Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

29

Am Portal der Lachweiler Kirche, das ein steinerner St. Michael trutzig verficht, pflanzte man hohe Tannenbäume auf. Über die Kronenstiege und vor dem Schulhaus ward auf Tod und Leben gekränzt. Überall sah man Frauen Fenster putzen und Treppen scheuern. Vom Pfarrhof sprang dem heimkehrenden, todmüden Ehrenprediger Ottilie mit einem Expreßbrief entgegen. »Sie sind unterwegs! Sie sind unterwegs!« sagte sie halb lachend, halb weinend vor Seligkeit. »Jetzt sind sie schon in Mailand. Morgen geht es bis Zürich. Aber Jungfer Therese springt voraus. Morgen abend schon. Nur der Pfarrer übernachtet dort unten in Zürich. Es wäre für ihn zuviel auf einmal. Herr Kaplan, Sie sollen ihm dorthin entgegenreisen, heißt es da. O du lieber Christ! Lesen Sie selber, lesen Sie, da, da!«

Mitten in all der großen Dorffreude stand der Kaplan wie ein Fels im Frühling. Kein Blümchen wollte sich ansetzen. Da gab es nichts als kahle Trostlosigkeit und ein dumpfes, schweres, böses Gewissen.

Nach einer Nacht, die ihn ermüdet hatte wie zehn kämpfende Tage, reiste er am Morgen nach der Messe nicht gen Zürich hinunter, soviel lieber er diesen Weg zöge, sondern fuhr mit schwerem Pilgermut in die alte Bischofsstadt hinauf. Der Verweser ging bis zur Station mit. Er durfte den Pfarrer holen. »O ich Narr! Wie hab' ich mir alles Glück ja kindisch verdorben,« sagte sich Johannes, dem fröhlichen Zürcherzug nachblickend, bis ihn der düstere Ostzug zur Pfalz trug. Aber Johannes war fest entschlossen, sich vor dem Bischof auf die Knie zu werfen und wie ein reuiger Sohn das »Pater, peccavi!« zu sagen.

Im gleichen Wagen saß der junge Kronenstudent mit anderen Gespanen, die blonden Brauen hochziehend, und rauchte scharfe Zigaretten. Er kam mit den Kameraden zum Kaplan herüber. Wie lustig diese Jungen sich den heutigen, für Johannes so schweren Tag vorstellten. Jedes Lachen schnitt ihm ins Herz. Jakob wollte ihm eine feine Zigarette aufdrängen, ägyptisches Fabrikat, wie der Khedive sie raucht! – Aber Johannes lehnte bitter ab. Was? Er raucht nicht einmal so ein Stengelchen? Vikar Hottli, der herrliche, dicke Hottli, ihr Ehrenmitglied, sei nicht so ängstlich. Der werde ihnen heute wieder seine langen Brissago anbieten und die allerlängste davon selber rauchen. Er halte die Festrede. Die Turnsektion der Kantonsschule feiert nämlich den Sommerkommers heute nachmittag im Dörflein Selfert. Selbst ein Kanonikus und ein Regierungsrat seien angesagt. Aber wenn nur Hottli dabei sei! Der verstehe die Studenten ausgezeichnet. Wenn sie was auf dem Herzen zuviel oder im Säckel zuwenig hätten, gingen sie nur zu Hottli, dem Studentenpapa. Zwar seien immer Leute vor der Türe. Kinder, Bettler, Gesellen oder der bischöfliche Sekretarius, dem er in eiligen Dingen wacker nachhelfe. Denn alles, vom Bischof bis zum ersten Beichtling, habe den Hottli gern. Aber sowie eine Mütze komme, jage er alle andern fort und sage: Mein Bruder ist da, kommt ihr anderen lieber morgen wieder, der Bruder geht allem vor! – So einer! – Johannes solle auch mit an den Kommers kommen. Das tue ihm gut! Er sei doch auch einmal Blaumützler und sogar Vorturner gewesen. Na, da in Lachweiler werde man sonst vor Langeweile grau und krumm.

Ein wenig bitter berührte den Kaplan das Lob seines Sozius. Alles übrige hallte an seinem Ohr vorbei wie ein fremdes, nichtiges Gelärm. – –

Im langen, bischöflichen Hausflur sahen die Wappen der alten Kirchenfürsten ernst von der weißen Kalkwand. Und im Porträt hielt jeder Bischof das Evangelienbuch oder den Rosenkranz oder ein Kruzifix, jedenfalls immer etwas sehr Bedeutendes mit aller Gewalt in der Hand. Da gab es solche, die um des Glaubens willen aus Stadt und Land vertrieben worden waren, andere hatten sogar Gefängnis oder peinliche Prozesse durchgemacht, einer war in der Verbannung vor Heimweh nach seiner Herde, ein zweiter an der Pest mitten unter seinen Pfleglingen gestorben. Starke Menschen waren es zumeist gewesen, und jeder hatte für die liebe Mutter Ecclesia einmal ein Heldenstücklein bestanden. Es war feierlich, sich zu einer so erlauchten Gesellschaft, auch nur als unterster Kaplan, zählen zu dürfen. – Aber darf ich, darf ich? dachte Johannes. Als ich vor vier Monaten hier wegzog, da durfte ich's. Aber heute? – –

