Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

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48 Vom Becher zu den Lippen

Indessen erhob sich ein unbestimmtes Geräusch an der Einfassung des Val d`Or und vom Fuß der Pyramide her. Der Jäger legte das Haupt des jungen Mannes sanft auf die Erde und näherte sich, die Büchse in der Hand, kriechend dem Rand der Plattform. Seine Augen bestätigten, was seine Ohren gehört hatten, und er wollte eben seinen Platz wieder einnehmen, als er Fabian aufrecht stehend fand.

»Was gibt es?« fragte der junge Mann.

»Nichts, wenn nicht ein halbes Dutzend Schakale, die, vom Geruch des Blutes herbeigelockt, die Erde unten am See aufwühlen.«

»Ach, es ist wahr«, antwortete Fabian niedergeschlagen; »es ist Blut dort unten.«

Beide setzten sich schweigend, und Fabian zeigte mit dem Finger auf Pepe, der, auf den Boden gestreckt, im besten Schlaf wie auf der weichsten Matratze lag.

»Der arme Junge weiß, daß ich für ihn wache, und darum schläft er ruhig«, sagte der Kanadier. »Er hat außerdem jetzt, da sein Eid gelöst ist und er dir das wiedergegeben hat, zu dessen Beraubung er mitgeholfen hatte, eine Last weniger auf seinem Gewissen. Mach es wie er, mein Kind; du hast noch zwei Stunden, ehe es vier Uhr morgens ist.«

»Ich habe genug geschlafen und mit dir noch, während Pepe dort schläft, wichtige Dinge zu besprechen.«

Das Herz des Kanadiers klopfte bei dieser Erklärung Fabians heftig in seiner breiten Brust. Er wartete ängstlich darauf, daß dieser das Wort ergreifen würde.

»Ich habe viele Nächte wie diese hier beim Schein der Sterne durchwacht«, sagte Fabian. »Erzogen in der Einöde, kenne ich jedes nächtliche Geräusch darin; aber es ist mir vorgekommen, als ob heute abend Stimmen seufzten ... Stimmen, die ich noch niemals gehört habe!«

»Das ist wohl möglich«, unterbrach ihn der von solcher Einleitung erstaunte Jäger; »man hört in der Steppe Dinge, die man in den Städten nicht hören kann; in der Steppe ist man Gott näher.«

»Zwei Christen haben am eben verflossenen Tag durch unsere Hände ihr Leben verloren; die Gerechtigkeit würde ihnen Zeit gelassen haben, zu bereuen – sie haben keine dazu gehabt. Glaubst du, daß Gott ihnen vergeben hat? Sind diese Stimmen, die ich gehört habe, nicht die von zwei Seelen im Fegefeuer?«

Der Jäger blieb einen Augenblick still. »Du kannst dir wohl denken«, sagte er zu Fabian, »daß ich im Verlauf meines Lebens, wie ich es immer geführt habe, niemals sicher war, den Untergang der Sonne zu sehen, wenn ich sie hatte aufgehen sehen, oder den Tag zu erleben, der der Nacht folgte, und oft an den Übergang aus diesem Leben in das andere gedacht habe. Wenn Pepe auch sagt, daß er immer nur aus Berechnung Schläfer gewesen sei, so habe ich doch häufiger und länger gewacht als er; ich habe darum auch viele Stunden der Nacht damit zugebracht, über diesen Gegenstand ins klare zu kommen. Wohlan, ich habe immer gesehen, daß ein guter Tod stets ein gutes Leben krönte und daß die Buße stets dem Verbrechen folgte. Ich habe daraus geschlossen, daß die Rechnungen eines jeden schon auf dieser Welt in Richtigkeit gebracht werden und daß, wenn die Seele sich vom Körper losmacht – möge sie nun die eines Gerechten oder die eines Bösen sein, das heißt, möge die Seele nun in ihrer ursprünglichen Reinheit oder durch die Büßungen des Lebens erst gereinigt sein –, sie beide doch vor Gott gleich und alle beide berufen sind, dieselbe Glückseligkeit zu teilen. Ob dies nun in der Geisterwelt geschieht, wie die Indianer es glauben, oder im Paradies der Weißen, das kann ich nicht entscheiden.

