Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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16

»Warum beichten doch soviel mehr Leute beim Kapuziner als bei mir?« fragte der Kaplan am späten Samstagabend. Er war mißmutig und zum erstenmal mit einem düstern, eifersüchtigen Lichtlein in den grauen Augen von der Kirche gekommen.

»Herr Kaplan, Pater Expedit ist ein alter, erfahrener Seelenführer . . . Darum! Man kommt bei ihm vorwärts!«

»Bei mir wohl nicht?«

»Gewiß auch bei Ihnen, bei jedem! Aber Sie sind noch so jung. Und ich glaube, die guten Leute wollen Sie schonen, weil Sie soviel husten.«

»Ach, das mit dem Husten ist eine Ausrede, Theres! Jung! Da haben wir's! Er ist noch jung, damit schlägt man mich schließlich tot. Ich bin zu jung, die Standespredigten im Advent zu halten, sagte der Pfarrer. Ich bin zu jung, Professor zu werden, meinte der Bischof. Ich bin zu jung zum Schriftstellern, denkt Doktor Allspach . . .«

»Doktor Allspach muß ein wackerer Mann sein,« lobte Therese unklug.

»Natürlich, orgeln Sie nur auch mit, diese Pfeife darf nicht fehlen! Ich bin zu jung zum Ratgeber, glaubt das gesamte Lachweilervolk. Zu jung, zu jung . . . zu allem bin ich zu jung, nur zum Sterben nicht.«

Er hustete nun wirklich lang und tief und furchtbar trocken, wobei sein bleiches Gesicht dunkelrot wurde vom andringenden Blut im Kopf.

»So ist das nicht gemeint,« tröstete Therese. »Aber seien Sie ein recht einfacher Beichtvater, dann werden Sie viele Beichtlinge haben. So einfach wie der gute Hirt . . .«

»Was soll nun das wieder heißen?« fragte Johannes aufgebracht.

»Man sagt, Sie machen so lange Zusprüche . . . und so schöne, viel zu schöne, wissen Sie, zu hoch für die Lachweiler! Die verstehen das nicht.«

»Ei, ei, das sagt man! Was ist das wohl für eine Schnepfe?«

»Ja, so eine Schnepfe hat sogar ausgeschwatzt, Sie hätten ihr viel Latein vorgesprochen und am Ende das De profundis zur Buße aufgegeben. Sie wußte nicht, was das war, und der Lehrer nicht und der Gemeindeschreiber Jonas nicht. Da konnt' ich es ihr sagen.«

Johannes biß sich in die bleiche Unterlippe vor Ärger, aber schwieg.

Am folgenden Sonntagabend brevierte er in seinem geschnitzelten, alten Chorstuhl, während der Kapuziner am Muttergottesaltar eine Andacht für die uralte Todesangst-Bruderschaft abhielt. Er kam zum Psalm De profundis, und da wollte ihn ein frischer Grimm packen. Aber er überwand sich, blickte steif ins Buch und preßte seinen Sinn mit Gewalt in die großen Worte:

Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr, Herr, erhöre meine Stimme!
O wende doch dein Ohr zu mir, – gib acht auf mein Flehen! –

Wie kindlich und wie hinreißend! dachte er. Aus irgendeiner tiefen, kleinen Erdfurche herauf dringt so ein Stimmlein in die Weltallchöre der Sonnen und geflügelten Cherubim. Und will durchaus gehört werden! Durch alles Brausen der Himmelsorgeln und durch alles Harfnen der Davide und Salomone hindurch! Und will gut verstanden werden, will für einen Augenblick allein Gehör haben, Gottes Gehör! – Es durchrieselte den Kaplan ein Schauer von Demut und von Ehrfurcht vor dem Großen, was in einem Menschengebet liegt.

