Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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15

Es gab einen erquicklichen Hock in der Junggesellenstube des Doktors. Nach dem Essen ward der Redakteur Tann von der »Lampe« zu einem Kaffeejaß hergeholt. Der wußte schon, daß Johannes gern etwas in die Welt hinauskleckse. So nahm er denn auch den neuen Bekannten sogleich nach der frechen, profitablen Art aller Redakteure an beiden Ellbogen, blitzte ihm mit kleinen, scharfen Tintenklecksäuglein geradeswegs ins Gesicht und sagte, daß er durchaus Beiträge aus der »so geschickten und geistreichen Feder« des Kaplans haben müsse. Sonst gehe die Welt unter. Besonders in die Sonntagsnummer sollte er ihm schreiben und am liebsten Dinge mit kulturellem Saft, recht Fortschrittliches, was dem alten, konservativen Schlendrian um einige Manneslängen vorausklettere.

Johannes unterschlug einen Seufzer. Er dachte an den Aufstieg aus der Schlucht.

Allspach ließ dem Redakteur jetzt das breiteste Wort. Er machte dazu nur eigentümlich schalkhafte, belustigte Augen und ließ weder ein gutes Ja, noch ein böses Nein in den Eifer des Kameraden fahren. Es wunderte ihn augenscheinlich, was zwischen zwei Menschen wie diesem Tann und diesem Johannes sich ausspinnen werde.

Redakteur Laus Tann war als junger, feuriger Gehilfe früh ans städtische Tageblatt gekommen, weil er die großen Daten des Tages wie Raufszenen und Prellereien, gestürzte Reiter, erbrochene Kassen, gefundene Windelkinder, falsche Banknoten und Petrolbrände mit einer raschen und farbenwilden Feder in die Spalten zu bringen wußte. Er freilich hätte sich mit seinem glühenden Reformgeist viel lieber als in solche abenteuerliche Kleinstadtgassen in die offene Weltstraße der politischen und religiösen Zeitprobleme hinausgeschrieben. Wenn der Chef für ein paar Tage in die nahen Berge wanderte, so verübte Tann auch gleich einen so gefährlichen Leitartikel über Staat und Kirche oder über eine neue, soziale Erziehung und schoß wohl auch so dicke Wurfspeere aus seiner republikanischen Heimat in die gewaltige kaiserliche Nachbarschaft hinüber, daß der heimkehrende Kollege jedesmal ein paar eingeworfene Scheiben und eine Beige refusierter Blätter in der Bude fand. Nach einem Artikel über die Verwandlung des Schweizermilitärs in freie Zivilwehr wurde der unhaltbare, doch gute Mann aufs Land verbannt, heiratete eine hablose, aber üppigschöne Signorina Caterina, die Tochter des italienischen Pflasterers Pietro Stolzi, übernahm das Provinzblatt »Lampe« und schlug dann und wann einen kleinen Radau in Peraut. Denn er blieb der gleiche abenteuerliche Feuerteufel, der täglich von einer neuen Erfindung oder Reform träumte, wodurch die Bettelsackerde ein Paradies würde und er aus seinen wachsenden Ladenschulden und rückständigen Hauszinsen sich mit einem einzigen leichten Ruck in ein Leben emporschwänge, wo man das Gold nur so spucken und schneuzen könnte. Aber die »Lampe« hat mit den Annoncen und mit den Viehmärkten ringsum und den Obstpreisen und dem Hütlergeschäft schon soviel Arbeit, daß für funkelnde, großzügige Weltanschauungsartikel Herrn Tann keine Minute übrigblieb. Nicht einen einzigen Zehnfränkler vermochte er auszuspucken. Dazu schenkte ihm sein Weib sieben Jahre hintereinander ein Kind und immer im schönsten Rhythmus Bübchen – Mägdlein, Bübchen – Mägdlein. – Für dieses Jahr war es ein Büblein, das wie eine Trompete das Haus durchschrie. Daran hatte er für ein Jahr wieder Leitartikel genug. Um so mehr war er nun über alles entzückt, was ihm Albert vom Kaplan verriet. Der hatte also auch schon als unbeflaumter Gymnasiast Satiren und Minnelieder in Zeitungen geschrieben, war hellköpfig, haßte Vorurteile, konnte alten Plunder nicht ausstehen und ließ sicher auch in religiösen Sachen ein sogenanntes vernünftiges Wort mit sich reden.

