Gabriel Ferry
Der Waldläufer
Gabriel Ferry

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8 Benito läßt Parteilichkeit für die Jaguare durchblicken

Der alte Hirt hätte seine Erzählung wiederaufnehmen können, ohne daß ihn jemand unterbrochen hätte, aber auch sicherlich, ohne gehört zu werden. Die drohende Nähe einer Gefahr, die eben noch so entfernt schien, sowie die Nachbarschaft des wilden Tieres erstarrten das Herz der Zuhörer des Vaqueros zu Eis und nahm diesem die Sprache. Er schwieg übrigens wie die anderen und schien darüber nachzudenken, was die schreckliche Lage fordere, als der Spanier das tiefe Schweigen, das im Biwak herrschte, unterbrach.

»Zu den Waffen!« rief Don Estévan.

»Das ist unnütz, Señor«, erwiderte der Erzähler, dem seine Bekanntschaft mit der Gefahr schon sein kaltes Blut wiedergegeben hatte. »Das beste, was wir tun können ist, das Feuer nicht erlöschen zu lassen.« Ein Bündel trockener Zweige, das er mit diesen Worten hineinwarf, verbreitete ringsherum eine glänzende Flamme, deren Strahl alle Anwesenden mit einem Lichtnetz umhüllte. »Sofern er nicht vor Durst verschmachtet, wird der Dämon der Finsternis diesen Feuerkreis nicht zu überschreiten wagen. Indes muß ich hinzufügen, daß er oft vor Durst verschmachtet, und dann ...«

»Und dann?« unterbrach ihn jemand mit ängstlichem Ton.

»Dann«, fuhr der Vaquero fort, »kennt er weder Feuer noch Flamme. Auch ist es – sofern man nämlich entschieden sein sollte, ihm den Zugang zum Wasser zu verwehren – das klügste, ihm aus dem Weg zu gehen. Diese Tiere haben immer mehr Durst als Hunger.«

»Und wenn sie getrunken haben?« fragte seinerseits Baraja, bei dem die Flamme eine wenig sichere Haltung sehen ließ.

»Dann suchen sie ihren Hunger zu stillen. Diese Jaguare sind sehr sinnlich. Übrigens ist das ganz natürlich, wie mir scheint.«

Ein zweites Brüllen, das aber offenbar entfernter zu sein schien, bewies den durch die Vorlesung über die Jaguare sehr erschreckten Zuhörern Benitos, daß dieser wenigstens noch nicht den äußersten Grad des Durstes empfand. Jedermann bewahrte ein Schweigen, das nur durch das Knistern der Zweige, die Baraja eifrig in die Glut warf, unterbrochen wurde.

»Sachte, zum Henker! Wenn Ihr unseren Holzvorrat so verschwendet, wollt Ihr es etwa auf Euch nehmen, neuen im Wald zu sammeln?«

»Dann seht zu, daß wir ausreichen, um uns nicht in der Dunkelheit dem Jaguar preiszugeben, dessen Durst nach zwei Stunden der Entsagung doppelt so groß sein wird.«

Wenn Benito sich vorgenommen hätte, seinen Zuhörern Schrecken einzujagen, er hätte gewiß vollkommen seinen Zweck erreicht, denn alle warfen einen ängstlichen Blick auf das wenige trockene Holz, das im Bereich ihrer Hand aufgeschichtet war; aber trotz seiner spöttischen Antworten war doch in der Stimme des alten Vaqueros etwas Feierliches, das eine tiefe Beweiskraft in sich trug. Man hatte kaum Holz genug, um noch eine Stunde lang die schützende Flamme der Feuerstelle zu unterhalten.

Man begreift, daß Don Estévan es auf eine günstigere Gelegenheit verschoben hatte, Fragen an Tiburcio zu richten. Dieser hätte indessen nicht länger gezögert, dem Spanier zu danken, aber er wußte nicht, daß dieser den Befehl an Cuchillo gegeben hatte. Nichtsdestoweniger warf Don Estévan mitten in diesen schrecklichen Augenblicken verstohlen mehr als einmal einen prüfenden Blick auf Tiburcio, aber durch Zufall blieb das Gesicht des jungen Mannes ständig im Schatten und unsichtbar für ihn. Tiburcio seinerseits fühlte ebenfalls, daß der Augenblick schlecht gewählt gewesen wäre, Höflichkeitsbezeugungen mit dem Chef des Biwaks zu wechseln.

Tiefe Stille herrschte auch fernerhin. Don Estévan und der Senator hatten ihre Feldbetten wieder aufgesucht, auf denen sie mit dem Gewehr in der Hand saßen, und niemand blieb um Benito als seine Kameraden Baraja, Cuchillo und Tiburcio. Die Pferde hörten dessenungeachtet nicht auf, sich so nahe wie möglich um das Feuer zu gruppieren, und ihr Ausharren an der Seite der Menschen, der glühende Atem ihrer Nüstern – alles bewies, daß die Gefahr wohl entfernter, aber noch nicht vorüber sei.

