Heinrich Federer
Jungfer Therese
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Heinrich Federer

Jungfer Therese

Eine Erzählung aus Lachweiler

1

Vier magere Jünglinge und ein fünfter dicker standen in sauber gebürsteten, langen, schwarzen Fräcken mit den frischen Augen junger Eroberer vor ihrem Bischof. Es war Vesperzeit. In schweren, tiefgoldenen Tropfen rieselte die Sonne durch die hohen, engen Nischenfenster in das Gemach. Das uralte Flügelaltärchen und der gewaltige Glasschrank, voll lateinischer und griechischer Bücher, standen schon in violetter Dämmerung. Aber auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers funkelten noch ein paar weiße Tassen und eine Zinnkanne, woraus ein tröstlicher blauer Faden von Kaffeedampf quirlte. Neben dem Pult am Fenster, wo die fünfe standen, lief ein gepolstertes Möbel an der Wand hin, halb Sofa, halb Feldbett. Hier verbrachte der kränkliche Bischof seine vielen schlaflosen Nächte wachend, betend, studierend und im Geiste die hundert Pfarreien und zweihundert Kaplanstübchen seines kleinen, aber schwierigen Bistums visitierend.

Die fünf Neupriester hatten die Exerzitien, Fasten und Examen der letzten Wochen tapfer bestanden. Seit wenigen Tagen waren sie Gesalbte des Herrn und kamen sich immer noch in einer sozusagen sakramentalen Verzücktheit, ohne Last und Schwere, wie schwebende Geister oder wie machtvoll bezepterte junge Fürsten oder wie ein paar Heilande der Welt vor. Sie dürsteten nach dem Lande, dessen Antlitz sie erneuern, nach dem Volke, das sie zu lauter Heiligen machen wollten. Ihr ganzes Gesicht brannte vor Lust, sich mit der argen Welt in ein mannliches Scharmützel zu stürzen. Sie waren von jener feurigen Sorte, die es in allen Fingern kitzelt, das Schwert aus dem Gurt zu reißen und dem Malchus das Ohr, will sagen, dem Laster Haupt und Hörner abzuhauen.

Jetzt harrten sie ungeduldig und von einem Schuh auf den anderen tretend auf die Eröffnung, wohin ihr Hirte sie aussenden werde. Butter und Biskuit trug gerade der alte Diener Joseph auf den Tisch. Das haben sie längst nicht mehr genossen. Aber die jungen Männer, die wahrhaft bei aller heiligen Wissenschaft das irdische Leckmaul nicht ganz getötet haben, beachteten die Schleckerei jetzt kaum. Nur der dicke Anton Hottli sah und zählte genau neun Törtchen und wußte sogleich und schmerzlich, daß einer von ihnen nur ein Biskuit bekäme. Er wollte jedenfalls zwei.

Der dünnste und blasseste von allen, Herr Johannes Keng, war auch der ungeduldigste. Auf diese Minute hatte er sich seit Monaten gesehnt. In seiner poetischen Art verglich er sie mit jenem Augenblick, wo Christus, schon von verklärten, blauen Wölklein umflossen und über die gemeine Rinde der Erde schwebend, seine Apostel segnete und nach Europa und Afrika und ins innere Asien sandte, – – – kurz, es war der Augenblick der Weltverteilung.

