Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

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43 Die Schakale wollen den Anteil der Löwen haben

Fabian, Bois-Rosé und der spanische Jäger hatten, beherrscht vom raschen Verlauf der Ereignisse im vorhergehenden Kapitel, einige Augenblicke lang das Verschwinden Barajas und Oroches ganz vergessen.

Man hat genug von den geheimen Gedanken gesehen, die in den Herzen der beiden Taugenichtse einige Zeit vor der Katastrophe aufstiegen, durch die sie sich plötzlich von ihren Gefährten getrennt fanden; man wird also auch ihre Stimmung gegeneinander ahnen, als sie sich allein sahen.

Der erste Büchsenschuß, den sie auf ihrer Flucht vernahmen – es war der, der das Pferd Don Estevans mit seinen beiden Reitern niederwarf –, tönte lustig in ihrem Herzen wider. Einer von den Besitzern dieses wunderbaren Geheimnisses war ohne Zweifel dem Schweigen des Todes anheimgefallen. Der andere mußte wahrscheinlich sein Geheimnis ebenfalls bald in eine bessere Welt mit hinübernehmen, wo man sich nicht mehr um alles Gold der Erde kümmert.

Als sich beide hinter den steilen Felsen, die das Val d'Or im Westen begrenzten, in Sicherheit erblickten, hatten sie keine Zeit verloren, um sich von dem Ort zu entfernen, der ihnen beinahe so verderblich geworden wäre. Diese Felsenkette hatte nach der Ebene hin eine ziemlich sanfte Abdachung und vereinigte sich wieder mit den Nebelbergen wie eine an deren Seiten stehende Geldkiste. Die beiden Abenteurer folgten dieser Art von Wall, und es wurde ihnen somit leicht, die undurchdringlichen Schlupfwinkel der Sierra zu erreichen. Sie machten nun in einer tiefen Schlucht halt, auf deren Grund sie sich, von dem über ihrem Kopf schwebenden Nebel bedeckt, vollständig in Sicherheit befanden. Hier überströmte Freude ihr Herz, und ihre Gefühle waren anfänglich zu lebhaft, als daß es ihnen möglich gewesen wäre, im ersten Augenblick auch nur ein Wort miteinander zu wechseln.

»Erlaubt mir, Señor Oroche«, sagte Baraja, der zuerst wieder Worte fand, »Euch Glück zu wünschen, daß Ihr den Büchsen dieser halsstarrigen Jaguartöter entgangen seid.«

»Um so lieber, Señor Baraja, als es Euch, wenn Euer Schädel von einer Kugel zerschmettert worden wäre ... denn diese eingefleischten Teufel zielen immer den Leuten gar zu gern nach dem Kopf –, sehr schwer geworden wäre, Eure Komplimente an mich zu richten. Ich bin sehr froh, Euch am Leben zu sehen.«

Hiermit schminkte nun Oroche die Wahrheit ein wenig. Im Grunde und ohne sich gerade Rechenschaft zu geben, warum, wäre er fast lieber allein geblieben. Die Nähe eines Schatzes weckt gewöhnlich bei den Menschen das Verlangen nach Einsamkeit.

Vielleicht waren die Komplimente Barajas nicht aufrichtiger als die Oroches, und wir zweifeln, daß die Gewohnheit der Jaguartöter, ihren Feinden nach dem Kopf zu zielen, ihm nicht so betrübend als dem Gambusino vorgekommen sein würde, wenn dieser ihr Opfer geworden wäre. Tatsache ist, daß die beiden Schelme infolge gleicher Gedanken, die aus ihrer engen Freundschaft entsprangen, plötzlich träumerisch wurden.

Ein Büchsenschuß, der vom Echo der Berge zurückgeworfen wurde, unterbrach ihre sympathischen Träumereien.

»Das ist der zweite Schuß, der die tiefe Ruhe dieser Einöden stört. Der erste hat Diaz` Schädel zerschmettern müssen, und der Gedanke, daß der zweite ebenso die Feldzüge Don Estévans beendet hätte, wäre mir sehr schmerzlich«, sagte Oroche, der ziemlich schlecht sein lebhaftes Verlangen verbarg, das Geheimnis des Val d`Or allein zu besitzen.

»Ich begreife es«, antwortete Baraja zerstreut; »diese Einöden sind schrecklich für zwei einsame Menschen, wie wir es nun sein werden.«

Caramba! dachte Oroche. Sollte mich mein Freund Baraja – was er auch darüber sagen möge – denn schon als überflüssig bei ihm betrachten?

»Warum zieht Ihr den Hahn Eurer Büchse auf, Señor Oroche?« fragte Baraja seinen Freund.

»Weiß man denn, was sich in diesen Steppen ereignen kann? Seht, man muß auf alles vorbereitet sein.«

»Ihr habt recht; man weiß nicht, was geschehen kann.« Bei diesen Worten ließ auch Baraja wie sein Freund das Schloß seiner Büchse spielen und setzte sich in Verteidigungszustand.

Als ob der Dämon des Goldes, der diese Berge bewohnte und dessen mordgieriger Atem sie beide erbeben ließ, an den zügellosen Leidenschaften und wütenden Kämpfen, die das Val d`Or noch erwecken sollte, seine Lust gehabt hätte, hörte man plötzlich einen dumpfen, unterirdischen Lärm unter dem Dunstvorhang der Nebelberge.

»Wie nun? Was sollen wir jetzt tun?« sagte Oroche, dessen Bestrebungen nach Einsamkeit, die anfänglich noch unbestimmter waren, auf erschreckende Weise immer bestimmter hervortraten.