Redakteur Laus Tann brauchte nichts als witzige und tüchtige Arbeiter, sei es für die Zeitung, sei es für seinen kleinen Buchdruck. Die Feder dieses Kaplans konnte für ihn ein Kapital bedeuten. Sie konnte Aufsehen und Widerstreit erwecken, das Publikum in Harnisch bringen und so für sein Geschäft und seinen ewig hungrigen Beutel eine goldene Reklame machen. Dazu kommt, daß diese Idealisten von Kaplänen kein Schrotkorn vom Geschäft verstehen, viel zu scheu sind, um ein Honorar zu fordern, und sich reichlich bezahlt fühlen, wenn man ihnen am Neujahr ein Kistlein Veltliner Flaschenwein und ein Paket hübscher Visitenkarten schenkt. Diesen Johannes, diesen Johannes, den müssen wir anbohren.

Zuerst wurden vorläufig Universitätswitze und Studentenschnurren aufgewärmt, Zipfel und Mütze besungen – Redakteur Tann pfiff: cerevisiam bibunt homines; – die Blume! – den Rest! – steige nach! – ich löffle mich! – ging wirr hin und her, und Johannes meinte, es sei ihm bereits ein Zentner Philistertum vom Leibe gefallen. Er wurde fidel. Man spielte nur noch lässig, vergaß die Trümpfe auszugeben und die Stöcke zu zeigen. Zuletzt ließ man Eicheln und Schellen untereinander über dem Tisch und plauderte lieber. Johannes fragte seinen Wirt, wie ihm die Leute nach zweijähriger Bekanntschaft vorkämen. Gute, wackere Leute, zeichnete sie Allspach knapp. Steinharter Charakter. Besinnliche! Aber rufen den Arzt immer zu spät, helfen sich gern mit Quacksalbern, schlafen bei geschlossenen Fenstern, packen die Kranken zum Ersticken warm ein und scheuen die Zugluft wie den Teufel. Und baden zuwenig. Aber sonst . . .

»Und doch sind die Japaner nur wegen dem Baden so stark. Mit der Wanne haben sie den schmutzigen, russischen Pelz besiegt,« rief Laus Tann und goß begeistert ein neues Spitzgläschen voll Kirsch in seinen Mokka.

»Doch auch, weil sie so geniale Feldherren hatten und aus Vaterlandsliebe fochten,« fügte Johannes bescheiden bei.

»Schon, schon!« sagte der Redakteur. »Aber Albert redet davon, daß unsere Leute kein Fenster öffnen wollen. Und so halten sie es auch in der politischen Stube. Die alten Gesetze allerhöchstens flicken, nicht neue machen! Das alte Schulhaus renovieren, nicht neu bauen . . . Aha, Sie nicken, Herr Kaplan . . . also auch schon erfahren! . . . Und weiter die alten Sporteln mit Ach und Krach zahlen, nicht neue, fixe Gehälter bestimmen. Und der Sohn wird meist was der Vater, Gemeinderat und Präsident, ob er nun eine Null oder gar Minus ist. Was in den schönen, großen Städten Freies und Bürgerstolzes erblüht, davon dürfen wir hier nichts erfahren. Was Referendum und Initiative ist, wissen nicht einmal unsere Rekruten, und wenn ich in der Schule fragen würde, wie unser Bundespräsident heiße, so würde es keine Seele sagen können.«

»Wahrhaft,« gestand der Kaplan, »wie heißt er eigentlich?«

»Das Oberhaupt unserer Republik? . . . Da sehen Sie, wie wir in den lebendigen politischen Tag eingeführt werden, daß sogar ein wohlbestallter Schweizerkaplan fragen muß, wie das gegenwärtige Oberhaupt unserer Republik heiße.«

»Daran liegt wenig, gerade weil wir eine Republik sind. Auch ich weiß nicht, welcher von den Sieben heuer Präsident ist,« warf Allspach nüchtern ein.