Johannes Keng war ein schwacher, brustleidender Jüngling. Ohne Geschwister, in der sorgenden und ein bißchen verhätschelnden Pflege seiner Mutter, einer jungen Witwe, aufgewachsen, hatte er sein kleines Stück Leben mehr zwischen den Büchern und in den Träumen und Fiebern der Stube als draußen in der herben, wilden Luft der Gasse zugebracht. Er war ein Schwärmer für alles Edle und Feierliche und Schöne. Ein großer Mensch, eine hohe Zeit, eine mächtige Kunst hatten ihn im Nu bezaubert. Und er war selbst ein halber Dichter und ein halber Musiker, einer freilich, der in den heftigen Anfällen seines Brustleidens sich wie ein Zwerglein duckte und in den gesunden Tagen dann wieder wie ein Riese des größten Werkes unterfing. Theologe und Seelsorger sein dürfen, dünkte ihn das Beste. Er hatte es zuerst mit Philologie und Philosophie versucht, und ein artiges Schwänzchen davon ging ihm jetzt noch überall nach. Aber erst in der Theologie ward er glücklich und satt. – Im zweiten Seminarjahr starb ihm die Mutter. Damit hatte er allen heimischen Zusammenhang verloren. Er war jetzt nur noch bei seinen Büchern und Priestern daheim. Die Basilius und Augustin, die Leo und Innozenz, die Loyola, Capistran, Bourdaloue bildeten nun seine Familie und die Kathedrale und die paulinischen Weltstraßen, die von ihr gen Morgen und Abend liefen, dünkten ihn neben dem Stühlchen am Pult seine Heimat und Zukunft. Er träumte und schwärmte ausgelassen, aber arbeitete auch mannhaft. Kein Fach gefiel ihm so, wie das bodenständigste seiner Fakultät, die Pastoral. Von dieser Wissenschaft behauptete er einmal in einem Prolog vor seinem Bischof, der leider in so poetischem Augenblick ein großes blau geblumtes Schnupftuch zur Nase führte, mit freilich unvermindertem Versschwung, daß sie gar schmackhaft nach Erde rieche und doch überall himmlische Fenster auftue. Man sehe da Menschenstapfen und Engelfittiche nebeneinander. Es gebe da harte Türen, kümmerliche Kammern und Herzen, aber daneben schimmern Baldachine, donnern Kanzeln, fliegen goldene Tabernakelpförtlein auf. Pastoral, das ist tief wie Augustins Bücher und sitzt bäuerlich einfach neben den Dorfkindern und lacht und erzählt Geschichtlein und trinkt beim Ratsherrn Remigi einen Kaffee und trägt ein Kilo Äpfel oder eine Flasche Veltliner verstohlen in den tiefen Rocktaschen der kranken Kathri ins Mansardenzimmer hinauf.

Ihre bischöflichen Gnaden steckten das blaugeblumte Nastuch in den Ärmel und blickten kühl und ungerührt in die Rhetorik des Seminaristen.

Aber dem jungen Johannes Keng war es blutig ernst, und in allen vier theologischen Jahren hatte ihm nichts so gefallen wie die prachtvollen Vorlesungen der Pastoral bei Josephus Beck. Er zitterte vor Verlangen, was er in einem Dutzend Hefte feurig notiert hatte, nun auch durch ein paar Dutzend Jahre und durch zehntausend Menschen gewaltig auszuführen.

Jetzt nahm der Bischof einen Streifen Papier in die Hand. Das wichtigste Papier in Johannes' Leben. Da steht, wohin er kommt. Als Professor an eine Realschule? – Das paßte ihm gerade: lehren, unterrichten, zu Füßen den leuchtenden Hunger von hundert Kinderaugen. Oder in eine Stadt als Vikar? – Ah, Sozialpolitik, Arbeiterapostel, Don Bosco, Domkanzel! Oder in ein schlichtes Dörfchen hinaus? – Nun ja, nun ja! auch schön! Hügel und kleine Wiesenbäche, idyllische Nachmittage, spekulative Spaziergänge unter Linden oder Zwetschenbäumen, Barfußkinder, rauhes aber ehrliches Volksherz, schneehaariger, freundlicher, schnupfender Pfarrer, großer Kaplaneigarten, Bienenstand, Spalierbäume, Versehgänge mit Glöcklein und Laternchen durchs kniende Dorf, auch schön, auch schön! Und das Landvolk aus der Dumpfheit heben, Fortbildungsschulen stiften, Lesezimmer mit dem Schullehrer gründen, geniale Bauernkinder . . . man hört von solchen in der Weltgeschichte . . . im Lateinischen unterrichten, Stenographie, Vereine . . .

»Sieh, da kommt auch noch Honig!« flüsterte Anton Hottli fröhlich.

Johannes schoß ihm einen unwilligen Blick aus den grauen, schmalen Augen zu. – Also Vereine gründen, das Laienapostolat einführen, aufs materielle Wohl ein Auge . . .

»Herr Peter Schorno!« klang jetzt die helle Stimme des Bischofs, »Sie gehen als Pfarrverweser nach Peterach. Seien Sie um so stiller und kühler, je lauter und hitziger das Dorf ist!«

Ah, seht einmal, der Peter Schorno überhüpft gleich den untersten hierarchischen Sprossen. Schon ein halber Pfarrer! Begreiflich. Er ist allen durch sein praktisches kühles Wesen überlegen. Der paßt in die unruhige, paritätische Ortschaft ausgezeichnet.