»Sind wir stark genug, diese drei verteufelten Jäger aus ihrer Festung zu vertreiben?«

»Nein.«

»Wohlan, so müssen wir zum Lager zurückkehren«, antwortete Baraja, »mit Verstärkung wiederkommen und die Räuber der Schätze, die in dem Euch bekannten Tal ausgebreitet liegen, niedermachen.«

»Brechen wir also so schnell wie möglich auf!« rief Oroche mit Ungestüm.

»Wir haben keine Minute zu verlieren«, fügte Baraja hinzu.

Aber keiner von ihnen rührte sich – aus dem einfachen Grund, weil Oroche ebensowenig wie sein Freund es sich angelegen sein ließ, den Weg ins Val d`Or dem Schwarm raubgieriger Geier zu zeigen, die sie im Lager zurückgelassen hatten. Sie dachten ganz richtig, daß die drei Jäger – sollte auch jeder soviel Gold mitnehmen, als er selbst schwer war – doch immer noch mehr demjenigen von ihnen, der den anderen überlebte, übriglassen würden, als wenn die ganze Truppe der Abenteurer, von ihnen geleitet, sich auf die reiche Beute stürzte. Beide stellten sich bebend vor, wie dieses jungfräuliche, blitzende Val d`Or von ihren gierigen Gefährten überflutet und entweiht auf seiner besudelten Oberfläche nur noch die unreine Spur ihrer Schritte übrigbehalten würde.

Wie heißhungrige Schakale auf die Entfernung des gesättigten Löwen lauern, um die Überbleibsel, die er verschmäht hat, zu verschlingen, so wollten auch Oroche und Baraja, ohne es auszusprechen, ganz allein das Fortgehen der Jäger abwarten, da deren Gegenwart sie beide zur Flucht nötigte.

»Hört«, sagte Baraja, »ich will geradeheraus mit Euch sprechen.«

Welche Lüge wird der Schelm mir erzählen? dachte Oroche bei sich. »Von Eurer Ehrlichkeit habe ich nicht weniger erwartet«, antwortete er laut.

»Ihr fürchtet, daß wir bei der Rückkehr nach dem Lager auf unserer Flucht entdeckt würden?«

»Ihr habt einen außerordentlichen Scharfsinn«, erwiderte Oroche.

»Das ist ganz natürlich«, fuhr Baraja im Ton liebenswürdiger Gutmütigkeit fort; »zwei Menschen ziehen die Aufmerksamkeit mehr auf sich als einer.«

»Man kann in den Gedanken eines Mannes nicht deutlicher lesen«, antwortete nun Oroche mit so viel Hingebung, daß Baraja einen Augenblick davor erschrak.

»Wohlan, da Ihr so vollkommen meine Gedanken teilt, so werdet Ihr auch meine Absicht teilen«, sagte Baraja.

»Ich nehme sie schon an, ohne sie genau zu kennen; ich habe niemals ein halbes Vertrauen zu meinen Freunden!«

»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr dieser schon gänzlich mißtraut?«

»O Señor Baraja«, sagte Oroche, indem er sich mit einer Miene beleidigter Offenherzigkeit in den Lumpen wickelte, den er Mantel nannte, »ich falle ständig in das entgegengesetzte Extrem.«

»Ich denke also, es ist gut, daß jeder von uns einen verschiedenen Weg einschlägt, um das Lager zu erreichen; wir laufen dann bestimmt weniger Gefahr, von den Jägern bemerkt zu werden, die immer nach dem Kopf zielen.«

»Ihr sprecht golden, Señor Baraja.«

»Das macht der Boden, auf dem ich mich befinde, und ich beeile mich, Euch mit einem guten Beispiel voranzugehen.«

»Noch einen Augenblick!« sagte Oroche. »Wo werden wir uns hernach wieder treffen?«

»Da, wo der Fluß sich teilt. Wer zuerst ankommt, wartet auf den anderen.«

»Und soll er lange warten?« fragte Oroche mit vollkommen gespielter Aufrichtigkeit.

»Das wird von der Ungeduld des zuerst Gekommenen und vom Grad der Zuneigung, die er für seinen Freund fühlt, abhängen.« »Teufel!« entgegnete Oroche. »In dem Fall, daß ich nun zuerst ankäme und Ihr unglücklicherweise durch einen Sturz in einen Abgrund oder durch eine Kugel daran verhindert wärt, zu mir zu stoßen, hieße das ja, mich dazu verdammen, Euch bis zum Jüngsten Gericht zu erwarten!«

»Eine solch übermäßige Hingebung von Eurer Seite würde mich nicht in Erstaunen setzen«, antwortete Baraja mit eindringlichem Ton; »aber ich könnte sie nicht annehmen. Selbst die Freundschaft muß ihre Grenzen haben. Wenn es Euch recht ist, so setzen wir eine Stunde zum Warten fest; wenn sie vorüber ist ...«

»... wird der zuerst Gekommene das Lager aufsuchen und seinen Freund beweinen.«

Hierauf schlugen die beiden Schelme eine schräge Richtung ein und nahmen einen Weg, der sie auseinanderführte. Eine Zeitlang konnten sie sich noch sehen; bald aber verschwand jeder inmitten des ewigen Dunstes der Nebelberge. Der Morgenwind ließ den Mantel des Gambusinos flattern wie die Lumpen, die in einem Getreidefeld als Vogelscheuche dienen.