»Wenn das am grünen Holz geschieht!« jammerte der kleine, schwarzbärtige, tintenäugige Redakteur. – »Aber weiter, wie übel steht es in unseren Dörfern mit dem Turnen, mit der Lebensversicherung, mit den Stipendien an junge Talente. Nichts als eine schlechte Blechmusik und sauren Most und starken Tabak und siebenmaliges Kirchengeläut haben wir hier von Morgen bis Abend.«

»Oh, oh, so arg ist's denn doch nicht!« widersprach Johannes, durch das siebenmalige Kirchengeläute ein wenig verschnupft.

»Noch viel ärger! ›Martha, Martha‹, warnt Ihr immer. Wir Katholiken sollten nur stets die Marien sein, die zu Euren Füßen sitzen. Indessen wir die Fabriken sausen, die Gelder rollen, die Wissenschaften zu den Sternen fliegen und in die untersten Gründe graben lassen, sollen wir Eurem ›Nur eins ist notwendig‹ wie einer müden, alten Glocke zuhören. Das ist der Fehler des Kath . . . Ja, wenigstens des Provinzkatholizismus. Er spielt nur die Maria. Und währenddem besetzen die Marthas alle Tische und Stühle und nehmen alle Schränke und Geldkatzen in Besitz, kurz, tragen die Welt in der Schürze davon . . . wir andern haben ja genug am Sitzen zu den Füßen des Herrn.« – –

Johannes fühlte, daß dies Kampf war, den er aufnehmen müsse. Aber wie? Hatte dieser schwarze Mann mit den bleckenden Wolfszähnen nicht unter vielem Übertreiben auch ein Pfefferkorn Wahrheit gesagt? Was tat zum Beispiel das gesamte katholische Volk hier für die Industrie, für die Hochschule, für die Literatur? Die einzige Fabrik in Peraut gehörte einem Protestanten, der Hütlermeister war Protestant, der Bankdirektor im Städtchen auch, der Bezirkspräsident und der Förster auch. Und weiter ins Vaterland schauend, wie waren die Lose verteilt? Kupfer und Nickel gab es wohl und etwa auch Silber bei uns, aber das eigentliche Gold und genau so das Hauptrad der Industrie und die regierende Feder der Literatur und der herrschende Stempel der Obrigkeit waren nicht katholisch. Martha präsidierte und stempelte und verfügte in den Rathäusern, Martha dirigierte den elektrischen Knopf, Martha trieb die Bahnen und Motoren, Martha schrieb die Zeitungen und beherrschte den Roman, Martha hier und Martha dort . . . und Maria lag hinten im Gebirge oder um eine stille Dorfkirche oder auf einer hohen schweigenden Alpe auf den Knien und lispelte: »Nur eines ist not!«

Manches war spitzfindig und manches übertrieben, das merkte Johannes diesen Gedanken auf dem Fuße nach. Daß es denn doch nicht überall auf Erden so sei, daß eine katholische Martha in manchem Erdenstrich recht kräftige Arbeit verrichte und daß sie in Holland und England und in den Vereinigten Staaten so emsig wie ihre Schwester sich umtue, wenn sie daneben auch das Stillesitzen und sich Sammeln nicht vergesse, – das fiel ihm wohl ein, aber er war wie vor die Zunge geschlagen und brachte kein Wort hervor. – Sein Manuskript knisterte in der Tasche.

»Da sollten wir Gegenarbeit tun, Herr Kaplan,« predigte der Redakteur weiter. »Der Arzt muß zeigen, daß gerade katholisch sein auch heißt gesund sein, den Leib hochhalten, als Gottes Kunstwerk ehren, seine Kraft und Schönheit genießen! Lieber ein Auge ausreißen, als Ärgernis geben, sagt ihr so erhaben. Aber ich sage: besser ein Auge behalten und ein gutes Beispiel geben, und seinen Fuß behalten und anderen vorausgehen damit, und seine beiden Hände behalten und andern den Reichtum der Welt auftischen, ja, das ist katholisch! Du sollst nicht töten, sondern du sollst dich und andere herzlich froh und wohllebend machen!«

Der Kaplan nickte nicht und verneinte nicht, er lauschte, lauschte; dieser heiße, schwarze Mann packte ihn, den Unerfahrenen.