»Herr Michael Feldler, – Sie sind Vikar in Fandwil und damit Lateinlehrer an der Sekundarschule. Sie bekommen ein gutes Volk und einen lieben Prinzipal. Aber jassen Sie nicht zu oft mit ihm! Oder dann nur unter der Bedingung, daß die Spieler griechisch reden und den Gewinn in die Kasse des Abstinentenvereines legen müssen!« – Über das kleine, verschrumpfte Aszetengesicht des Bischofs huschte ein äußerst feines, schalkhaftes Lächeln.

Holla, die Professur verloren, dachte Johannes und wunderte sich ein Weilchen, daß gerade der trockene und spröde Feldler Schule halten sollte.

»Sie, Herr Martin Schädler, brauchen wir in der Missionsstation Bromstadt. Sie erhalten ein nagelneues Pfründhäuschen mitten im Fabrikflecken. Das Volk wird sich auch seinen nagelneuen Kaplan ordentlich ansehen. Bleiben Sie frisch unter so vielen alten verräucherten Schornsteinen!«

Der Bischof sagte das langsam und mit sehr besinnlichem Tone. Alle wußten, daß Bromstadt der heikelste Posten war. Sein Pfarrer gehörte zu den alten Wessenbergianern, die reich an Güte und Moral, aber arm an Dogmen und Kirchenstolz waren, gute Stilisten und Rhetoriker, geistreich beim Disputieren, immer freigebig, aber auch biegsamen Rückgrats, liebe Kollegen, aber keine Helden. Dorthin paßte ein frischer Mensch wie Martin Schädler einer war, klein, mit witzigen Augen, frohen, aber schlagfertigen Lippen und einer Stirne wie Fels. Der schlüpfte durch Wasser und Feuer. Der tat alles für sein Ideal, das Credo von Trient.

Wieder beschlich Johannes ein leises Bedauern. Wie gern hätte er den Posten gehabt und mit dem alten Breisgauer die theologische Klinge gekreuzt! Wie hätte er ihn aus allen unkirchlichen Sätteln gehauen! Und wie wollte er blitzen und donnern in seiner lauen Altmännergemeinde! Frühling schaffen, wo schon lange nur Dürre herrschte! Schade, daß der Gnädige nicht an ihn gedacht! Sah er denn nicht blaß und mager aus wie irgendein großer Denker!

Nun standen noch der magerste und der dickste allein sessellos da auf Erden. Alles war untergebracht, eingepfründet, hatte Amt und Stuhl, nur sie zwei hingen noch da zwischen Himmel und Erde wie nestlose Vögel.

»Und ich . . . und ich?«

Deutlich war die Frage zweimal rasch hintereinander durch die Stube vernommen worden. Zaghaft und doch gierig hatte es geklungen. Ganz glührot stand er nun da, vom leisen Lachen der Kollegen gleichsam umspült, und schämte sich entsetzlich: Johannes Keng!

Doch der Bischof las unbeirrt weiter: »Herr Anton Hottli, Sie behalten wir hier an unserer Kathedrale als Vikar. Sie werden mit den Vereinen zu tun haben. Tummeln Sie sich! Flinke Stadt, flinke Leute, flinker Pastor!«

Das war nun wirklich das Wunderbarste von diesem weltverteilenden, wunderbaren Papierchen in den langen, knochigen Fingern des Bischofs. Der dicke, phlegmatische Hottli Stadtvikar! Er, der nie pressierte, auch zwischen zwei Depeschen nicht, der auf keinen Stuhl saß, ohne vorher gemächlich das Sitzbrett zu scheuern, der ein Glas, und war es auch fingerhutklein, nie anders als in viermal vier Schlücken leerte, der langsam sprach, die Musik verachtete und die Poesie ein Überbein oder einen Kropf der Menschheit und also einen krassen Luxus nannte, er, der fette, gelassene Barbar, von dem man meinte, er würde irgendwo in die Missionen zu den Lappländern geschickt, der nistet sich nun in der bischöflichen Residenz ein, mitten in der summenden, schwitzenden, hunderttausendbeinigen Stadt, wo Automobile und Kurzschluß alle Nerven verhunzen. Soll man ihm gratulieren oder ihn bedauern? Im Schatten des Bischofs und der Landesregierung, wie müßte da ein hochstrebender, elastischer Geist aufblühen und wirken! Aber er, dieser Fisch! Diese pelzige Langsamkeit! Dieser Nordbär! Wie wird der sich in die Vereine voll zappeliger Stadtsöhne trollen, du lieber Gott! Was werden die mit ihm Schund treiben! Er ist ja wohl gescheit und hat einen soliden Charakter. Aber bis er seine massive Verstandesmaschine jedesmal geölt und eingeschmiert hat, ward ein anderer mit der Arbeit siebenmal fertig. Na, der Bischof ist ein großartiger Hirte, im Kirchenrecht eine anerkannte Berühmtheit . . . aber ob er hier den dicken Anton . . .