Als Baraja ihn aus dem Gesicht verloren hatte, hielt er an, um sich zu orientieren. Dies geschah aber nicht, um den kürzesten Weg von der Stelle, wo er sich befand, bis zu dem Ort zu suchen, wo der Fluß sich wie eine Gabel spaltete. Es wird niemand überraschen, wenn wir sagen, daß er ebensowenig daran dachte, das Lager wieder aufzusuchen, als zurückzukehren und sich selbst den Jägern, vor denen er floh, auszuliefern. Baraja war nicht so dumm; er suchte ganz einfach nur einen bequemen und sicheren Ort, um eine kurze Siesta zu halten, und ließ Oroche an dem verabredeten Sammelplatz vergeblich warten.

Der beutegierige Goldsucher wollte sich jedoch nicht zu weit entfernen. Die Dinge hatten sich seit dem Morgen so glücklich für ihn gestaltet, daß er fest auf eine neue Gunst des Glücks rechnete, um aus diesem Hesperidengarten die Drachen, die die goldenen Äpfel bewachten, zu entfernen. Aber Baraja rechnete ohne die drei furchtbaren Bewohner der Steppe und ohne die Sympathie seines Freundes, und man weiß, daß man in solchem Fall genötigt ist, zweimal zu rechnen.

Nicht weit von ihm bildete eine Vertiefung in einem Felsen eine Art Nest, dessen Boden mit langem, trockenem Gras, noch niedergedrückt durch den Springbock, der in der vergangenen Nacht darauf geruht hatte, bedeckt war. Baraja stieg vom Pferd, zäumte es ab, damit es nach Belieben weiden konnte, nahm aus einem kleinen ledernen Sack, der an seinem Sattel hing, eine Handvoll grobes Maismehl und hatte bald mittels einiger Tropfen Wasser, die er aus seinem Schlauch in eine Kürbisflasche goß, ein frugales Frühstück bereitet. Die Raben krächzten traurig im Nebel; die von der beständigen Feuchtigkeit der magnetischen Spitzen der Sierra gebildeten Wasserbäche rauschten düster über die Felsen; zuweilen zeichnete ein Blitz unheimliche Bilder in die Wogen des Nebels; aber diese wilden Erscheinungen verursachten dem in seinen Mantel gehüllten Abenteurer nur einen Schauer gieriger Wollust.

Baraja hatte sich vergeblich mit der Hoffnung geschmeichelt, einen Augenblick schlafen zu können. Das Gold unten im Tal blitzte durch seine geschlossenen Augenlider in tausendfachen Funken und verjagte den Schlummer; Irrlichter tanzten in der Dunkelheit vor ihm wie jener verwirrende Lichtschein, den die Sonne in unseren Augen zurückläßt, wenn wir einen Augenblick unverwandt in sie hineingeblickt haben. Dann ließ ihn plötzlich ein schrecklicher Gedanke erbeben: Vielleicht lauerte Oroche auf einen vorübergehenden Schlummer, um ihn zu überraschen und sich seiner zu entledigen!

Baraja stand auf; er blickte aufmerksam um sich, aber alles war ruhig, und nur der Wind der Steppe murmelte klagende Töne in sein Ohr. »Bah!« sagte er und legte sich wieder nieder. »Oroche wird fünf Minuten auf mich warten, dann wird er nach ...« Er unterbrach seine angefangene Rede; der Luftzug ließ ihn ein sehr deutliches Wiehern hören. Nanu, dachte er, sollte etwa Oroche in diesen Bergen zurückgeblieben sein, um nicht Gefahr zu laufen, mich dort unten bis zum Jüngsten Gericht zu erwarten?

Baraja zäumte rasch sein Pferd auf, das, besser beraten als sein Herr, das trockene Gras allen Reichtümern des Val d`Or vorzog; er warf sich in den Sattel, die Büchse in der Hand.

Er war noch keine Minute auf dem Marsch, als er fast unter seinen Füßen ein ebenso beunruhigendes als unerwartetes Schauspiel wahrnahm. Die Stelle, wo er sich befand, war eine Brücke mit einem einzigen Bogen. Die Natur hatte sie über ein Nebenflüßchen des Hauptstromes gebaut, von dem ein Arm sich einen Weg durch die Nebelberge gebrochen hatte. Dieser Bach von geringer Breite und Tiefe verlor sich unter den Füßen Barajas, und nach einem ziemlich langen Lauf unter der Erde ergoß er sich in den See beim Val d`Or.

Ein Kanu aus Birkenrinde kam den Bach herunter; zwei Männer saßen darin. Ein glücklicher Zufall war es ohne Zweifel für den Abenteurer, daß in dem Augenblick, wo er einen bestürzten Blick auf diese beiden Personen warf, ihr Nachen unter dem Felsenbogen verschwand. Baraja hatte jedoch Zeit, den fremdartigen Anzug dieser Unbekannten genau zu betrachten. Da man in kurzer Zeit sehen wird, daß sie eine ebenso bemerkenswerte wie schreckliche Rolle in dieser Erzählung spielen, so werden wir sie mit Muße zeichnen, sobald der Augenblick dazu gekommen ist.

Es schien, als ob diese bis dahin so verlassene Einöde plötzlich das Rendezvous eines oder mehrerer Repräsentanten aller Menschenklassen geworden wäre, die die amerikanischen Steppen durchstreifen.

Baraja sollte noch kein Ende seiner Bestürzung und seines Erstaunens finden. Kaum waren die beiden schweigenden Schiffer verschwunden, als eine neue Quelle des Schreckens sich vor dem Goldsucher öffnete. Beunruhigt von dem Wiehern, das er gehört hatte, blickte er rings um sich her. Es war Zeit. Mitten durch den Nebel kam ein Mann, die Büchse in der Hand, langsam auf ihn zu; die Mündung seines Gewehrs war auf seinen Leib gerichtet.

