auseinander und zeigte seinen rechten Arm, dessen Ärmel von Cuchillos Messer zerrissen und mit Blut befleckt war. Dieser Anblick zerstreute Pepes Argwohn vollständig.

»Hier ist meine Hand«, sagte er mit mehr Hingabe, als er zu zeigen glaubte; »wenn mein Verdacht betreffend die Behandlung, die Ihr in der Hacienda erduldet habt, begründet ist, so könnten wir uns, glaube ich, noch verständigen.« Bei diesen Worten warf er einen Blick des Einverständnisses auf Bois-Rosé und streckte Tiburcio die Hand hin, der ihm seine linke Hand reichte.

Der Kanadier setzte seine gastronomischen Verrichtungen aus, um die Wunde seines neuen Gastes zu untersuchen, und tat dies mit einer seltenen Geschicklichkeit und ungeachtet seiner rauhen Gesichtszüge mit einer fast zärtlichen Teilnahme. Teufel«, sagte er, »Ihr habt es mit einem Schelm zu tun gehabt, der eine feste Hand hatte! Einige Zoll seitwärts hätten Eure Abenteuer beendet. Doch es wird nichts zu bedeuten haben, mein Junge, beruhigt Euch!« fügte er hinzu, indem er die auf die Wunde geklebten Kleidungsstücke abnahm, nachdem er sie mit Wasser angefeuchtet hatte. »Ein Verband von gequetschten Kräutern darauf, und man wird keine Spur davon sehen. Pepe, sieh doch zu, ob du dir nicht eine Handvoll Oregano verschaffen kannst; quetsche es zwischen zwei Steinen, und bring es mir her.«

Pepe kam bald mit einem Bündel jenes Krauts zurück, dessen Heilkräfte im ganzen Land so bekannt sind, und befolgte sorgsam die Befehle Bois-Rosés. Dieser legte diese Art von Pflaster auf die Wunde und verband sie mit Tiburcios Gürtel aus chinesischem Flor. »Ihr müßt Euch schon leichter fühlen«, sagte er. »Es gibt nichts Besseres als den Oregano, um Wunden vor Entzündung zu bewahren, und Ihr werdet auch nicht den kleinsten Fieberanfall spüren. Nun, mein Junge, wenn Ihr Appetit habt, so stehen Euch ein Stück Hammelbraten und ein Schluck Branntwein zu Diensten; danach werdet Ihr guttun, Euch beim Feuer niederzulegen und zu schlafen, denn die Müdigkeit scheint Euch zu überwältigen.«

»Ich habe wirklich seit achtundvierzig Stunden so viele Ereignisse Schlag auf Schlag erlebt«, antwortete Tiburcio, »daß es mir vorkommt, als ob ich ein Jahrhundert gelebt hätte; und in diesem Augenblick scheint sich alles im Kreis um mich herum zu drehen. Was das Essen anbetrifft, so danke ich Euch; der Schlaf wird mir die Kräfte wiedergeben, die ich in der kritischen Lage, in der ich mich befinde, nötig habe. Ich bitte Euch nur noch um einen Dienst – nämlich den, mich nicht zu lange schlafen zu lassen.«

»Gut, gut!« sagte Pepe seinerseits. »Ich frage Euch nicht, warum; aber wenn Ihr vorhabt, die Hacienda in Belagerungszustand zu erklären, so bin ich da, und ich habe gute Augen, die Euch zu Diensten stehen! Also schlaft ruhig ein!«

Tiburcio streckte sich lang auf dem Gras nieder, und nachdem er abermals seine beiden Gastfreunde gebeten hatte, ihn kurz vor Tagesanbruch zu wecken, versenkten ihn die Müdigkeit und die aufregenden Gefühle, die er empfunden hatte, sehr bald in einen fast lethargischen Schlaf.

Der Kanadier betrachtete ihn schweigend einige Augenblicke, wandte sich dann an Pepe und sagte: »Wenn die Gesichtszüge nicht trügerisch sind, so glaube ich nicht, daß wir es bereuen werden, diesen armen Burschen aufgenommen zu haben.«

»Ich hatte schon Mißtrauen in ihn gesetzt«, antwortete Pepe; »aber das Zeugnis an seinem Arm beweist mir, daß er keine Freunde unter dem Dach, das er verläßt, gefunden hat, und es wird nur an ihm liegen, ob ich der Seinige werden soll.«

»Wie alt mag er wohl sein?« fragte Bois-Rosé, dessen Gesicht die ganze Teilnahme verriet, die er bei seiner Frage empfand.

