Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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27

Johannes begab sich nach der Vesper zu Laus Tann. Er trug einen Pack voll Backwerk unter dem Arm, das er von Pfarrers Tisch erbettelt hatte. Keiner von den Herren hatte ihm etwas Lauteres über den Redakteur sagen mögen. Philippus zuckte die Achseln, und der Doktor von Innsbruck sagte: »Ich glaub', er ist nicht bös und nicht gut, das Geld macht ihn zu dem, was er ist.«

»Ja, die Schulden!« rief einer.

»Marthatag . . . Zinstag!« seufzte der Rütmüler, der für seine Brudersfamilie tief in Geldnöte gekommen war. »Sie werden ihm an den Kragen langen, 's ist Feiertag, sie haben Zeit, die frommen Geizhälse! . . .«

»Das bekehrt ihn vielleicht, wer weiß!« beschloß fromm der alte, weder Haben noch Sollen kennende Kapuziner.

Der Kaplan traf niemanden im Hausgang. Es roch nach etwas Verbranntem. Überall lagen Papierfetzen und Späne herum, an einer Türschwelle auch ein Paar ungleicher Sandalen. Vom oberen Boden hörte man viele junge, wilde Schuhe poltern. Die kleinen Tann und Tanninnen jagten einander wohl herum. Hinter einer Türe da unten schrie eine kleine, dünne, schon fast sprachfertige Kinderstimme nach der Mutter. Hinten im Gang, wo es sehr finster war, schlug und stampfte etwas gegen die Wand wie ein Ungetüm mit eisernen Hufen. Das kam wohl von der Druckerei. – Die Küche stand offen, und nun merkte Johannes' lange und peinliche Nase, daß der brenzlige Geruch vom Herd kam, wo ein winzig kleines Pfännlein voll siedender Milch überlief. – Das konnte der Geistliche nicht ertragen. Er sprang im seinen Festfrack zum Herd, hob die Pfanne vom Feuer und verbrannte sich am heißen Stiel heillos die Hand.

Welch eine Unordnung, dachte er, die rote Blase netzend und hauchend. Und der will Welt und Kirche ordnen! Nun ist's genug. Mit dem Menschen will ich heut fertig werden!

Keine Seele zeigte sich. Die Flamme loderte zum Herdloch hinaus. Was sollte er tun? Das konnte ja eine Feuersbrunst geben. Vorsichtig füllte er einen leeren Hafen mit Wasser und stellte ihn über das Feuer. Dabei war ihm recht ungemütlich. Wenn jemand käme, ihn sähe! Und doch, konnte er anders?

Er wollte hinaus, da rauschte etwas Großes, Schönes, Lautes den Gang herein und füllte die Türöffnung aus. Das stemmte die Ellbogen in den Rahmen und fing an wundervoll zu lachen. Es läutete wie von einer großen, aber dünnen, silbernen Glockenschale. So hoch und doch so stark.

Johannes blieb auf dem Fleck stehen vor Staunen. Die Dame trug einen Hut mit stürmisch gesträußter Feder, einen dunkelgrünen Seidenrock und auch eine solche Jacke, woraus jedoch silberweiße Litzen schossen. Ihr Gesicht war breit oval und flaumig und rotbraun wie eine reife Pfirsich. Aus den kugeligen braunen Augen lachte nichts als Spaß.

»Frau Redakteur Tann?« sagte der Kaplan betreten.

»Ach, Herr Kaplan,« erwiderte die Frau in einem selten klangvollen Deutsch und rauschte ihm wie eine Fürstin entgegen, »nun haben Sie mir da noch eine Extrapredigt gehalten. Nicht wahr, eine saubere Hausfrau, wollen Sie sagen! Aber darf ich Ihnen verraten, daß mir vor ein paar Stunden die Magd mir nichts dir nichts davongelaufen ist? Und daß . . .«

»Isabella, Isabella!« unterbrach sie sich hier voll Beweglichkeit und klatschte in die großen, weißen Hände, »jetzt hab' ich ein Nachtessen im Engel bestellt . . . denken Sie einmal: keine Magd und sieben Kinder und die Druckerei und Kirchenfest und Gäste, das heißt den verehrten Herrn Ehrenprediger . . . . Isabella, Isabella!«

Das ist eine Italienerin, das ist keine von unserem Gewächs, sagte sich Johannes. Sie redet auch so melodisch.