Dieser Mann war für ihn nicht zu verkennen. Es war Oroche.

Baraja warf sich von seinem Pferd, um der drohenden Kugel zu entgehen und selbst bequemer zielen zu können. Ein lautes Lachen seines Freundes und folgende Worte erreichten sein Ohr: »Bei Gott, Señor Baraja, Ihr seht Cuchillo von weitem so ähnlich, daß ich im Begriff war, einen Irrtum an Euch zu begehen, den ich beweint haben würde ...«

»Bis zum Jüngsten Tag«, erwiderte Baraja ironisch. »Und vielleicht noch länger. Aber, Señor Baraja, wie wäre es, wenn wir jetzt, da wir uns als Freunde wiedererkannt haben, die Waffen beiseite legten? Was meint Ihr dazu?«

»Sehr gern«, antwortete Baraja, der keineswegs mehr als sein Freund auf einem gefährlichen Zweikampf bestand, an dessen Stelle ein Hinterhalt später bessere Dienste leisten konnte.

Und beide warfen die Büchsen wieder auf die Schulter und näherten sich einander; doch in einer Haltung, wie sie ein bewaffneter Friede gebietet.

»Wer in aller Welt hätte glauben können, daß Ihr hier wärt?« sagte Oroche.

»Und Ihr?« fragte Baraja.

»Die Bergluft ist mir so heilsam«, erwiderte Oroche unverschämt.

»Und mich hat ein plötzlicher Schwindel verhindert, meinen Weg fortzusetzen. Ich bin leider ... solchem Schwindel sehr ausgesetzt«, sagte Baraja mit schmerzlichem Ton.

Die beiden würdigen Bundesgenossen waren darin einverstanden, daß jeder von ihnen die gewichtigsten Gründe gehabt hatte, sich nicht allein vom Val d`Or zu entfernen, und schworen sich aufs neue Ergebenheit auf alle Fälle. Dann teilte Baraja Oroche das seltsame Ereignis mit, von dem er eben Zeuge gewesen war.

»Wohlan!« sagte er. »Ihr seht, daß unser eigener Vorteil es mehr als jemals verlangt, daß wir einig bleiben. Kehren wir also alle beide zum Lager zurück; später werdet Ihr wiederkommen, die Bergluft einzuatmen.«

»Und Ihr seid nicht mehr schwindlig?«

»Der Kummer, Euch zu verlassen, war mir zu Kopf gestiegen.«

»Vorwärts!«

Ein neues Ereignis verzögerte den Abmarsch der beiden Schelme. An der Stelle, wo die beiden Freunde bei ihrer Vereinigung haltgemacht hatten, führte ein enger, von den Springböcken gebildeter Pfad in Schlangenwindungen auf die Anhöhe. Es war ein leichtes, wenn man ihm folgte, unbemerkt in die Felsen hinter dem Grab auf der Pyramide zu kommen und die Ebene wiederzugewinnen – weit aus dem Gesichtskreis oder doch wenigstens aus dem Bereich der Büchsen Bois-Rosés und Pepes.

»Wir wollen diesen Fußsteig einschlagen«, sagte Oroche zu Baraja. »Warum noch länger zögern? Habt die Güte, mir voranzugehen, und ich folge Euch.«

»Das kann nicht geschehen!« sagte Baraja. »Ich bin – bei Gott – zu höflich, um dergleichen zu tun.«

»Oh«, erwiderte Oroche; »machen Freunde so viele Umstände untereinander?«

»Mein Pferd ist furchtsam, Señor Baraja, und ich bin kurzsichtig. Wahrhaftig, Ihr werdet mir einen Gefallen erzeigen, wenn Ihr vorangeht, da dieser Pfad zu eng ist, als daß zwei Reiter nebeneinander bleiben können.«

»Laßt sehen – seid aufrichtig! Ihr macht Euch nichts daraus, nach dem Lager zurückzukehren, selbst in Gesellschaft«, sagte Baraja.

»Ihr ebensowenig als ich.«

»Ihr möchtet mich lieber in der Hölle sehen, Señor Oroche.«

»Und Ihr möchtet mich gern zu allen Teufeln schicken, Señor Baraja.«

Baraja heftete auf seinen Gefährten einen spöttischen Blick. »Leugnet es nur nicht, Señor Oroche«, sagte er; »Ihr wollt mich nur vorangehen lassen, um mir von hinten einen Büchsenschuß beizubringen.«

»Oh, was läßt Euch solches argwöhnen?«

»Nun, wahrhaftig, der Wunsch, Euch zu töten, den ich selbst fühle.«

»Eure Freimütigkeit macht mich offenherzig«, erwiderte der langhaarige Gambusino. »Ich habe es wirklich gewagt, diesen mörderischen Gedanken zu fassen; aber ich bedenke, daß, wenn ich Euch getötet hätte, ich damit doch nicht stärker sein würde gegen diesen wütenden Kanadier, und ich verzichte darauf.«

»Und ich ebenfalls.«

»Wir wollen offen gegeneinander sein«, fuhr Oroche fort: »Wir kehren nicht zum Lager zurück, sondern legen uns in diesen Bergen in Hinterhalt. Es wird sich in dieser Nacht wohl irgendeine Gelegenheit bieten, uns von diesen fremden Räubern zu befreien, wenn sie schlafen werden. Dann sind wir nur noch zwei bei der Teilung des Val d`Or und haben nicht mehr nötig, uns gegenseitig zu ermorden. Pfui! So reiche Leute, wie wir es sein werden, sollen im Gegenteil nur dahin streben, ihr Leben zu verlängern. Zum Beweis meiner Aufrichtigkeit gehe ich voran.«

»Ich nehme diese Ehre in Anspruch«, sagte Baraja.