Blicke auf den Tod dieser beiden Männer«, fuhr der Kanadier fort. »Der eine hatte nur ein Verbrechen begangen; zwanzig Jahre voller Gewissensbisse hatten es ohne Zweifel gebüßt, denn als Gott ihn zur letzten Buße verurteilt hat, ist der Tod, ohne daß er es ahnte, an ihn herangetreten. Der andere, besudelt mit allen Lastern, von seinem Gewissen niemals beunruhigt, hat in der kurzen Angst vor einem schrecklichen Tod mehr als zwanzig qualvolle Jahre durchgekämpft; einige Sekunden dieser Strafe haben hingereicht, seinen Verstand zu zerrütten.

Nein, Fabian, du hast nicht die Stimmen zweier Seelen im Fegefeuer gehört; die Seele des Bösen ist ein Fegefeuer nur in seinem Körper.«

»Ich muß dir glauben«, sagte Fabian; »ich habe noch wenig Lebenserfahrung, und du stehst an der Schwelle des Greisenalters; du hast viel gesehen, bist gereist, und die Lehren deiner Erfahrung haben in meiner Seele schon neue Gedankenreihen erweckt. Lassen wir also diese traurige Unterhaltung fallen.«

»Wohlan«, sagte Bois-Rosé, »reden wir also von der Zukunft, die dir durch diesen Reichtum, dessen Herr du sein wirst, und durch den Namen, den du wiedererlangen mußt, bevorsteht. O Fabian, wirst du wohl zuweilen im Wirbel dieses neuen Lebens an den Greis zurückdenken, den Gott bestimmt hat, dir das Leben zu erhalten; in dessen Herz er für dich die Zärtlichkeit einer Mutter und die männliche Liebe eines Vaters gelegt hat und für den es eine große Freude gewesen wäre, dir Beweise davon zu geben?«

»Beweise?« antwortete Fabian mit einer Wärme, die das Herz des Kanadiers vor Freude beben ließ. »Hast du mir nicht solche Beweise davon gegeben, daß auch die glühendste Dankbarkeit beinahe nur als Undankbarkeit erscheinen müßte?«

»Ach«, sagte der Jäger, »als ich in dem jungen Mann, der mit einer von Schmerz und Ermüdung gebrochenen Stimme die Gastfreundschaft an meinem Feuer in Anspruch nahm; das Kind, das ich immer beweinte, wiedererkannt hatte, da wagte ich zu hoffen, irgend etwas für dich tun zu können. Ich konnte in Arizpe die Frucht einer zweijährigen Jagd in Empfang nehmen, auf der jeder Schritt eine Gefahr gewesen war; ich war in dem Gedanken glücklich, dir diese Summe zu überreichen – aber ein einziger von diesen Goldkieseln ist zehnmal mehr wert als sie! Was könnte ich jetzt ihrem Besitzer anbieten? Nichts weiter; nichts als den Tod für ihn!« fuhr der Jäger mit Bitterkeit fort. Dann, als er sah, daß Fabian immer noch schwieg, und er sein Schweigen vielleicht falsch auslegte, sagte er auf die Gefahr hin, seinen schönsten und letzten Traum zu zerstören: »Fabian, mein Kind, ist das alles, was du mir zu sagen hast?«

In dem Augenblick, wo Fabian antworten wollte, erscholl ein fernes Getöse aus dem Nebel der Hügel und schien in der Ebene ein bestimmteres Echo zu finden. Der Wind trug zu den Ohren der beiden Sprechenden weniger dumpfe Donner als das Geräusch von unterirdischen Feuern in den Nebelbergen. Dieses ferne Getöse näherte sich zuweilen in ungleichen Zwischenräumen, als ob es von einem Gewehrfeuer herrühre. Die Nacht leiht solchen düsteren Tönen immer einen feierlichen Charakter; jeder Widerhall schien den Todeskampf eines menschlichen Wesens anzudeuten. Der Jäger vergaß einen Augenblick seine sorgenvollen Gedanken, um aufmerksam zu lauschen, und gab Fabian ein Zeichen mit der Hand, mit der Antwort noch zu warten.