»Und ich als Redakteur muß zeigen, daß es erst recht katholisch ist, alle Güter uns zugänglich zu machen. Je reicher, je katholischer; je gelehrter, je katholischer; je forschender, je katholischer; je erfindungsreicher, je katholischer. So sollte es heißen, und das wäre meine Aufgabe, unseren verbohrten Köpfen das klarzumachen. Mit einem Wort: das Gehirn lüften!«

Johannes dachte: welch ein Redner wäre der kleine Mann, wenn er statt in Peraut in der Pariser Kammer oder im englischen Unterhaus spräche. Hier war es ihm zu eng. Das zeigte die Art, wie er die Sätze herausstieß gleich lang verhaltenen, mühsam unterdrückten, auf diesen einen kurzen und glücklichen Augenblick versparten Ergüssen. Hernach muß er wieder schlucken und würgen. Auch sein Hemdkragen und sein Fräcklein schlossen sich so knapp und hart an den Leib, daß man glaubte, beim ersten besten Gestus müsse eine Naht reißen. Welch ein sonderbarer, wilder Genius der Freiheit war in diesem enggepreßten und so schmal gemodelten Klümplein Mensch eingesperrt! Ein tragisch' Los!

»Und Ihre Aufgabe ist genau so: das Herz lüften! den Druck nehmen, als ob der Alp der Sünde immer auf uns liege, als ob gleich jeder Scherz gegen den Dekalog verstoße, als ob es nicht auch Schnörkel selbst aus Theologiebüchern zu radieren gebe. Das Credo ist mir heilig. Aber gerade darum will ich nichts hineinschmuggeln, was nicht schon darin steht. Soll es denn gleich Hochverrat sein, wenn man meint, die heutige Predigtweise müsse moderner gestimmt werden? Der Geistliche solle weltmännischer, will sagen, weltkundiger erzogen sein? Man habe die geistesgewaltige Philosophie der Gegner vornehmer und interessierter zu berücksichtigen? Das äußere Instrument der Kirche habe mit dem modernen Leben sich gütlich und vorteilhaft abzufinden? Und neben dem gewaltigen Stern des Glaubens müsse doch der Menschenverstand immer auch noch sein gar nicht überflüssiges Laternchen anzünden und damit über Steg und Weg sich leuchten dürfen . . . Ach, es wäre noch viel zu sagen von den ewig italienischen Päpsten, als ob der Heilige Geist keine Amerikaner oder Engländer oder ennetbirgische Deutsche und Schweizer kennte; und gar über die Art, wie Rom germanischen Geist ansieht und mit unserer nordischen Psyche rechnet, habe ich in freien Momenten bittere Zeilen in mein Taschenbuch notiert. Aber darf man's schreiben? Gleich lodert der Bannstrahl über dem Kecken. Aber immer werd' ich's wiederholen und immer wieder: Neuer Wein in alte Schläuche! Das Wort stammt doch aus der Bibel, oder . . .?«

Johannes stutzte. Waren das nicht von den nämlichen Gedanken, die aus seinem Manuskript herausklagten und herauszürnten? Sie hatten bei Laus nur eine heftigere, weltlichere, unehrerbietigere Stimme. Freilich lag auf diesem lodernden Schwatz ein dicker Rauch alter und neuer Phrasen. Wie wenig hing doch am Italiener! Da konnte man sich dann auch über die zwölf jüdischen Apostel beschweren. Nicht einmal der junge lockige Johannes ist ein blonder, träumerischer Thüringer, nicht einmal der bartgewaltige Bartholomäus ein Urner oder Graubündner gewesen! Und wahrhaft, sehr einseitig redet dieser Mann. Als ob das Bröcklein brauner, lichtloser Planet, das wir Erde heißen, und das Fetzlein davon, was einer mit allen zehn gierigen Fingern davon in seine Hosensäcke steckt, als ob das schon alles mögliche Glück wäre. Als ob man dann satt wäre und Amen sagen könnte. Nur vom Besitzen, vom Geld und vom Gelten, weiß er ein begehrliches Lied! Armer Redakteur! Wie hab' ich das nur auch einmal in einer Seminarpredigt genannt? – – »Sie haben das Herz und den Magen eines Sperlings. Wenn der nur immer seine paar mastigen Würmer, seine paar Kornhalmen oder sein Dutzend Kirschen hat, so wird er feist und rund und selig. Er weiß nicht, was eine Adlerseele noch für andere Seligkeiten kennt! Und erst die Menschenseele, wogegen auch der Adler auf dem Monte Rosa eine Mücke ist!« – Man kann wohl alles haben, wovon der Brandredakteur da plädiert, und doch im Innern öd und blöd und nackt sein, ohne Zufriedenheit und ohne Weite ins Ewige hinaus. Kurz, man hat die augustinische Ruhe in Gott nicht. Man ist eine Seele am Verhungern und am Verdursten und wenn man sich vor leiblicher Behaglichkeit siebenmal kröpft. Nein, nein, Redakteur, du gehst mir zu sehr ins Äußerliche und Förmliche. Ich aber glaube doch, in meinen Papieren für eine innere Reform zu fechten.