Jetzt trippelte etwas die Stiege hinunter und huschte herein, etwa siebenjährig, schmächtig, barfuß und ohne Jacke, so gar nicht feiertäglich, mit einem unordentlichen, aber sonnengelben Haarstrudel, ein verlottertes, schmutziges, aber dennoch wundersames Menschenengelchen. Sowie es den Kaplan sah, knickste es mit Grazie und reichte ihm ohne Scheu sein unsauberes Händchen.

»Hast die Milch überlaufen lassen. Du gaumst mir gut. Na, jetzt lauf' und sag' dem Vater, es sei ein hoher, hoher Besuch da! Willst laufen? Husch, husch!« – Die große Frau stiefelte wie ein Kind, um zu zeigen, wie schnell die Kleine laufen müsse.

Aber Johannes ließ das Kind nicht aus der Hand. Nie hatte er so ein Mägdlein gesehen, so hochgelb, fast weißlich das zitternd feine Haar und so tintenschwarz die großen Italieneraugen. Wie zweimal Nacht sahen sie aus diesem magern, fein gemodelten Gesichtlein und blitzten mit einem wundervollen Augenstern heraus. Bei allem Schmutz und Wust lag etwas himmlisch Reines und Zartes über Mund und Stirne.

»Bist wohl gerade vom Himmel gefallen, Geschöpflein du,« lächelte Johannes, »und weißt halt noch nicht, daß bei uns da unten so ein Pfännchen Milch überläuft, wenn's ihr zu heiß wird. Gelt ja! So führ' mich jetzt zum Vater! Nur gleich in die Druckerei!«

»Was sinnen Sie? Kommen Sie, Herr Kaplan, in den Salon, kommen Sie!«

»Keine Umstände, Frau Redakteur,« bat Johannes fest. »Lassen Sie mich mit dem Kinde schnell in die Druckerei hinüber! Ihr Mann erwartet mich sicher. Ich hab' Eile!«

Und obwohl die Frau sich sperrte und spreizte und zuerst beinahe vorauslaufen wollte, zog der Kaplan die Kleine aus der Küche gegen das Getöse jener eisernen Hufe hinten im Gang. Und das Kind lachte und zog selber auch mit bis zu einer ganz engen, ganz steilen Stiege, die zur Druckereitüre hinunter führte. Durch diese Enge hätte die Dame ihre breite, grüne Seide nicht durchgezwängt. Darum mußte sie zornig zurückbleiben.

»Da hinunter!« lockte das Kind mit dem reinen Klang eines Taufglöckleins. »Nehmen Sie die Lehne! Da!« Das Mägdlein nahm die Hand des Geistlichen und legte sie freundlich ans unsichtbare Geländer. Das Kind ging gewiß noch nicht in die Schule und tat doch so stramm wie ein Großes.

»Du bist ja ein richtiges Schutzengelchen!« sagte Johannes in einer Art von Verzauberung.

»Bitte, so gib mir auch etwas dafür! Willst du?« fragte die Kleine plötzlich zutunlicher. Aber die Stimme war härter und rauher geworden, und das kleine Händchen zupfte den Geistlichen dringlich am Ärmel. »Da aus dem Papier? Es riecht gut! –«

»Du Schnuppernäschen! Gewiß, das ist für dich und die andern! Willst du?«

»O gib, gib!« heischte die Kleine schier wild, und wahrhaft, ihre großen Nachtaugen glitzerten aus dem dunkeln Erdgeschoß wie zwei heiße Feuer. »Gib, ich bring's hinauf! Du, gib, ich hab' Hunger!« – Wieder riß es am Frack.

Na, wenn das nicht Italiener sind, will ich nicht mehr Johannes heißen, dachte der Kaplan belustigt. So klein und so natürlich, aber auch schon so frech, richtige Briganten! Ganz so frech will ich jetzt mit dem Laus da drinnen auch sein. Gib mir das Manuskript, sag' ich. Gib, ich hab' Hunger. – Und ich reiß es ihm mit Gewalt aus der Schublade.

»Zuerst mußt du ein Stück selber essen,« sprach er laut, »da, zum Führerlohn . . . Mäulchen auf! So! . . . Schmeckts?«

Im Nu war das Johannisbrötchen verschlungen. Nicht wie Naschwerk, nein, mit der Ernsthaftigkeit und Gier eines furchtbaren Hungers. Mit der gleichen Gier blickte das Kind nun nach einem zweiten Bissen auf. Jetzt merkte Johannes erst auf.