Im selben Augenblick sprang der frühere Grenzjäger auf die Füße und näherte sich Bois-Rosé. »Das ist derselbe Lärm«, sagte er, »den wir in der vorigen Nacht gehört haben; aber horcht ... das Feuer verteilt sich in der Ebene. Ach, die Unglücklichen haben nicht mehr die Deckung ihres Lagers; die Befestigungen sind wahrscheinlich erstürmt; nun muß bei jedem Schuß ein Mann fallen, und die Apachen werden eine reiche Skalpernte halten! Wehe uns, wenn die Indianer sie alle vertilgen, denn bis jetzt ist die Nähe der Expedition unsere Rettung gewesen. Wir sind eine Nacht zu lange hier geblieben, Bois-Rosé.«

Die drei Freunde lauschten wiederum und verhielten sich ganz ruhig. Pepe hatte recht, wenn er sagte, daß die ganze Aufmerksamkeit der indianischen Horden auf die Schar der Abenteurer gerichtet wäre und sie es nur dieser Dazwischenkunft zu verdanken hätten, daß die einzelnen Männer so weit in die Steppe vordringen konnten. Es war dies übrigens, wie wir schon gesagt haben, nicht die einzige tollkühne Unternehmung, die der Kanadier und Pepe zu einem guten Ende geführt hatten, und andere vor ihnen hatten ebenfalls glücklich diese gefährlichen Ebenen durchstreift. Aber so unerschrocken man auch sein mag, so hat doch die Nähe der Gefahr – in der Nacht besonders – etwas Ernstes, und es war offenbar, daß die Gefahr sich näherte.

Stunde und Ort waren ganz dazu geeignet, traurige Gedanken einzuflößen; die Nacht, die den Hinterhalt verdeckt, die schauerlichen, rings um sie her hängenden Siegestrophäen zeugten von dem Schicksal, das die Besiegten von mitleidlosen Feinden zu erwarten hatten. Der Knall der Schüsse schien näher zu kommen, und von einem Augenblick zum anderen konnte ein Flüchtling, der die Richtung zur Pyramide, ihrem Zufluchtsort, verfolgte, etwa zwanzig Indianer zu den drei Jägern leiten.

»Wenn es nur etwa zwanzig wären«, antwortete Bois-Rosé auf die von dem ehemaligen Grenzjäger ausgesprochene Befürchtung, »so sollte bei der Stellung, die wir einnehmen, keiner von diesen Hunden einen Fuß auf die Plattform setzen; und bei dieser Gelegenheit, Fabian, muß ich dir meinen Rat wiederholen, der nicht zu verachten ist. Dein Blut ist zu feurig, mein Kind, und die Gefahr berauscht dich noch; merke dir's, man läßt sich aus allzu großem Mut ebenso wie aus zuviel Feigheit töten. Ein junger Mann kann der Versuchung nicht widerstehen, sobald er eine geladene Büchse in seiner Hand fühlt, davon Gebrauch zu machen; erinnere dich aber, daß jeder von uns nur Feuer geben darf, wenn die Reihe an ihm ist – und zwar, ohne sich zu beeilen –, und daß der dritte, ehe er seinen Schuß abgibt, immer warten muß, bis die beiden anderen wieder geladen haben. Das ist eine Taktik, deren Vortrefflichkeit Freund Pepe ebenso wie du kennengelernt hat, und auf diese Weise haben sechs Mann für jeden von uns nichts Schreckliches, obgleich sie zusammen achtzehn ausmachen. Nur – wenn es mehr sind, wird die Sache bedenklich, weil nach sechs Schüssen der Lauf heiß und schmutzig wird, auch die Kugel nicht mehr so gerade fliegt. Ich habe es bei mir selbst gesehen, wie ich so nach dem rechten oder linken Auge eines solchen Schelms gezielt habe und nachher sehr erstaunt war, ihn an den Augenbrauen getroffen zu haben. Was dich betrifft, so laß dich nicht von der Eigenliebe verleiten, und ziele nur auf die ganze Brust; das ist zwar weniger rühmlich, aber sicherer.«

Während Bois-Rosé diese Ratschläge mit dem kalten Blut und der Klarheit eines Professors am Katheder erteilte, hatte sich das Knattern des Gewehrfeuers abermals entfernt, und noch war keine Viertelstunde verflossen, als es ganz aufgehört hatte.