Bei solcher Erwägung fiel ihm tröstlich ein, wie er als feuriger Theologe derartige Angriffe mit Blicken wie Feuer und mit Worten wie Schwertern abgewehrt hätte. Und er versuchte auch jetzt entschieden wieder so ein Schwert zu zücken. Aber er bekam weder Schwung, noch Schneid. Und es war ihm dabei immer, als müsse er recht fein achtgeben, daß er sich nicht selbst weh tue. Ja, er hatte geradezu das Gefühl eines Soldaten, der das Gewehr gegen den Feind abschießen soll, aber nicht recht zielen, noch treffen kann, weil er vor den eigenen Leuten zittert, die ihm jeden Augenblick in den Rücken schießen können. Kein Zweifel, er war vor den eigenen Truppen nicht sicher. Sie liebäugeln mit dem Feind, das merkt er nun sehr deutlich. Es gab da eine geistige Kameradschaft zwischen seinen und den Redakteurgedanken, mehr, als er sich gerne eingestand. Daher fiel denn auch seine Abwehr so schwächlich aus. Es gab da nichts als – – allerdings – – und zugegeben daß – – und es mag ja sein, daß etwa auch – – – und freilich räume ich ehrlich ein: es hat, es sind – – Zuletzt bekam der ganze Widerstand das Gesicht eines stillen, wehmütigen Zugestehens zu Dreivierteln. Johannes fühlte das selber voll Scham und wurde immer befangener und verlegener. Ja, ja, sie zwei kleine Winkeldörfler da waren daran, der uralten, königlichen Herrscherin Ecclesia die Seidenspitzen und Goldfransen abzuzerren und zu sagen: Das ist unecht! – – ja, ihr ein Stück Purpur ums andere abzunehmen und zu sagen: Das kleidet dich nicht mehr gut, das ist heute außer Mode, – – laß, ich will dir ein neueres, besseres Gewand schneidern! –

Johannes raffte sich dann auf. Er wollte sagen, daß die Laien in dieser Sache überhaupt nicht gut reden können, daß man da mit Andacht und Respekt und theologischer Weisheit vorgehen müsse, und daß die kluge, zweitausendjährige Kirche schon am besten wisse, wie sie das Unziemliche und Holperige, was der Zeitgeist und nicht etwa das eigene unsterbliche Wesen an ihre äußere Figur gehängt habe, wieder wegbringe. Schon oft habe sie den Staub der Erdenstraße, der auch sie nicht ganz schone, wieder aus den Falten geschüttelt und dann aufs neue geglänzt wie am ersten Tag. – Aber so oft Johannes solches sagen und sich begeistern und entrüsten wollte, knisterte das Manuskript in seiner Brusttasche wieder und spottete ihn aus und sagte. Ah bah, das sagst du jetzt nur so! – Heuchler! Hier hast du anders geschrieben.

So ward der gute Kaplan und Pfarrverweser immer unsicherer. Alles ging um ihn drunter und drüber. Er sah aus dem Trubel nur noch die Tintenklecksäuglein des Redakteurs um ihn herum kleine, lustige Blitze verschießen und die zwei schweren Augenbrauen des Arztes, in eine einzige schwarze Gewitterwolke zusammengeballt, irgendwo über ihm dräuen. Am Ende wußte er keinen Rat, als beide Männer in die Lachweiler Kaplanei einzuladen. »Wir haben viel Gemeinsames, aber alles ist verworren und übertrieben bei uns. Das müssen wir schlichten. Ich habe ja auch einiges über derlei Sachen geschrieben, das . . .«