Einige Minuten verflossen so, ohne daß der Ton einer menschlichen Stimme die düstere Ruhe des Waldes störte.

Inmitten der größten Gefahr liegt in der Stimme des Menschen immer ein ermutigender Wohlklang, der den Schrecken zu mindern scheint; drum bat auch einer der Diener den Vaquero, in seiner Erzählung fortzufahren.

»Ich sagte euch also«, begann Benito wieder, »daß der Jaguar auf der Verfolgung hinter meinem Pferd hersetzte und daß ich nicht wie heute abend ein helles Feuer hatte, um ihn fernzuhalten. Plötzlich sah ich noch einmal beim Schein des Mondes das Pferd selbst zu mir hergaloppieren, aber nach dem schrecklichen Reiter zu urteilen, den es trug, war es der letzte Lauf, den es machen sollte. Der Jaguar hatte sich auf seinem Rücken eingekrallt; sein Kopf lag dicht auf dem Hals des armen Tieres, und so ließ er sich von ihm dahintragen. Kaum einige Schritte von mir ließ sich plötzlich ein schauerliches Krachen zerbrochener Knochen hören; das Pferd stürzte wie vom Blitz getroffen – der Jaguar hatte ihm den letzten Rückenwirbel dicht am Kopf zerbrochen. Jaguar und Pferd rollten, sich einer über den anderen wälzend, zu Boden, und am folgenden Morgen waren nur noch zerrissene Fetzen von dem Renner da, der mich so lange getragen hatte. Nun, glaubt ihr immer noch, daß der Jaguar nur Füllen angreift?« fragte der alte Hirt.

Unter dem Eindruck der Erzählung des alten Hirten und der unzweifelhaften Gegenwart eines dieser schrecklichen nächtlichen Herumstreifer der amerikanischen Wälder dauerte das Schweigen der Reisenden noch lange Zeit fort.

Tiburcio war der erste, der es unterbrach. Ebenso wie der Vaquero an ein Leben in der Einöde gewöhnt, war er weniger betroffen als seine Gefährten.

»Indes«, bemerkte er, »wenn Ihr kein Pferd gehabt hättet, so würde Euch der Jaguar an dessen Stelle verspeist haben; Euer Pferd hat Euch also gerettet und ist für Euch gestorben; und hier haben wir zwanzig Pferde für einen Jaguar!«

»Dieser junge Mann spricht nach meiner Meinung sehr gut«, rief Baraja, der durch diese Bemerkung wieder Haltung bekommen hatte.

»Zwanzig Pferde, ja«, erwiderte Benito. »Sie werden in unserer Nähe bleiben, bis die Furcht ihren Sinn verwirrt hat, und bei der unmittelbaren Nähe der Gefahr werden sie in tollem Schrecken die Flucht ergreifen. Der Jaguar, der hier herumschweift, wird sie nicht verfolgen, weil der Instinkt die Pferde nach der dem Wasser, von dem er sich nicht entfernen will, entgegengesetzten Seite treiben wird, und ... vielleicht ...«

»Vielleicht?« fragten mehrere Stimmen auf einmal.

»Vielleicht«, fuhr Benito feierlich fort, »vielleicht hat er schon Menschenfleisch gekostet; und da diese Tiere, wie ich euch eben sagte, sehr sinnlich sein sollen, so wird er das Fleisch eines Pferdes verschmähen, wenn er denn eines von uns bekommen kann; und wenn man alles bedenkt, so hat man nicht allzuviel Recht, ihn darum zu tadeln.«

»Das ist ermutigend!« unterbrach Cuchillo.

»Gewiß, denn er wird sich mit einem begnügen, sofern nämlich ...«

Benito schien der Mann zu sein, etwas Schreckliches absichtlich zu verschweigen; auch wagte niemand mehr, ihn während einer Minute zu fragen. Dann aber rief Cuchillo, ungeduldig, ihn immer noch schweigen zu sehen: »Zum Teufel, so redet doch!«

»Ich wollte nur sagen«, antwortete der alte Vaquero, »sofern er nicht sein Weibchen bei sich hat, in welchem Fall ...«

Ein dumpfes Knurren – freilich weniger nahe als das erste, das sie gehört hatten, aber weniger entfernt auch als das zweite – bestätigte die Versicherung des alten Vaqueros.