»Die Luft wird frischer«, nahm der Kanadier wieder das Wort; »der Wind führt uns den Geruch des Laubes zu, und die Schakale haben aufgehört zu heulen. Das ist ein Zeichen, daß die Morgendämmerung naht. Noch eine halbe Stunde, und wir müssen uns auf den Weg machen; der Tag wird uns zeigen, welchen Weg wir einschlagen müssen, um nicht mehr gerade mitten unter die Indianer zu geraten; die Spuren können uns nicht entgehen. Die Stunde, die dem Anbruch des Tages folgt, ist vortrefflich dazu geeignet, sie zu entdecken, denn der vom Tau weiche Boden bewahrt alle Eindrücke. Doch vorher können wir noch essen, um Kräfte zu gewinnen.«

Und kaum waren einige Augenblicke verflossen, so war auch durch die Macht der Gewohnheit bei den Männern, die nur die gegenwärtige Gefahr für etwas Beachtenswertes halten, die vollständigste Sicherheit an die Stelle der Befürchtungen getreten. Während das einfache Mahl, das in einer Handvoll Pinole für jeden bestand, in aller Eile eingenommen wurde, fühlte Fabian, daß endlich der Augenblick gekommen sei, seine Pläne für die Zukunft demjenigen zu eröffnen, den die Dankbarkeit ihn wie einen Vater ansehen ließ. In den republikanischen Sitten eines Landes, das er für sein Vaterland gehalten hatte, bestand die Ehrfurcht vor der Familie und dem väterlichen Ansehen noch in ihrer ganzen Heiligkeit, und der junge Graf von Mediana folgte unwillkürlich den Eindrücken seiner Erziehung.

»Bois-Rosé, mein Vater!« sagte Fabian.

Bei dieser Anrede erbebte der Jäger, denn er erkannte an der feierlichen Haltung und an der Erregung in der Stimme des jungen Mannes, daß er vor einem der wichtigsten Augenblicke seines Lebens stünde, und sein Herz schlug noch heftiger als bei der Nähe der Gefahr, die sie eben bedroht hatte. Pepe fühlte ebenfalls, daß er vielleicht zuviel sein könnte, und entfernte sich rücksichtsvoll einige Schritte weit.

»Mein Vater«, wiederholte Fabian, » – denn diesen Namen auszusprechen, wird mir immer eine süße Pflicht sein –, du hast in den großen Städten Europas und in unseren Steppen gelebt, und du bist gerade darum imstande, den Unterschied beider zu würdigen.«

»Ja«, antwortete Bois-Rosé, »in den fünfzig Jahren meines Lebens habe ich den Prunk der Städte mit der Großartigkeit der Steppe vergleichen können.«

»Diese großen Städte, in denen sich Tausende von Menschen drängen; diese hohen Paläste, einer neben dem anderen, müssen ein schöner Anblick sein. Man ist glücklich, in ihnen zu leben, nicht wahr? Denn dort muß ja kein Tag dem vorhergehenden gleichen!«

»Es ist wirklich etwas sehr Schönes«, erwiderte der alte Jäger spöttisch, »diese großen Straßen, in denen eine geschäftige Menge dich stets im Vorbeigehen anrennt und wo das Rollen der Wagen dich betäubt; diese Häuser, in denen Luft und Licht, die Gott in der Steppe so verschwenderisch ausgeteilt hat, dir spärlich zugemessen sind; wo der Arme auf seinem harten Lager vor Elend stirbt, während der Lärm von den Festen der Reichen zu ihm herüberschallt; wo ...«

Bois-Rosé hielt plötzlich inne; er begriff auf einmal, daß er auf falschem Weg sei, daß eine solche Schilderung hieß, auf Fabians Lippen das erwartete Anerbieten ersticken, das Leben in den Städten mit ihm zu teilen. Es ist so natürlich zu hoffen, was man so glühend wünscht!

Der Jäger unterbrach sich also und fügte ohne Übergang hinzu: »Ich meinesteils würde sehr glücklich sein, dort mein Leben zu beschließen.«

Bei den letzten Worten Bois-Rosés bekam Pepe einen schalkhaften Hustenanfall.

Fabian glaubte, ihn falsch verstanden zu haben. »Dann hat also«, fuhr er fort, »das Steppenleben den Reiz für dich verloren, den du so sehr an ihm rühmtest?«

»Hm«, erwiderte Bois-Rosé, »es würde ein sehr schönes Leben sein, wenn man nicht der Gefahr ausgesetzt wäre, heute vor Durst, morgen vor Hunger zu sterben, ohne die Gefahren zu rechnen, sein Leben und seine Kopfhaut an die Indianer zu verlieren.«

Pepes Husten schien einen krampfhaften Charakter anzunehmen.