»Ich halte darauf, Euch meine Reue zu bezeugen!«

»Ich hege den lebhaftesten Wunsch, daß Ihr mein Vergehen vergessen möchtet.«

Die beiden Schelme waren um so eifriger, je mehr Lust sie hatten, sich voneinander zu befreien. Sie schoben nur auf eine spätere Zeit die Ausführung ihres mörderischen Plans auf. Derart war die erneuerte lebhafte Freundschaft, die sie fühlten.

Oroche ging endlich voran. Er schien in seinem eigenen Herzen Barajas Gedanken so gut zu lesen, daß er ohne Mißtrauen vorausging, ohne auch nur den Kopf umzuwenden. Er wußte gewiß, daß sein Gefährte ebenso wie er in seinen Gedanken nach einem Mittel suchte, seine Dienste zu benützen, ehe er das Werkzeug, von dem er Gebrauch gemacht hatte, zerbrach.

Diese Überzeugung war bei beiden eingetreten; sie hofften sich zuerst Bois-Rosés und seiner beiden Gefährten zu entledigen, dann würden sie sehen, was sich tun ließe. In der Tat – wenn die drei Jäger im Schlaf ermordet waren und Diaz und Don Estévan, wie sie nicht daran zweifelten, den Tod gefunden hatten – blieben sie dann nicht die alleinigen Besitzer ihres Geheimnisses?

Obgleich der Weg bis zu der Stelle, wo sich der Wasserfall nicht weit von ihnen in den Abgrund hinter dem indianischen Grabmal stürzte, nicht sehr lang war, so bot er doch ihren Pferden tausend Schwierigkeiten dar, die für die Vicunas, von denen er glattgetreten war, nicht vorhanden zu sein schienen. Der Boden war von vulkanischen Ausbrüchen zerrissen, die – nach dem dumpfen Geräusch zu urteilen, das noch im Innern der Berge grollte – aus neuerer Zeit herrühren mußten. In jedem Augenblick stießen sie auf herabgestürzte Felsstücke, die von dem dichten Nebel, der unter den Füßen ihrer Pferde wie Staub aufwirbelte, schlüpfrig geworden waren und ihnen unaufhörlich neue Hindernisse darboten. Zuweilen führte auch der schlüpfrige Fußpfad an tiefen Abgründen hin, in die der geringste falsche Schritt sie hineinstürzen konnte. Ein vor ihnen wallender Nebelschleier ließ die Gegenstände in einer kurzen Entfernung vom Kopf ihrer Pferde nur undeutlich bemerken.

Mitten in diesem wogenden Nebel wurden Dornensträuche und verkrüppelte Bäume, die auf den Trümmern, in die sie ihre Wurzeln geschlagen hatten, sich hin und her bewegten, in den erschreckten Augen der Reiter zu Indianern im Hinterhalt, zu wilden Tieren von fremdartiger Gestalt, die auf ihrem Weg zu lauern schienen. Ein Springbock, der in einem einsamen Lager überrascht worden war, das der Fuß eines Menschen vielleicht noch niemals betreten hatte, nahm in weiten Sätzen die Flucht und verlor sich im Nebel. Mitten in diesen wilden Szenen grollte die Stimme des noch unsichtbaren Wasserfalls.

Plötzlich hielt Oroche so ungestüm sein Pferd zurück, daß Barajas Pferd an dieses stieß.

»Was gibt es?« fragte Baraja mit leiser Stimme Oroche, der die Augen fest auf einen Punkt vor sich richtete und durch ein Zeichen mit der Hand ihm Schweigen empfahl.

Baraja hatte nicht nötig, seine Frage zu erneuern. Mitten in dem grauen, halb durchsichtigen Nebel lag ein Mann mit triefenden Haaren und besudelten Kleidern platt auf der Erde und versperrte so den engen Pfad vor ihnen. Das war alles, was man durch den wogenden Nebel, der sich nach allen Richtungen hin bewegte, bemerken konnte. War dieser undeutliche Körper der eines Indianers oder eines Weißen? War dieser Leib, dessen Umrisse durch den Nebel verwischt waren, lebendig oder nur ein Leichnam? Dies alles konnte Oroche nicht unterscheiden.

Um die Verlegenheit auf den höchsten Punkt zu steigern, lief der Pfad an der Stelle, wo die beiden Abenteurer genötigt gewesen waren, haltzumachen, auf der einen Seite an einem senkrechten Felsen neben einem Abgrund hin und stieß auf der anderen Seite an eine steile Felswand, so daß ein Mann zu Pferd nicht kehrtmachen konnte.

Oroche zögerte; er war zugleich erschreckt und erstaunt, einem menschlichen Wesen in dieser Einsamkeit zu begegnen, wo nur Adler und Springböcke ihre Wohnung hätten haben sollen. Er betrachtete unruhig die fremdartige Erscheinung. Der Kopf dieses Mannes neigte sich vorwärts über den Abgrund, und bei einer plötzlichen Lichtung konnte er ihn einen Augenblick lang unterscheiden. Er hatte seine Arme unter seinen Leib gestemmt und betrachtete irgendeinen Gegenstand unter sich.

Das Rauschen des Wasserfalls war an dieser Stelle stark genug, um Oroches Stimme zu übertönen. »Es ist Cuchillo«, sagte er, ohne sich nach seinem Gefährten umzuwenden.