»Sie haben geschrieben . . . Alle Wetter! Wo? Wie?«

»Kommen Sie einmal hinüber und lassen Sie uns dann ruhig von allem reden und die Eierröhrli meiner Jungfer Therese probieren!«

»Etwas geschrieben! Und zeigen mir kein Manuskript! Das ist so sündhaft wie Selbstmord! Zeigen Sie, zeigen Sie!«

»Ich lese Ihnen davon vor, sobald Sie kommen!«

»Ich komme,« schwor der Redakteur mit gewaltigem Augengeflacker. »Aber dann müssen Sie mir das Papier zum Druck geben, durchaus!«

»Ich verspreche nichts. Da ist noch alles unreif. Aber einen echten chinesischen Karawanentee wird Ihnen meine Haushälterin servieren!«

»Schweigen Sie, Bescheidener! Die Sache selber ist reif genug. Was wollen wir mehr?«

»Meine sehr ehrenwerten Kirchenlehrer,« mischte sich hier unendlich kühl Allspach ein, »was wir noch mehr wollen? Vorläufig eine starke Virginia rauchen und dann ein wenig durch unsere Residenz spazieren und dem Kaplan unsere neuen Straßenlaternen und Feuerspritzen zeigen. Um zwei Uhr ist Probe. Weißt, Kodex, so ganz mitternächtige Leute sind wir denn doch auch hier oben nicht . . . Nehmt mich in die Mitte! Denn ich muß den einen vor dem andern warnen. Ihr kennt einander noch lange nicht und wollt doch mitsammen den Globus versetzen. Du, Redakterchen, weißt nicht, daß der Kaplan weder springen, noch lärmen, noch klettern, noch das leichteste Kinderwäglein stoßen kann, ohne Erstickungsanfälle zu kriegen. Sieh dich also vor, was er dir im Notfall wert sein kann! . . . Und du, Kaplänchen, weißt auch nicht, daß der Laus da jeden Monat einen Leitartikel für das Turnen und Turngeräte schreibt, aber selber nicht einmal die einfache Kniewelle oder den Aufzug fertigbringt. Von den neunundneunzig Druckfehlern in jeder Nummer der ›Lampe‹, die ihr beinahe das Lichtlein ausblasen, sag' ich aus angeborener Barmherzigkeit weiter nichts . . . Aber seht, seht, da kommen sie, da marschieren sie schon am Fenster vorbei, unsere frischen, trefflichen Feuerwehrbuben! Gebt acht, die werden uns halb verschwemmen.« . . .

Als der Kaplan gegen Abend heimging und jede Straßenschleife gewissenhaft mitschleifte, da tauchte das Hochgebirge hinter den nahen Voralpen so himmlisch klar mit seinen grauen Tempelsäulen an den prachtvoll gemeißelten Fassaden und mit den marmorweißen Dächern gen Ost und Süd auf, daß man das Erlauchte ganz nahe wähnte, während es doch immer noch viele strenge Wegstunden weit hinten lag. Es stand so scharf mit seinen schwarzen Graten und silbernen Zinken und Buckeln gegen den Himmel ab, weil in jenen unerstiegenen Höhen sicher ein reiner, scharfer Wind ging und alles Trübe aus der Luft fegte, so daß sie in einer unschuldigen, fast durchsichtigen Bläue erschimmerten. Sieben duftige, weiße Federwölklein, die in einer dünnen Zeile, wie fliegende Tauben hintereinander, über dem Gebirge erschienen, mochten eine solche Helligkeit nicht ertragen, ließen Federchen um Federchen fallen und lösten sich langsam auf. Ja, der Wind wehte bis zu den Hügeln des Vorlandes hinunter. Er lief tausendfüßig rechts und links von der Straße im Grase herum, daß die Wiesen auf- und niederwogten, jetzt, wenn er über sie herfiel, bleich und demütig, jetzt, wenn er abzog, hochauf und funkelnd grün. Dem Geistlichen spielte diese Bise keck ins zu lange Haar und hinter das weite Kollar den Rücken und die Brust hinunter. Sie kühlte sein heißes Herz wie tropfendes Eis. Von der späten Sonne hatte aller Rasen und der Forst gegen das Tobel hinab eine scharfe, tiefgelbe Farbe. Vom reifen Feld dampfte ein Duft wie nach Honig und warmem, frischem Brot auf. Man konnte wohl meinen, es gehe ein großes, beinahe wildes Fest durch die Natur. Alles, so weit man sah, selbst die Häuser fern drüben in Lachweiler machten ein frisches, glänzendes Gesichtlein.