»Das ist jedoch nicht das, was ich dich so oft habe sagen hören«, antwortete Fabian erstaunt.

»Glaubt ihm nicht«, unterbrach ihn plötzlich herantretend der frühere Grenzjäger. »Der Matrose, der Ottern- und Biberjäger sollte den Aufenthalt in den Städten der freien Bewegung in der Steppe vorziehen? Weg damit! Seht Ihr denn nicht, daß der arme Bois-Rosé hier eine erbärmliche Komödie spielt? Weil er nicht ohne Euch leben kann, so bildet er sich ein, ein junger, glänzender Señor, wie Ihr es in Madrid sein werdet, könnte ein außerordentlich großes Vergnügen darin finden, sein Leben in Gesellschaft eines alten Graubarts, wie er ist, hinzubringen.«

»Pepe!« rief der Koloß mit donnernder Stimme, indem er sich wie eine Eiche vom Boden aufrichtete.

»Ich werde trotzdem sprechen«, sagte der Spanier. Dann wandte er sich an Fabian. »Bois-Rosé sollte sich in eine Stadt einschließen, in einem solch steinernen Käfig von einem Haus? Das ist unmöglich! Er will Euch täuschen, ohne sich selbst täuschen zu können! Der Arme! Er weiß recht gut, daß er darüber sterben würde! Wißt Ihr, was er haben muß? Die Unermeßlichkeit vor sich, einen Pfad wie die Sonne zu verfolgen, das heißt, ohne daß ihn etwas aufhält. Er muß für seine weiten Lungen die mit dem Duft der Wildnis erfüllte Luft der Steppe haben, und das Geheul der Indianer muß diese Luft zuweilen durchzittern. Nein, nein«, fuhr der Spanier fort, »der alte Löwe könnte nicht auf der Streu sterben wie ein verschlafenes Murmeltier!«

»Das ist wahr, das ist wahr!« murmelte seufzend der Kanadier. »Aber seine Hand würde mir doch wenigstens die Augen zudrücken!« Und der Greis ließ in der Bekümmernis seines Herzens das Haupt auf die Brust sinken.

»Und ich?« rief Pepe aus, von einem stillen Schmerz erfaßt. »Bin ich nicht da? Ich, der ich seit zehn Jahren nicht aufgehört habe, dich wie einen Bruder zu lieben; ich, der ich seit zehn Jahren deine Kämpfe und deine Beschwerden geteilt habe?« Und er schüttelte mit rauhem Druck die Hand des Jägers, die schlaff an seinem Körper herabhing.

Fabian kam ihm zu Hilfe: »Hört«, sagte er; »hört alle beide! Ich habe meine moralische Kraft zu hoch angeschlagen; ich habe geglaubt, meine Rache und meinen Ehrgeiz nebeneinander befriedigen zu können. Meine Rache ist gestillt, mein Ehrgeiz ist erloschen. Die Nacht und die Einöde haben mir Rat erteilt, und ich habe von einem schrecklichen Beispiel gelernt. Der vornehme Señor ist gekommen, um hier eines ruhmlosen Todes zu sterben; der habgierige Bandit hat sein Grab bei den Schätzen gefunden, nach denen er lüstern strebte. Was ist beiden übriggeblieben?«

Der Greis richtete die Augen auf Fabian, in denen sich Rührung und angenehme Überraschung spiegelten. Er fing an zu begreifen, ohne daß er doch schon zu hoffen wagte. »Fahre fort!« sagte er mit zitternder Stimme.