»Cuchillo?« wiederholte Baraja verwundert. »Und was, zum Teufel, treibt er da?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sendet ihm doch eine Kugel zu; das wird eines der wenigen Dinge sein, die er nicht gestohlen haben wird.«

»Jawohl«, erwiderte Oroche, »damit der Schuß diesem Kanadier zeige, daß wir hier sind.« Er dachte nicht daran, daß dies außerdem soviel hieß, als sich waffenlos der Gnade seines Freundes anzuvertrauen.

In diesem Augenblick führte die Luft neue Nebelwolken in die einen Augenblick lang geöffnete Lichtung, und Cuchillo verschwand hinter diesem wallenden Vorhang. Eine Zeitlang konnten die beiden Reiter kaum einander unterscheiden. Es wurde gefährlich – unmöglich sogar –, vorwärts zu gehen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, in den Abgrund zu stürzen; außerdem wollten auch die beiden Goldsucher in keinem Fall Cuchillo von ihrer Gegenwart benachrichtigen.

»Geht keinen Schritt mehr vorwärts, Señor Oroche!« sagte Baraja so, daß er beim Rauschen des Wasserfalls nur von seinem Freund verstanden werden konnte. »Bedenkt, daß ich einen großen Wert auf Euer kostbares Leben setze!«

»Ich werde mich auch hüten, es zu gefährden. Ihr findet diese Einöde so schrecklich für einen einzelnen Menschen, und ich möchte Euch gern einen Gefährten erhalten.«

»Das ist ein Verfahren, dessen edlen Beweggrund ich vollkommen zu schätzen weiß. Was mich anlangt, so hoffe ich, daß Ihr nicht mehr an meiner Aufrichtigkeit zweifelt. Seht, wenn ich nur ein wenig mit der Brust meines Pferdes an die Kruppe des Eurigen stieße, so würde ich mich ganz allein befinden.« Baraja sagte die Wahrheit, und zum erstenmal fühlte Oroche, wie vor der Anziehungskraft des Abgrunds, in den sein Freund ihn ohne eigene Gefahr stürzen konnte, ein eisiger Schauder über sein Gesicht lief. »Aber wir sind unser zwei nicht zu viele«, fuhr Baraja fort, »um mit Erfolg gegen unsere drei Feinde zu kämpfen.«

Oroche wurde für den Augenblick zwar wieder ruhig, war jedoch von jetzt an überzeugt, daß Baraja ebenso wie er zuerst von der Gegenwart seines Gefährten Nutzen ziehen wollte. »Einigkeit macht stark«, sagte der langhaarige Gambusino, obgleich er trotz dieses Denkspruchs lebhaft wünschte, seinen Freund nicht allzu lange der Versuchung auszusetzen, die Anwendung davon zu vergessen.

Nach Verlauf einiger Minuten, in denen zugleich mit dem feuchten Dunst der Wasserfläche, die auf dem Grund der Schlucht schäumte, der Schwindel aus der Tiefe des Abgrunds bis zu Oroche hinaufzusteigen schien, öffnete ein Windstoß abermals eine weite Lichtung im Nebel.

»Ah, Gott sei Dank!« sagte Oroche, indem er nach diesem angstvollen Augenblick wieder Atem schöpfte. »Dieser Schelm Cuchillo ist nicht mehr da!«

Der Weg war auf dieser Seite frei von Hindernissen, und die Berge waren wieder vollständig einsam geworden. Oroche spornte rasch sein Pferd zu dem Ort an, den Cuchillo eben verlassen hatte.

Die fremdartige Landschaft, in der die beiden Flüchtlinge auf gut Glück umherirrten; die Nähe des Schatzes, den jeder von ihnen einen Augenblick halb gesehen hatte, und die Aufregungen jeder Art, deren Raub sie seit dem Morgen gewesen waren – alles hatte dazu beigetragen, ihre Einbildungskraft gewaltig anzuspannen. In solcher Lage bietet das geringste Ereignis Stoff zu allerlei Vermutungen. Die Aufmerksamkeit, mit der Cuchillo vor ihren Augen einen unsichtbaren Gegenstand betrachtet hatte, reizte lebhaft die Neugier der beiden Abenteurer.

Der Weg wurde an dieser Stelle breit genug, um zwischen dem Abgrund und der Felsenwand absteigen zu können, und Oroche und Baraja stiegen zu gleicher Zeit vom Pferd, ohne sich ihre Gedanken mitgeteilt zu haben.

»Was habt Ihr vor?« fragte der erstere.

»Wahrhaftig, Ihr wißt es recht gut, daß Ihr meinem Beispiel folgt!« antwortete Baraja. »Ich will einen Versuch machen, das zu sehen, wonach Cuchillo eben so begierig blickte. Es muß sehr merkwürdig sein, wenn ich mich nicht täusche.«

»Nehmt Euch in acht; diese Felsen sind verteufelt schlüpfrig.«

»Seid ohne Furcht, und geniert Euch nicht, es ebenso zu machen wie ich.« Mit diesen Worten kniete Baraja nieder, um sich über den Abgrund zu neigen. Sechs Schritt vor ihnen stürzte sich der Wasserfall aus einer Art von Luftloch und durchschnitt den Pfad, der eben über diesen gähnenden Abgrund sich hinschlängelte und eine Art natürlicher Brücke darüber bildete.

Oroche nahm sein Pferd beim Zügel und setzte mit ihm über die steinige Wölbung, die sich über dem Wasserfall gebildet hatte. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, die er anwenden zu müssen glaubte, und einige Augenblicke nachher lagen die beiden Freunde, ohne einander sehen zu können, platt auf der Erde, beugten den Kopf über den Abgrund und warfen einen gierigen Blick nach unten. Ungeachtet ihres Vorsatzes, eine günstigere Zeit gegenseitig abzuwarten, fühlte sich doch jeder freier und leichter, wenn er von seinem Begleiter etwas entfernt war.