Da schlugen die Worte des vorbetenden Kapuziners mit fast roher Gewalt in seine innige, hehre Minute hinein:

»Wenn meine Augen brechen und mich der Todesschweiß näßt!«

Dumpf entgegnete das Volk: »O Maria, immer hilf!«

»Wenn das Blut aus meinen Lippen weicht und ich erstarre!«

»O Maria, immer hilf!«

»Wenn es dunkel um mich wird und mein Gebein erkracht!«

»O Maria, immer hilf.«

»Wenn . . .«

Was ist das für eine Litanei, dachte Johannes entsetzt. Die hat der Pfarrer oder der Kapuziner sicher selbst verfaßt. Alles macht ja jetzt Gebete, als gäbe es keine römische Disziplin mehr. Und das gefällt den Leuten! Wie sie schreien! So etwas Krasses, Grobes, o ja, das ist die Art, wie man hier betet!

Er versuchte umsonst seinen Psalm fertigzubringen. Sobald er sich mit dem Kapuziner allein in der Sakristei sah, fragte er: »Was haben Sie doch eben für eine Litanei vorgebetet?«

»Aha,« lachte der Pater und grübelte behaglich mit drei Fingern im Bart, »die gefällt Ihnen auch. – Aber ich weiß wirklich nicht, ob Pfarrer Zelblein sie vor dem Bischof verantworten könnte. Im Diözesanbuch steht sie nicht.«

»Offen gestanden, ich würde sie verbieten, wenn ich Bischof wäre.«

»Still, still! Sie strenger Mann!« rief der Pater und hielt ihm die Hand vor den Mund. »Sie ist nicht sein, diese Letzt' End-Litanei. Aber ist etwa das Sterben sein? Und geht es nicht so zu, wie es darinnen steht? Und ist es nicht besser, daß wir ungeziert in diesen eisigen Spiegel schauen, als wie die zimperlichen Städter bei jedem Sarg und Bahrtuch einen großen Umweg machen? Tun wir nicht zu fein, da uns der Tod doch einmal ganz grob in die Finger nimmt!«

»Das ist ja wahr,« gestand Johannes. »Aber alles so grell ausmalen, mit einer so grausigen Behaglichkeit . . . Sie oder unser Pfarrer haben doch hoffentlich diese Litanei nicht gemacht!«

»Reverende, das ist ein uraltes Gebet! Am Armenseelentag und am Karfreitag und wo eine Leiche im Haus liegt, da wird sie immer vom ganzen Völklein gewaltig gebetet. Daran haben sich Hunderte von Schläfern da draußen . . .« er zeigte durchs Fensterlein zu dem weiten Acker voll Gräber . . . »stramm gemacht und sozusagen an den Tod gewöhnt.«

Da kam es wieder, das berühmte Wort Theresens. Haben denn immer alle recht und er allein immer unrecht?

»Das Volk in dieser Gegend läßt sich diese Litanei von keinem Pfarrer nehmen. Da müßte schon der Bischof selber mit seinem Hirtenstab klopfen. Jedes Kind weiß sie auswendig. So verliert sie ihr Grausiges, aber warnt und mahnt und zeigt ehrlich dorthin, wohin wir sonst lieber den Rücken kehren, wir Hasen des Lebens. Gewiß bleibt sie eine grobe Beterin. Aber unsere berühmten alten Totentänze, die man dem Volk gemalt hat, sind doch gerade so derb und viel minder geistlich.«

Johannes machte keine Einwendungen mehr und wollte zur Sakristei hinaus.

»Nun hab' ich Ihnen wohl gar ein übles Geschmäcklein auf die Zunge gestrichen,« sagte Pater Expedit lächelnd. »Halt, das geht nicht so. Sie müssen mit mir im Pfarrhof das Vesperbrot nehmen. Ich will Ihnen schon Appetit machen. Passen Sie auf. Wir haben ein dottergelbes Gleichschwer von Ihrer Jungfer Köchin, der bebrillten, zum Tee bekommen.« Der große, achselbreite Mönch lachte den Kaplan mit seinen roten Lippen und gesunden weißen Zähnen und mit den gemütlichsten Augen der Welt an. Welch ein wunderbarer Mann, der vom Todesschweiß und vom Knacken der Gebeine mit Appetit zu einer Schnitte Backwerk übergeht.

Habe ich denn allein dieses Gleichschwer nicht? dachte der Kaplan, das wirklich herrliche Biskuit mit verstellter Heiterkeit hinunterwürgend.


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