»Der Reichtum«, nahm Fabian das Wort, »hat nur Wert – ich fühle es recht gut – durch den Schweiß, den er gekostet hat; aber um welchen Preis hätte ich ihn wohl erkauft? Ich habe mit dir nicht gelebt, ohne ganz die Weisheit deiner Lehren zu begreifen; dieses Gold könnte ich verabscheuen, denn ich müßte mir sagen, daß ich Blut vergossen habe, um aus dem Nachlaß der Toten Vorteil zu ziehen; ich werde es also nicht anrühren. Meine Kindheit, sagt ihr, ist vom Luxus umgeben gewesen – ich habe es vergessen; ich erinnere mich nur an die Tage meiner harten, an Arbeit reichen Jugend. Ich bin der einzige meines Geschlechts, habe die Freiheit, zu handeln, wie ich will, und habe schon, so jung ich auch noch bin, Tote und Lebende vergessen. Ach, mein Vater, mein Freund, ich bitte euch darum wie um eine Gunst, bei euch in diesen Steppen bleiben zu dürfen, eure Gefahren zu teilen und mich diesem unabhängigen Leben anzuschließen, das kein anderes mir ersetzen könnte. Sage, Bois-Rosé; sage, Pepe – wollt ihr das?«

»Bei Gott! Ob ich es will?« antwortete der Grenzjäger mit einer Stimme, die er schrecklich zu machen sich bemühte, um seine Aufregung zu verbergen.

»Und du, mein Vater, du sagst nichts?« fragte sanft der junge Mann.

Der alte Jäger blieb in der Tat unbeweglich und stumm; unter dem Eindruck einer tief ergreifenden Freude konnte er nur seine Arme öffnen und mit gebrochener Stimme sprechen: »Mein Sohn, mein Fabian! Komm an mein Herz!«

Und der junge Mann fühlte sich von den Armen des Riesen krampfhaft umschlungen.

Für Bois-Rosé ging nun ein neues Leben auf. In diesem Augenblick allein fand er das Kind seiner Liebe wieder, um es nicht mehr zu verlassen. Dann hob er ihn von seiner Brust langsam auf seinen nervigen Armen gen Himmel wie einen Neugeborenen, den ein Vater Gott darbietet, und sagte: »O Herr, verzeih mir, aber ich habe nicht die Kraft, ihm abzuraten!«

»Das ist ein Entschluß, den Ihr einst bereuen könnt«, sagte Pepe zu dem jungen Mann, den der Kanadier eben sanft auf die Erde gesetzt hatte, noch ganz benommen von der rauhen Umarmung; »bedenkt das wohl, während es noch Zeit ist!«

»Ich habe reiflich darüber nachgedacht! Was soll ich in einer Welt tun, die ich nicht kenne?« antwortete Fabian. »Ich habe einen Augenblick nach Reichtümern und Ehren gestrebt – nicht für mich, sondern um sie mit jemand zu teilen. Noch vor wenigen Tagen hoffte ich; heute hoffe ich nicht mehr, und ich würde erröten, nur meiner neuen Stellung das verdanken zu müssen, was ›sie‹ dem verweigert hat, der ihr damals nur eine glühende Liebe zu bieten hatte.«

Bois-Rosé und Fabian waren in Gedanken versunken und achteten nicht darauf, daß der frühere Grenzjäger, nachdem er einige Augenblicke hinter dem Stamm der beiden Tannen, die auf der Plattform wuchsen, gesessen hatte, mit langsamen Schritten in die Ebene hinabgestiegen war, indem er einem jener plötzlichen Antriebe zu gehorchen schien, auf die man hört, ohne sich Rechenschaft davon zu geben; deren Resultate jedoch zuweilen einen so mächtigen Einfluß auf das Leben eines Menschen haben. Der Mond wollte eben untergehen, und warf seine letzten zauberischen Strahlen auf das Val d'Or, als Pepe sich leise durch die Hecke von Baumwollstauden und Weiden hindurchwand.

Der Grenzjäger betrachtete einige Augenblicke lang mit schwermütiger Aufmerksamkeit den regenbogenfarbigen Schein, den die Goldkiesel, deren erster Anblick für ihn die Quelle so schrecklicher Gedanken gewesen war, ausstrahlten. Pepe konnte sich immer noch nicht solche Gedanken verzeihen, obgleich er mit Recht stolz darauf sein konnte, sie gebändigt zu haben. »Wieviel auch Fabian von diesen Reichtümern mitnehmen mag«, sagte er zu sich, »es wird immer noch genug davon übrigbleiben, um viele Seelen ins Verderben zu stürzen, die weniger stark sind als die meinige. Da ich aber dieses Tal seiner Schätze nicht berauben kann, so will ich wenigstens deren Glanz denen verbergen, die der Zufall hierher führen wird. Der Reisende wird künftig an diesem Gold vorübergehen, ohne sein Dasein zu ahnen. Vielleicht verhüte ich dadurch viele Verbrechen; vielleicht rette ich viele Seelen vom Verderben.«