»Und zum Schlusse unsere kleine Ungeduld namens Johannes Keng . . . wird sich eben doch im Dorfe Lachweiler hinten häuslich einrichten müssen.«

Der Bischof legte den Zettel aufs Pult, sah klar und kernig dem verdutzten Theologen ins Gesicht und spottete halb ernst, halb belustigt weiter:

»Es wachsen dort die größten Nußbäume der Diözese, und der Wildberg ob der Kaplanei ist ein malerischer Hügel. Die Luft wird gerühmt. Sie ist, glaub' ich, ein wenig poetisch. Man will haben, daß in Lachweiler unser großer Ekkehard geboren sei. Der Parochus loci ist noch ungemein rüstig und läßt dem Kaplan wenig Mühe übrig. Da können Sie sich pflegen und ein ländliches Epos schreiben! . . . Bucolica Lachwilensia!«

Wieder kicherte es um Johannes herum leise. Dem Jüngling wechselte jäh Licht und Schatten auf dem Gesichte; er bekam feuchte Augen. Spottete man? Ward er so zurückgesetzt? Irgendwohin vergraben für alle Zeit und Ewigkeit? Sein Licht unter den . . .

Er kam nicht weiter. Eine feine, kühle Hand nahm ihn freundlich am Gelenk und drängte ihn sanft gegen den Tisch. Und dazu klang es:

»Und nur nicht schon die Angst vor den Winkeln da hinten! Viele wären froh um solche Winkel! Doch geht eine wackere Straße ins Dorf und man kann so gut wieder ausziehen, wie man einzog. Aber ich habe gerade an Ihre Gesundheit gedacht, da ich Sie dem Pfarrer Cyrillus Zelblein als seinen kommenden Kaplan anzeigte. Und ich zweifle, ob Sie so schnell wieder ausfliegen möchten, wenn Sie sich einmal warm eingenistet haben . . . Nun, guten Appetit, meine wohlbestallten Herrn, bedienen Sie sich! . . . Da vorne an der Wand hängt die Karte, wenn etwa einer seine Apostelreise genauer studieren möchte . . .«

Die jungen Priester setzten sich um den breiten Eichentisch. Aber obwohl der Bischof an seinem Pulte sich nun in einen Stoß Papiere vertiefte und nur ab und zu aus seiner großartigen Korrespondenz heraus gelassen zum Tisch hinübernickte, die neuen Kapläne und Vikare möchten doch tapfer zugreifen, und wiewohl es fröhliche, fastenlose Osterzeit war, so herrschte doch kein großer Appetit. Man war zu aufgeregt. Wer kann essen, wenn man ihm die Weltkugel vor die Füße rollt: da nimm! – Wer mag Butter aufs Brot streichen und vergnügliche Honigschnörkel darauf ziehen, wenn man ihm eben ein Dörfchen und Häuslein zeigte, wo er vielleicht bis in die vornüber gebückten, eisgrauen Tage wie ein Klausner oder eine eingedeckelte Schnecke leben wird?