Derselbe Anblick traf beide zugleich und ließ in ihrem Kopf abermals mörderische Gedanken entstehen, die sie einen Augenblick aufgeschoben hatten. Der zwischen dem Wasserfall und dem Felsen funkelnde Goldklumpen, der Cuchillo einen wilden Schrei entrissen hatte, hätte auch ihnen beinahe einen ähnlichen entlockt; es war jedoch nötig, sich zu verstellen und im Zaum zu halten. Dies geschah aber nicht ohne eine übermenschliche Anstrengung.

Wie ein funkelnder Diamant in der Krone eines Königs von Golkonda; wie ein von der Sonne losgerissener und in den Felsen haftender Sonnenstrahl; wie ein offenes, zauberkräftiges Auge, das über dem Abgrund schwebte – so strahlte der kolossale Goldklumpen Garben bleichen Lichts aus und schien die Hand des Menschen einzuladen, dieses wunderbare, freigebige Geschenk der Natur nicht vom gähnenden Abgrund verschlingen zu lassen.

Doch der unermeßliche Abgrund verteidigte schrecklicher als der Drache, der das Goldene Vlies bewachen mußte, seinen Schatz, den er mit den feuchten Dünsten der Tiefe liebkosend umhüllte, gleich dem Atem des immer wachsenden Ungeheuers, das die Argonauten töten mußten. Die ständige Feuchtigkeit hatte die senkrechten Wände des Felsens mit einem Mantel grünen Mooses bedeckt. Unter dem Goldblock schien ein kleiner, aber durch die Wasserdünste mit einer klebrigen Schicht überzogener Vorsprung auf den Fuß zu warten, der kühn genug wäre, sich dieser gefährlichen Stütze anzuvertrauen; aber ein einzelner Mann konnte das Wagnis nicht unternehmen. Das war auch der Grund gewesen, warum sich Cuchillo zurückgezogen hatte, der eben noch vor den beiden Abenteurern seine Augen an dem Glanz des unschätzbaren Blocks weidete.

Baraja war der erste, der sich der schreckensvollen Aufregung, die dieser schwindelerregende Anblick bei ihm hervorbrachte, entriß, denn sein Herz preßte sich bei dem Gedanken zusammen, daß der Goldklumpen jeden Augenblick in den Abgrund rollen könnte wie die reife Frucht, die vom Orangenbaum fällt. Oroche folgte bald dem Beispiel seines Gefährten, und beide standen fast zu gleicher Zeit auf. Sie wußten nicht, was sie anfangen sollten, und waren voneinander durch den Felsenbogen getrennt, aus dem rauschend und schäumend der Wasserfall hervorstürzte.

»Nun, was habt Ihr gesehen?« fragte Baraja zuerst.

»Und Ihr?« antwortete Oroche.

»Einen endlosen Abgrund. Wirbelnden, aus der Tiefe emporsteigenden Nebel.«

»Einigkeit macht stark«, wiederholte Oroche, der plötzlich seinen Entschluß gefaßt hatte.

»Zu zweit ist man zweimal stärker.«

»Was Ihr da sagt, ist unbestreitbar«, sagte Oroche.

»Wohlan! Zu zweit werden wir ihn bekommen.«

»Was?« sagte Oroche, der den Unwissenden spielte.

»Demonio! Den Goldblock, den Ihr ebensogut wie ich gesehen habt!«

»Aber wie es anfangen?« fragte Oroche.

»Wir flechten unsere beiden Lassos wie ein Bild unserer Freundschaft zusammen; einer von uns läßt sich längs der Felsenwand hinunter und raubt dem Abgrund seinen Schatz«, sagte Baraja mit flammenden Augen.

»Wer von uns beiden wird sich opfern?«

»Das Los wird darüber entscheiden, Señor Oroche, und wenn Ihr es seid ...«

»Wenn ich es bin, so werdet Ihr mich fallen und zerschmettern lassen!«

Baraja zuckte mit den Schultern. »Ihr seid ein Einfaltspinsel, mein teurer Oroche; ein Freund läßt nicht mit seinem Freund zugleich einen dreifach königlichen Schatz fallen. Den Freund ... ich will nicht dagegen streiten; aber den Schatz ... niemals!«

»Mein teurer Baraja, Ihr treibt Euren Scherz mit den ehrwürdigsten Dingen – sogar mit der Freundschaft«, erwiderte Oroche mit so großer Zerknirschung, daß Baraja mehr als jemals darüber erschrocken war.

Bald jedoch gaben die beiden Abenteurer der Trunkenheit nach, die sich ihrer bemächtigte: Sie hörten auf, an Schlauheit miteinander zu wetteifern, und beschlossen, mit vereinten Kräften den Goldklumpen seiner Felseneinfassung zu entreißen. Baraja zog aus seiner Tasche ein Spiel Karten; man kam überein, daß der Gewinnende das Recht hätte, die Rolle, die ihm die beste schiene, zu wählen. Dieses Recht fiel Oroche zu.

Außer daß Barajas Worte ihn überzeugt hatten, dachte der Gambusino auch, daß der Besitz des Schatzes ein allmächtiger Talisman gegen die Verderbtheit seines Gefährten sei, und er wählte wider Erwarten des letzteren die gefährliche Rolle, sich, über dem Abgrund schwebend, hinunterzulassen.