»Er ist nicht älter als 24 Jahre, dafür stehe ich!« antwortete der gewesene Grenzsoldat. »Das meinte ich auch«, sagte der Kanadier, der mehr mit sich als mit seinem Freund zu reden schien, während ein wehmütiger Ausdruck seine rauhen Gesichtszüge sanfter erscheinen ließ; »das ist das Alter, das er haben muß, wenn er noch lebt.« Und ein Seufzer entwand sich gegen seinen Willen seiner breiten Brust.

»Wer denn? Wen meinst du?« unterbrach ihn rasch der Spanier, in dessen Seele diese Worte zufällig ein Echo zu finden schienen. »Solltest du jemand kennen ...?«

»Das Vergangene ist vergangen, sage ich dir«, erwiderte Bois-Rosé; »und wenn etwas nicht mehr da ist, dessen Dasein man gern wünschte, so ist es das beste, es zu vergessen. Doch still – lassen wir diese traurigen Erinnerungen! Es würde mir den Appetit rauben, wollte ich mich noch länger dem überlassen, was nicht mehr ist, oder noch länger auf das hoffen, was nicht sein kann. Ich habe einsam in den Wäldern gelebt und muß einsam sterben, wie ich gelebt habe.«

Der ehemalige Soldat, dem die Vergangenheit – obgleich aus einem ganz anderen Grund – ebensowenig freudvoll zu sein schien, sagte nichts mehr über diesen Gegenstand. Beide wechselten plötzlich die Unterhaltung und machten sich, so gut es anging, daran, die Gegenwart zu feiern, deren Symbol für sie die Hammelkeule war – oder vielmehr der Rücken, der allein noch übrigblieb. Daraus folgte denn, daß trotz des guten Willens der beiden Tischgenossen, die Mahlzeit zu verlängern, diese doch endlich ein Ende nehmen mußte.

»Wenn ich das Vergnügen hätte, diesen Don Agustin, der der Besitzer der benachbarten Hacienda zu sein scheint, persönlich zu kennen, so würde ich ihm ein Kompliment über seine ganz besonders wohlschmeckenden Hammel machen«, sagte Pepe, einen tiefen Seufzer leiblichen Wohlbehagens ausstoßend; »besonders wenn man sie in eine dicke Lage Oregano einwickelt, um ihr Fleisch duftig zu machen. Und wenn nur seine Pferde von gleicher Güte zum Reiten sind, so werde ich sehr glücklich sein, eins von ihnen entleihen zu können.«

»Was?« fragte Bois-Rosé. »Bist du nicht mehr mit dem deinen zufrieden?«

»Nein, gewiß nicht! Du weißt wohl, da wir unsere Verfolgung in eine Belagerung verwandelt haben, so muß ich wenigstens mit einem guten Pferd auf jeden Fall versehen sein; ich habe hier meinen Sattel, und somit werden wir wie jede wohl organisierte Streitkraft Infanterie und Kavallerie haben. Ein Pferd weniger wird keine größere Lücke in den Scharen, die diese Wälder durchfliegen, zurücklassen als ein Hammel in den Herden – und mir wird es von großem Nutzen sein.«

»Gut«, sagte der Kanadier. »Ich denke nicht, daß du dem Eigentümer ein großes Unrecht tust, und wünsche dir guten Erfolg. Was mich betrifft, so will ich diesem braven Jungen Gesellschaft leisten; er schläft, als ob er es seit vierzehn Nächten nicht getan hätte!«

»Niemand wird sich wahrscheinlich diese Nacht in der Hacienda rühren; aber trotzdem schlafe nur mit einem Auge, während ich nicht da bin; und sollte es etwas Neues geben, so wird ein dreimaliges Bellen in gleichen Abständen mich benachrichtigen, auf meiner Hut zu sein.«

Mit diesen Worten nahm Pepe den Lasso, der an seinem Sattel befestigt war, und wandte sich nach der Gegend, wo er glaubte ein Pferd anzutreffen. Bois-Rosé blieb allein. Er betrachtete abermals den jungen, neben der Feuerstelle schlafenden Mann, warf trockene Zweige ins Feuer, die einen lebhaften Glanz verbreiteten; dann legte er sich an seiner Seite nieder und war bald ebenfalls eingeschlafen.

Der Abendwind bewegte rauschend die Wipfel, unter denen diese Männer, die einander auf so wunderbare Weise wieder begegnet waren, ruhten und nicht ahnten, daß sie zwanzig Jahre früher lange Zeit Seite an Seite geschlafen hatten – damals eingewiegt vom Brausen des Ozeans wie diesen Abend vom Rauschen der Bäume des Waldes.


 << zurück weiter >>