So vesperten die Hochwürdigen denn mit abwesendem Geiste. Peter Schorno wog das paritätische Verhältnis in Peterach mit kalten, scharfen Zahlen ab; Kollega Feldler konjugierte ein paar unregelmäßige Deponentia, worunter adipiscor, gleichsam als Vorübung zur Professur; der hübsche, kleine Schädler mit den lachenden Lippen beschloß, den Syllabus seinem Prinzipal und den Kirchenräten bei der ersten Gelegenheit zu schenken und darüber Vorträge zu halten, während Johannes den Zwicker über seine schwachen, grauen Augen aufsetzte und nun auf der Wandkarte deutlich sah, wie die Eisenbahnlinie unbarmherzig rasch und in einer strengen Geraden von der Hauptstadt weglief und wie die Ortschaften an den Geleisen immer kleiner wurden, bis endlich fast an der Grenze des Ländchens an einem winzigen Nestchen die berühmte Straße nach Lachweiler ansetzte. Lachweiler! Ja, man konnte wohl lachen. War das eine Straße! Fadendünn gezeichnet wie Wege, die keine Post haben und vielleicht nicht einmal für vierrädrige Vehikel fahrbar sind! Diese schwache Linie zog sich gemächlich zwischen zwei Hügelketten, die immer mehr gegen das ferne Gebirge zu an Kammhöhe wuchsen, durch ein einsames, bachdurchsprudeltes Gelände hinauf. Es konnte eine romantische Landschaft sein. Vielleicht Felsen und ein haushoher Wasserfall. Nun, das wäre doch etwas! Dann ringelte diese sogenannte Straße Schleifen, die einigen Humor verraten. Auf einmal ist sie von vierhundertundfünfzig auf sechshundertundfünfzehn Meter gestiegen. Ein tapferes Stück, das läßt sich nun doch nicht leugnen. Aber dem brustleidenden Kaplan beengt dieses geographische Bild ein wenig den Atem. Ihm fällt ja alles Steigen so schwer. Nun sehe aber einer die treulose, ganz gemeine Landstraße an! Weil Lachweiler noch etwas höher liegt, läßt sie das Dorf einfach links liegen, als ob sie das Völklein dort oben gar nichts anginge, und wandert bequem ihren Strich am Rand eines prachtvollen, tiefen Flußtobels talauf, um andere bequemere Menschendörfer zu suchen. Das ist nun freilich hübsch zu verfolgen, wie dafür ein Fußweg, possierlich wie ein Eichhörnchen, dem Dorfe zuhüpft und plötzlich, etwa so zwischen Schulhaus und Spritzenhäuschen, auf den erhöhten Kirchplatz stößt. Ein Quell rauscht hinter der Kirche hervor. Der muß wohl auch an der Kaplanei vorbei. Und dahinter steht ein langer Hügel auf und steigt gegen das eigentliche Gebirge zu, bald selber ein richtiger Berg. Von seinem Gipfel aus muß man die Glarner und Appenzeller Alpen sehen; den Tödi jedenfalls, das steht außer Frage. Vortrefflich! Johannes liebt die Berge trotz seines magern Schnäufleins. Besonders wenn sie von weitem mit weißem Schultertuch und silbergrauem Scheitel winken und ein paar duftige Wölklein darüber schwimmen. Ohne viel Übertreibung kann man dann denken, daß dahinter schon die Trauben und Palmen des Südens wachsen. Nein, Lachweiler muß doch ein gutes Plätzchen Vaterland sein, gesund, reinlich, mit frischen Luftzügen und schönen Aussichten von jedem Hügelchen. Johannes lebt auf. Welche Hitze strömt jetzt, an diesem Maitag schon, aus den städtischen Gassen in dieses doch so hohe Gemach! Wie wird das erst im Sommer! Und Johannes haßt nichts so sehr wie Hitze und Staub. Dann will ihm das Herz vor Mattigkeit oft stillstehen. Aber da droben in Lachweiler muß es köstlich frisch und kühl sein. Nußbaumschatten und Nußbaumduft, sechshundertsiebzig-meter-hohe Dorfunschuld und Bakterienfreiheit. Wer weiß, ob sich nicht im Juli und August ein paar einsame Fremde dahinauf verirren. Vielleicht ein philosophischer Basler Professor, mit dem man über Nietzsche und Jakob Burckhardt streiten kann, oder ein heimlicher Dichter aus Zürich, der dem Kaplan seine Manuskripte vorliest, oder ein Maler, der intime und noch ungeschändete Landschaften aufsucht. O Lachweiler ist ein ausgezeichneter Posten. Das Volk freilich wird da oben so gut und lieb sein, daß es weder einen Petrus, noch einen Paulus braucht. Aber einen Johannes kann es immer brauchen. Liebe kann man nie zuviel haben. Als Johannes gehen wir also! Liebe, eine heillose Liebe spürt der Kaplan in sich. Damit möchte er jetzt schon das ganze Lachweiler mit Pfarrer, Sigrist, Lehrer und dem gesamten Schulhaus voll Barfußknaben und Zweizöpfemädchen an seine eingesunkene, aber nun von den fröhlichsten Vorstellungen geschwellte Brust drücken.

Nun bekommt er Appetit und langt nach den Biskuits. Aber da sticht ihm der dicke Stadtvikar noch das letzte vor der Nase weg. Er kaut und schmunzelt gemütlich dem Johannes ins abgezehrte, blasse Gesicht.