Nachdem die beiden Schelme sich geeinigt hatten, lösten sie nach dem Vorschlag Barajas ihren Lasso vom Sattelknopf, den jeder mexikanische Reiter, dort festgebunden, bei sich führt. Die beiden Leinen wurden so zusammengeflochten, daß sie ein noch schwereres Gewicht als das eines Mannes tragen konnten. Das eine Ende wurde um Oroches Leib gebunden und das andere mehrmals um den Stamm einer jungen Eiche geschlungen, die in einer Felsenspalte wurzelte; Baraja hielt es in der Hand. Wirklich wäre ohne die Stütze, die der noch schwache Stamm der Steineiche gewährte, Barajas Rolle ebenso gefährlich gewesen wie die Oroches, dessen Schwere ihn leicht trotz seines Widerstands zuerst in den Abgrund hätte ziehen können.

Nachdem das doppelte Seil unter seinen Armen fest um die Brust gebunden war, fing Oroche an, langsam hinabzusteigen, indem er sich an den Vorsprüngen des Felsens festhielt und sich mit seinen Füßen in den Spalten stützte.

Dumpfer Lärm stieg aus der Tiefe des Abgrunds herauf; unterirdische Stimmen schienen ihn zu rufen; die Anziehungskraft des Unermeßlichen schien sich des Abenteurers zu bemächtigen. Aber die Habgier sprach stärker in sein Ohr als das Rauschen des Abgrunds. Nach Verlauf einer Minute berührten seine Füße, dann sein Leib, endlich seine Hände den Goldklumpen. Er konnte seine gerundete Außenseite liebkosend betasten, die Festigkeit seiner Lage im Gestein untersuchen. Der Abgrund grollte nicht mehr drohend unter ihm; er sang sanfte Weisen wie der Bach der murmelnd dahinfließt und die süßesten Träume hervorruft.

Die zusammengezogenen Finger des Gambusinos erschütterten den Block; er widerstand anfänglich; bald jedoch bewegte er sich im Felsen wie das Kind, das sich eben dem Schoß seiner Mutter entwindet und das Licht der Welt erblickt. Zwei gierige Hände genügten kaum, ihn zu umspannen; eine schlecht angebrachte Anstrengung konnte ihn dem Felsen, der ihn umschloß, entreißen und in den Abgrund stürzen lassen. Oroche atmete nicht mehr, und Baraja, der sich über ihm vorgebeugt hatte, teilte seine Angst.

Das Echo des Abgrunds wiederholte zweimal einen zweifachen Schrei: das Triumphgeschrei Oroches und seines Gefährten – der Goldklumpen funkelte in den Händen des Räubers. Wie der Adler, der sein Junges aus dem unzugänglichen Horst rauben sieht, in dem er es verborgen hatte, so schien der Abgrund, indem er das Geschrei wiedergab, den Raub zu beweinen, den man ihm entriß.

»Zieht mich schnell empor, bei der Liebe Gottes!« sagte Oroche mit bebender Stimme. »Ich trage sechzig Pfund gediegenen Goldes in meinen Armen. Ach, ich hätte mich nicht für so stark gehalten!«

Baraja zog anfänglich die Leine mit krampfhaftem Eifer empor, bald jedoch langsamer, und dann hörte er plötzlich mit jeder Anstrengung auf. Die Hände Oroches waren noch nicht in gleicher Höhe mit der Plattform.

»Auf Baraja, noch einmal!« sagte Oroche. »Spannt das Seil an, und ich bin bei Euch.«

Aber Baraja blieb unbeweglich. Ein teuflischer Gedanke blitzte durch seine verwirrten Ideen. »Gebt mir diesen Goldblock!« sagte er. »Er macht Eure Anstrengungen vergeblich, und meine Kräfte sind zu Ende.«

»Nein, nein, tausendmal nein!« rief der Gambusino, dessen Stirn von einem plötzlichen Schweiß triefte und der seinen Schatz in seine Arme preßte. »Ich würde Euch eher meine Seele geben. Aha«, fuhr er fort, »Ihr würdet dann loslassen!«

»Wer sagt Euch denn, daß ich Euch nicht jetzt loslasse?« antwortete Baraja mit dumpfem Ton. »Euer eigenes Interesse«, erwiderte der Gambusino, dessen Stimme zitterte.

»Wohlan! Ich will Euch nicht loslassen – doch nur unter einer Bedingung: Ich will dieses Gold für mich allein haben ... für mich allein, versteht Ihr? Gebt es mir ... oder ich überlasse Euch dem Abgrund!«

Oroche schauderte bis ins Mark seiner Gebeine. Beim Anblick des bleifarbigen Gesichts Barajas verwünschte der Unglückliche einen Augenblick sein tolles Vertrauen. Er wollte eine Anstrengung versuchen, aber die Last, die er trug, machte die Kraft seiner Arme vergeblich. Er blieb unbeweglich wie der Mann, in dessen Händen sein Leben lag.

»Ich will dieses Gold, versteht Ihr?« wiederholte Baraja. »Ich will es haben, oder ich lasse die Leine los ... oder schneide sie durch.« Und er zog einen scharfen Dolch aus seinem Gürtel.

»Lieber will ich sterben!« rief Oroche. »Lieber soll der Abgrund mich verschlingen und das Gold mit mir!«

»Die Wahl steht Euch frei«, wiederholte der Elende.

»Euer Gold für Euer Leben.«

»Ah! Ihr würdet mich töten, wenn ich es Euch auch gäbe.«

»Gut«, sagte Baraja, der langsam eine der sechs Schnüre des Seils zerschnitt, indem er dem Unglücklichen zurief, daß es noch Zeit sei, sich zu entscheiden.


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