Mit diesen Worten stieß Pepe mit dem Fuß den Goldhaufen auseinander, den Cuchillo auf seine Zara zusammengetragen hatte, und als er verächtlich die Oberfläche des Tals geebnet hatte, warf er den Mantel des Banditen über die Hecke. Dann zog er sein Messer, schnitt einige Arme voll Gras, Lianen und Binsen ab und bedeckte damit sorgfältig den Schatz. Nichts verriet nun mehr dem Auge das Dasein des Goldes unter diesem grünen Schleier. Der geringste Widerschein davon war verschwunden, und als ob der Mond bedauert hätte, nicht mehr mit seinen Strahlen dieses Wunder des Schöpfers liebkosen zu können, so verschwand er in dem Augenblick, als Pepe seine Arbeit beendet hatte, ebenfalls hinter den Hügeln.

Pepe kehrte nach Beendigung dieses Werkes zurück und setzte sich schweigend hinter die Tannen auf der Plattform, wo der Kanadier und Fabian miteinander sprachen.

»Du wählst den rechten Weg, mein Kind«, sagte der alte Jäger. »Die Stirn, die Gott dem Menschen gegeben hat, um sie hoch zu tragen, soll sich weder über Bücher noch auf die Erde neigen; nicht einmal, um seinen Lebensunterhalt von dieser zu verlangen. Der Reichtum vertrocknet das Herz; der Aufenthalt in den Städten macht den Körper schwach und kränklich. Du gehörst auch zum Löwengeschlecht, Fabian; sein Reich ist in der Wüste. Ein wildes Pferd zu bändigen; an den Flüssen und Wasserfällen zu fischen; in den Wäldern und Ebenen, die weder Grenzen noch Herren haben, zu jagen; an List mit seinen Feinden zu wetteifern, sie durch Kraft zu bezwingen; dann des Abends träumend unter dem Gewölbe des Himmels beim Schein des Feuers, beim Glanz der Sterne, dem Rauschen des Windes und der Bäume, dem Murmeln des Wassers zu lauschen dieser ewigen Melodie, die die Natur dem Menschen singt und die man vor dem Geräusch der Städte nicht hören kann – das ist das Los, das Gott ihm bestimmt. O mein Sohn, ist dieses Los nicht des Abkömmlings der Mediana würdig?«

»Ihr hört es, Pepe!« rief der junge Mann. »Habt Ihr mir ein höheres Ziel vorzuschlagen?«

»Meiner Treu, nein!« sagte der Spanier. »Nicht einmal den Rang eines Capitans der königlichen Jäger, den ich früher so sehr beneidet habe.«

»Wahrlich, Fabian«, fuhr der Jäger fort, »das erste Otternfell, das du verkaufen wirst, wird dir mehr Vergnügen machen als Säcke mit Gold, die du dir einsammeln könntest. Ich werde aus dir einen Schützen machen, wie ich einen aus Pepe gemacht habe, und wir drei zusammen werden ausgezeichnete Geschäfte machen. Es fehlt dir jetzt weiter nichts mehr als eine gute Kentuckybüchse, und es wird sich wohl irgendeine gute Seele finden, die uns eine auf Kredit gibt«, fügte der Jäger humorvoll zum Schluß hinzu.

»Warum warten wir dann mit dem Abmarsch?« fragte Fabian mit einem Lächeln, das seinem aufgeregten Herzen die Treuherzigkeit des Kanadiers entlockt hatte, der gar nicht daran dachte, daß er einen Schatz von unermeßlichem Wert unberührt zurückließ.

»Laßt ihn nur sprechen, Don Fabian!« sagte Pepe, indem er ihn mit dem Ellbogen stieß. »Ich habe von dort unten etwas mitgenommen, um Eure Büchse bar zu bezahlen.« Und Pepe zeigte Fabian mit triumphierender Miene ein Stück, so groß wie eine Nuß – die einzige Anleihe, die er sich bei dieser wunderbaren Goldmasse zu machen erlaubt hatte, als er sie zu seinen Füßen hatte, um sie jedem menschlichen Auge zu entziehen.