»Das wievielte?« fragt der neue Kaplan zwischen Spaß und Ärger.

»Weiß nicht, das fünfte oder sechste!«

»Bursche, das ist aber zu stark!«

»Ei, ich will doch essen,« sagt Anton lustig, »während ihr euere große Kirchenpolitik macht. Mit leerem Magen kann niemand die Welt erobern, nicht einmal die kleinste Kapellenglocke läuten. – Aber streicht doch Butter auf die Biskuits, das ist einfach ambrosisch,« schloß er lachend und auf die leere Biskuitschüssel weisend. »Seht so!« –

»Du wirst mit deinem Hunger die ganze Kathedrale und das Domkapitel und die Stadt bankerott essen. Gottlob, daß ich weit weg komme!« neckte Johannes, schon wieder begütigt.

Beim Abschied gab es noch eine kleine Rede.

»Ich halte keinen Sermon mehr,« begann der Bischof klipp und klar, »sondern ich erinnere Sie an die erhabenen Vorsätze, womit Sie Priester geworden sind. Sie verzichteten, reich zu werden, um bei den Armen zu sein wie Christus; Sie wollten nicht Ehren auflesen, sondern vor allem dem gewöhnlichen lieben Volk nachgehen und seinen demütigen Schemel teilen. Und nicht gut essen und trinken und hausen, sondern das suchen und kosten und weiter schenken, was die unstete Seele endlich satt macht und beherbergt für immer. Jetzt, meine Herren, nehme ich Sie beim Wort.

»Im übrigen,« fuhr der Bischof mit seiner hellen, trockenen Stimme und mit ungerührten, scharfen Politikeraugen fort, »hat jeder von Ihnen wenigstens soviel, daß er leben kann, zirka zwölfhundert Franken Sold, freies Haus und Holz und einige Stipendien. Damit und mit ein wenig Sparsamkeit können Sie wohl auskommen. Sie brauchen ja nicht gleich ein Sofa oder Klavier anzuschaffen. Soviel ich weiß, sind die Apostel ohne Gehalt, barfuß und barhaupt in die Pastoration gegangen. So auch die Brüder von Assisi. Nun, das verlangt niemand von Ihnen, das ginge bei uns auch wohl nicht leicht. Die Hauptsache ist immer, daß Sie Christus bei sich haben. Dann wird es am Nötigsten kaum fehlen. Und,« beschloß der Gnädige gemütlicher, »wo es dann doch nicht recht langen will, wissen Sie ja hoffentlich immer den Weg hieher! Wohlan also, seien Sie gute Knechte im Weinberg! Und nun knien Sie nieder! Ich will Sie segnen!«

Wieder fühlte Johannes seine Augen feucht werden. O wie gern wollte er ein strammer Knecht an der Weinkelter des Meisters sein und ihm Trauben pflücken, große, schwere, hochreife, wie die aus Kanaan . . . ach, diese Schwärmerei! nein, nein, doch auch kleine, harte, magere Beeren, von denen es viele braucht, bis ein Becher mit Saft gefüllt ist. Aber dann ist auch das Wein, und oft ein kräftiger, edler Wein.

Unter der Türe bemerkte der Bischof noch wie zum Scherz: »Nun hätt' ich beinahe etwas vom Wichtigsten vergessen! Haben Sie schon alle eine brave Haushälterin?« –

Der eine nannte eine ältere, ledige Schwester, der andere eine verwitwete und verwitterte Tante. Peter Schorno war so glücklich, sein liebes altes Mütterchen ins geistliche Haus zu nehmen. Aber der dicke Stadtvikar sagte, er brauche niemand. Er stationiere ja beim Kinderpfarrer. Und er rekelte und dehnte sich vor Behagen, daß er nun nicht einmal einen Suppenteller oder einen Vorhang kaufen müsse.

Johannes gestand betroffen, daß er an diese prosaische Notwendigkeit noch gar nicht gedacht habe. Mit einem gelinden Vorwurf im Auge erwiderte der Bischof, dann dürfe er keine Zeit mehr verlieren. Am Samstag werde er in Lachweiler erwartet. Dann hob er die magere Hand mit dem prachtvollen Ring, den ihm der Heilige Vater zu Rom für seine großen kirchenpolitischen Erfolge in einem heikeln Geschäft mit der vaterländischen Regierung höchstselbst an den Goldfinger gesteckt hatte, und warnte leise: »Nicht zuviel träumen!«


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