»Da ist der Beweis«, sagte er, »daß der Durst lebhafter wird, denn die Nachtluft macht ihn nur zorniger, da sie ihm die frischen Ausdünstungen der Zisterne zuführt.«

Unterdessen verbreitete die nach und nach aufgezehrte Glut weniger helles Licht umher, und der Holzvorrat näherte sich seinem Ende. Eine erschreckende Gleichmäßigkeit zeigte sich zwischen dem Fortschritt des Durstes beim Jaguar und der Verminderung des Holzes an der Feuerstelle. Der Glanz des Feuers war das unübersteigliche Hindernis, das der Verzweiflung des Raubtieres entgegengesetzt werden konnte.

Ein Brüllen wie der Ton einer Trompete erscholl plötzlich von der der letzten entgegengesetzten Richtung und schnitt ihm das Wort vom Mund ab.

»Ave Maria! Der Jaguar ist beweibt?« rief Baraja ängstlich.

»Dieser Mann spricht die Wahrheit«, bestätigte Benito, »denn wir haben hier zwei, und noch niemals haben zwei männliche Jaguare gemeinschaftlich gejagt. Was Ihr auch dazu sagen mögt, Señor Cuchillo, wir haben nun schon zwei Chancen weniger. Der Durst nimmt zu, und der Jaguar hat sich verdoppelt. Also eins verhält sich zu vier wie zwei zu acht; das heißt ...«

Bei einem Brüllen, das aus der unbestimmten Grenze der nächtlichen Finsternis und des Lichtgürtels, der die Poza erhellte, hervorzudringen schien, lösten sich die Pferde, die sich bis jetzt dicht beim Feuer gruppiert hatten, von tollem Schrecken ergriffen, in wilde Flucht auf. Die Erde zitterte unter ihren Hufen, die Büsche krachten mit schrecklichem Lärm, und alle verloren sich bald unter den Schatten des Waldes, den die Strahlen des Mondes mit einem durch das Laubdach gebrochenen Licht erhellten. Das war ein Zeichen, daß die Gefahr sich vergrößerte und die Tiere, die Begleiter des Menschen, alles Vertrauen in seinen Schutz verloren und nur noch Rettung von der Flüchtigkeit ihrer Hufe, verzehnfacht durch einen grenzenlosen Schrecken, erwarteten.

In dem Augenblick, als die letzte Hilfe, auf die die Reisenden hätten zählen können, verschwand, erhob sich Benito, durchschritt den Raum, der zwischen der Gruppe, zu der er gehörte, und Don Estévan und dem Senator lag, die abseits saßen, und näherte sich ihnen:

»Die Klugheit fordert, daß ihr nicht mehr so fern von uns bleibt; man weiß nicht, was sich ereignen kann. Ihr habt es gehört, die Gefahr umgibt uns rechts und links; kommt in unsere Mitte, und wir werden für euch einen Wall mit unseren Leibern bilden.«

Die erschrockene Haltung des Senators bot einen seltsamen Gegensatz zu der ruhigen und kalten Haltung des spanischen Granden.

»Die Pflicht eines Führers ist, seine Leute zu beschützen, und nicht, sich von ihnen beschützen zu lassen«, erwiderte Arechiza stolz, »und das wollen wir tun. Wenn die Gefahr von dieser Seite kommt, da wir rechts und links dieses Gebrüll gehört haben, so bleibe ich hier mit dem Gewehr in der Hand, um den Feind zu erwarten und unseren Rücken zu decken. Mit einem sicheren Auge, einem festen Herzen und zwei Kugeln in jedem Lauf braucht man einen Jaguar nicht zu fürchten. Ihr, Herr Senator, tut beim Vortrupp, was ich beim Nachtrupp tue, und wenn Eure – Klugheit es erfordert, Euch auf unsere Leute zu stützen, so überlasse ich das ganze Eurer Entscheidung.«

Diese Übereinkunft, die den Schein rettete, war zu sehr nach dem Geschmack des Senators, um nicht von ihm angenommen zu werden.

Diese Vorkehrungen waren kaum getroffen, als sich ein fürchterliches Wechselgebrüll zwischen dem hungrigen und durstigen Jaguarpaar zu entwickeln schien. Ersticktes Knurren, tiefes Brüllen oder scharfe Töne wechselten die beiden Tiere miteinander von den verschiedenen Punkten aus. – Diese schreckliche Musik weckte im Wald dumpfen oder klingenden Widerhall, der die Steppe ringsum mit einem Dutzend dieser schrecklichen Gäste zu bevölkern schien. Jedes Gebrüll fand sein Echo in der Brust der Reisenden.

Das Gewehr des Senators zitterte in seinen Händen wie das Rohr, das der Wind hin oder her weht; Baraja empfahl sich allen Heiligen der spanischen Legende; Cuchillo umschloß seine Büchse, als ob er sie zerbrechen wollte; Benito erwartete mit dem Fatalismus der Araber kalt die Entwicklung dieses Dramas, von dem die beiden falben Darsteller schon den Prolog brüllten.


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