»Hast du Hunger?« fragte er entsetzt. »So Hunger?«

»Wir haben noch nicht zu Mittag gegessen. Brüderchen auch nicht, Schwesterchen auch nicht. Und die Milch ist überlaufen, du weißt ja. Und die Mutter hat nichts vom ›Engel‹ gebracht. Hast du nicht gesehen, sie hat nichts in der Hand gehabt. Du aber hast da Gutes . . . gib, gib, Lieber. Schnell! Und du mußt dann in die Türe! Gib schnell!«

Dem Kaplan rieselte ein wahres Grauen vom Haar bis in die Zehen. Das war also keine Schelmerei, das war entsetzlicher Ernst. Dieses Engelchen verhungerte schier. Johannes hatte gelesen, daß die Pilger in der Sahara, wenn sie nichts mehr zu essen oder zu trinken haben, trockene, harte, funkelnde Augen bekommen wie dunkles Glas, sie klirren beinahe. Da waren sie, diese stechend harten, brennenden und beinahe klirrenden Augen. Das trieb dem jungen Mann, der eben vom satten Vespertisch kam, einen feuchten Glanz in die Augen.

»Da, da, nimm!« sagte Johannes leise und schob dem Kinde vorsichtig, als wären sie zwei nun schon Geheimbündler geworden, das ganze Paket unter den Arm. »Und da, nimm das auch! Und kauf' was, wenn du wieder Hunger hast, nimm rasch!« Und wahrhaft, klug oder unklug, er gab diesem Balg den schönen Zwanzigfränkler, den er soeben vom Perauter Pfarrer zum Lohn für seine Festpredigt empfangen hatte. Aber Johannes konnte nicht anders. Er hätte in diesem Augenblick auch einen Hundertfränkler, einen Tausendfränkler ins magere Engelhändchen gelegt.

»Carissim Padrin . . . ach, du Lieber,« sagte die Kleine, ihre Freude rasch verdeutschend. Sie hob ihre dünnen Arme zu ihm auf und spitzte das Schmutzmäulchen und reckte sich unendlich auf den nackten Fußspitzen, »komm, du, komm, un bacciolino!«

Wie ein sehnsüchtiges Vögelchen, das vom Boden auffliegen möchte, sah das Kind aus.

Da beugte sich Johannes, unwiderstehlich von diesem frühen, unschuldigen Marterengelchen angezogen, nieder und hielt geduldig her, bis ihm die Kleine drei süße, italienische Küßlein auf die Wangen gegeben hatte. Aber es waren dürre, heftige, brennende Kinderküsse. In diesen Küssen spürte der Priester auf einmal den ganzen Jammer dieses Hauses, den Luxus und die Leichtlebigkeit der Dame, die schwächliche Vernarrtheit des Gemahls, sein Suchen nach Geld, um in dem gemeinen, vielbrauchigen Leben nicht unterzugehen. Er spürte sein wahlloses, gewalttätiges Zugreifen nach den Prozenten, ohne die er verlumpen mußte. Ja, da sind sie, die siebenzig Prozente, Freund Allspach, jetzt spür' ich sie auch.

Isabellchen schoß lachend die Kletterstiege empor. Von der kleinen Vordiele sah ihr Johannes sinnend nach und suchte mit der Hand das ungewohnte feuchte Gefühl der Liebkosungen vom Gesicht zu wischen. Als er sich dann gegen die Druckereitüre umkehrte, stand Laus Tann auf dem offenen Söller und forschte ihn seltsam mit seinen Tintenklecksäuglein aus. Der Kaplan erschrak, als wäre er bei etwas Unrechtem ertappt worden. Dann stotterte er: »Welch ein schwieriges Haus haben Sie da . . . wo geht's denn auch ein und aus . . . da? Und welch ein Kind! . . . Ach, was für ein Geschäft . . . Herr, Tann, ich muß sogleich mit Ihnen reden!«

Der Redaktor machte ein furchtbar schweres Gesicht, aber nickte höflich und sprach mit der Hand nach dem Bureau weisend: »Und ich mit Ihnen, Herr Kaplan!«


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