Aber als dann Johannes nach langen zwei Stunden wieder drüben in Tobelwies so nah an den Menschen und Menschenhütten vorbeiging, daß er sie fast streifte, da roch es so übel aus dem Stall, der an jedem Haus klebt, und aus den ewigen Mistpfützen davor, und da beschmutzten sich die Kinder an einem Trog so unmanierlich und zeigten Strümpfe voll Löcher und ein wochenlang nie durchkämmtes Haar, und da hing ein zerfallenes, altes Weib so merkwürdige Fetzen an ein Seil auf, die als Hemden und Leinenkittel gelten wollten, und durch die engen, tiefen Fenster sah man in ein so dunkles und dumpfes Kammerwesen hinein und sogar der Wind kam da so wenig auf gegen die stille, starre, bleierne Kleingassenluft, – daß dem Kaplan das Mitleid über diese armen Weiler, die an der Festlichkeit in den Höhen so gar keinen Teil haben sollen, bis ans Halszäpfchen hinaufstieg. Und auf einmal fühlte er sich wieder im alten Werktag und in den alten Nöten mit der lieben Menschheit. Die Papiere in seiner Tasche fingen wieder an zu reden und zu klingeln und zu regieren. O, sagte sich Johannes, diese Berge, diese Wolken, diese Sonne, dieser auffahrende Wind, all dieser Idealismus der Natur verkündet mir: auch der Mensch muß mit, auch er muß sich aus dem Staub zum Ideal empor reformieren. Diese Sonne und dieser Höhenwind und dieses Gipfelglänzen in alle Himmel empor, o das leidet nichts Schmutziges und Kriechendes und Sieches. Säuberung bei uns! Gehe es wie es wolle, wie sich die Natur so rüstig immer wieder reformiert, so müssen auch wir, ihre feinen Geschöpflein, ans Werk. Oder dann schämen wir uns vor dem Lehm, aus dem wir erschaffen sind und von dem wir nichts als die Faulheit geerbt haben! Nicht die Natur soll uns, wir sollen der Natur das gute Vorbild des Fortschrittes geben. So wollte es Gott, da er uns allein stehend über ihr erschuf, und da Christus uns allein aus aller Natur heraus zu erlösen kam.

Als Johannes an Bosers besser gebautem Gehöfte vorbeiging, sah er Fräulein Rosetta am Fenster zwischen langen, violetten Fuchsien sitzen und häkeln. Sie stand sogleich auf und verneigte sich mächtig. Johannes grüßte höflich und ging rascher. Warum gefiel ihm doch plötzlich dieses laue, matte, süße Gesicht nicht mehr? War es, weil er wieder einmal mit kräftigen, stolzen Männern verkehrt hatte und dabei selber knorriger geworden war, oder sah er, so nahe dem Kaplaneigiebel, bereits jenes andere Jungferngesicht, das so schlecht zu dieser Rosetta paßte wie ein Kieselstein in einen silberdrahtenen Ring, sah er dieses massive Gesicht, das mit drei göttlichen Schöpferschlägen in die Länge und Breite und Tiefe aus einem einzigen Granitklotz zu dieser prachtvoll eckigen und soliden Therese Legli gehauen worden war? Wie würde dieses Gesicht weit weit den Mund öffnen und mit seiner hellsten und grellsten Trompetenstimme mich in Grund und Boden hineinschmettern, wenn es vor ein paar Stunden mein Nicken und Zugeben gesehen hätte! Wie werd' ich es ankehren müssen, es auf den Besuch des Redakteurs vorzubereiten, ohne daß es Unrat wittert? Auf die Eierröhrli werden wir wohl verzichten müssen.

Immer kleiner und zaghafter wurden die Schritte des Sünders, je näher der Giebel mit den blitzenden Mansardenfenstern heranrückte. Vor der vergitterten Türe entsagte Johannes auch dem transasiatischen Karawanentee.


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