In dem Augenblick, als die drei edelherzigen Männer vom Hügel in der Richtung hinabsteigen wollten, wo sie Gayferos an dem bekannten Ort zurückgelassen hatten, hörten sie in der Stille der Nacht den Galopp eines Pferdes auf dem dröhnenden Boden der Ebene widerhallen.

Eine schmerzliche Aufregung ergriff das Herz des Kanadiers, aber er verbarg die Unruhe, die er innerlich fühlte. »Es ist ohne Zweifel«, sagte er, ohne daß er es selbst zu glauben wagte, »irgendein Flüchtling aus dem mexikanischen Lager, der diese Richtung eingeschlagen hat.«

»Wolle Gott, daß es nicht noch etwas Schlimmeres ist!« erwiderte Pepe. »Ich wundere mich nur darüber, daß die Nacht so ruhig vergangen ist, während es doch gar nicht weit von hier umherstreifende Indianer und Weiße gibt, die noch beutegieriger sind als die Rothäute, und diese verdammten Schätze sich ganz in unserer Nähe befinden.«

»Ach, ich sehe den Reiter!« sagte Fabian mit leiser Stimme. »Aber die Nacht ist seit dem Untergang des Mondes so dunkel, daß ich nicht unterscheiden kann, ob es ein Freund oder ein Unbekannter ist. Daß es aber ein Weißer ist, davon bin ich überzeugt.«

Der Reiter sprengte weiter und schien auf seinem Weg weit von der Pyramide vorüberkommen zu müssen, als er plötzlich eine Wendung machte und dem indianischen Grabmal zusprengte.

»Heda, Freund! Wer seid Ihr?« rief Bois-Rosé spanisch.

»Ein Freund, wie Ihr sagt!« antwortete der Reiter, dessen Stimme jeder der drei Jäger wiedererkannte. Es war Pedro Diaz' Stimme. »Hört mich alle drei, und benützt, was ich euch sagen werde!«

»Sollen wir zu Euch hinunterkommen?« fragte der Kanadier.

»Nein; ihr würdet vielleicht nicht mehr Zeit genug haben, wieder auf eure Festung hinaufzusteigen. Die Indianer sind Herren der Ebene; meine Gefährten sind fast alle ermordet; ich habe kaum dem Blutbad entrinnen können.«

»Wir haben das Gewehrfeuer gehört«, sagte Pepe.

»Unterbrecht mich bitte nicht«, sagte Diaz; »die Zeit drängt. Durch Zufall bin ich eben einem Schelm begegnet, den ihr besser nicht hättet entkommen lassen: nämlich Baraja. Er führt zwei Piraten dieser Steppen und Apachen gegen euch, die ich nicht Zeit gehabt habe zu zählen. Ich habe nur einige Minuten Vorsprung vor ihnen gewinnen können. Sie sind mir auf den Fersen. Lebt wohl! Ihr habt mich geschont, als ich euer Gefangener war; möge die Warnung, die ich euch zukommen lasse, meine Schuld gegen euch quitt machen. Was mich anlangt, so will ich nicht weit von hier Freunde benachrichtigen, die ebenfalls in Gefahr sind, denn die Freibeuter, die mir folgen, verbergen ihre Pläne nicht. Wenn ihr ihnen entkommt, so sucht die Gabel des Red River zu erreichen, dort werdet ihr Tapfere finden, die ...«

Ein von unsichtbarer Hand abgeschossener Pfeil pfiff dicht an Diaz vorbei und unterbrach ihn. Die Zeit drängte wirklich; und der Abenteurer gab, nachdem er diese unvollständige Warnung hingeworfen hatte, seinem Pferd beide Sporen, wobei er als letzte Warnung für seine Freunde und als letzten Hohn für seine ihn verfolgenden Feinde mit schallender Stimme rief: »Schildwache! Nimm dich in acht!«

Und das Echo wiederholte noch diesen Alarmruf, als Diaz schon in der Finsternis mitten in der unermeßlichen Einöde verschwunden war. Zur selben Zeit heulten Wölfe auf verschiedenen Seiten der Ebene.

»Das sind die Indianer«, sagte Bois-Rosé; »sie haben die Wölfe beschäftigt gesehen, Reste des Pferdes dort unten zu zerreißen, und ahmen ihre Stimme nach, um einander Nachricht zu geben! Aber diese Teufel können alte Jäger, wie wir sind, nicht täuschen!«


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