Jetzt ging es in den Seitengang zu den Privatgemächern des Bischofs. Dort vor dem Eingang stand ein behelmter und wuchtig umpanzerter Ritter Georg. Es ging nichts über das kühne Auge dieses heiligen Recken. Der vorgehaltene Speer blitzte auch tüchtig genug. Aber was war das gegen den stolzen, glorreichen Schein dieser Augen? Unter den Füßen des großartigen Mannes krümmte sich ein verendender Lindwurm. Es schien, als wehte ein frischer Wind von dieser Statue in den stillen Korridor hinaus. Man mußte im Umkreis dieses Helden selber ein Held werden. Vor dieses Bild tritt wohl unser Bischof, wenn er wieder einen tapferen Hirtenbrief in die Welt hinausfliegen läßt oder wenn er vor einem heftigen Kampf mit den Kirchenfeinden steht. Ja, sann Johannes weiter, so ist die Kirche selber wie dieser Sankt Jürg. Der Drache muß immer verspielen. Den Speer wird sie nie aus der Hand geben. Und schon gar nicht wird sie von mir einen Speer entlehnen wollen, so ein Spielzeug, wie mein Säbel eines war.

In den Gängen hallten die Schritte fast wie in einer großen, leeren Kirche. Es lag ein Atem von Feierlichkeit über allen Schwellen. Da stand über einer Türe: Rev. D. D. Decanus, – da: Rev. D. D. Cancellarius Episcopalis, – da: Rev. D. D. Rektor Parochialis. Das waren die Säulen des Bistums. So oft einer von ihnen ins Seminar hinauf gekommen war, hatte er durch sein frohes und großgeistiges Wesen in den Alumnen eine helle Begeisterung fürs Priesteramt entfacht.

Immer nichtiger kam sich Johannes in dieser großen Umgebung vor. Er konnte seine reformerische Aufgeblasenheit gar nicht mehr begreifen. Er hätte sie für einen unangenehmen Traum gehalten, wenn nicht aus diesem Traume furchtbar wirklich das elende Gespenst seines Manuskripts gedroht hätte.

Schreiber, Sekretäre, Landgeistliche gingen her und hin, pochten da, kamen dort heraus. Alle machten fleißige und zufriedene Gesichter. Alle kamen, um etwas Gutes aus ihrem Kirchspiel zu bringen oder etwas Gutes für ihre Pfarrei zu holen. Und er?

Es muß sein. Vorwärts! Gerade wollte er um den Geharnischten herum, als aus der Kanzlei der dicke Domvikar Anton Hottli trat. »Du hier?« sagte er langsam und gleichmütig und patschte ihm die Rechte. Er war in den vier Monaten wahrhaft nicht dünner geworden. Er aß wohl immer noch Biskuit mit Butter.

Aber Johannes hielt sich an seiner kleinen, fetten Hand voll Hoffnung fest und sagte: »Ich will zum Gnädigen Herrn!«

»Ist nicht da! Der Bischof firmt in Puchholz . . . nein, wart einmal . . . dort war er gestern . . . morgen firmt er bei uns daheim, ich darf die Firmpredigt halten, gratulier' mir! . . . Nein, also, heut' weilt er ganz oben auf dem Berg in Wildhauren. Es soll noch Schnee bei der obersten Kapelle haben. Aber unser Gnädiger ist unermüdlich. Er wird eben bis zum Schnee hinaufklettern. Auch dort muß liturgische Ordnung sein!«

»Dann will ich zum Domdekan!« bekannte Johannes.

»Ist auch nicht zu sprechen. Er nimmt gerade das Examen der Kandidaten ab. Unsere Nachfolger! . . . erinnerst du dich noch an die Dogmengeschichte? . . . ›War Bischof Hosius Häretiker oder nicht?‹«

»Hör auf! Ich habe jetzt ernstere Dinge vor. Wo ist denn unser Regens?«

»Mit dem Gnädigen auf der Firmreise,« sagte Hottli rascher und entzog dem Kollegen die Hand. »Addio, du! . . . Ich hab' keine Minute frei! Noch zwei Stunden Unterricht, dann eine kleine Rede an die wilden Bierzipfel . . . die bekommen mal Katechismus zu hören! Dann wär' noch Diskussionsabend bei den Gesellen, aber leider muß ich zeitig ins Firmdorf abdampfen. Ach, lieber Hans, man hat keine Zeit mehr, nicht einmal für ein Biskuit!« – Er lachte in scheinheiliger Trauer. »Also, entschuldige mich! Du findest ja deinen Weg hier allein!« – Schon entlief er mit einer Eile, die ihm Johannes nie zugetraut hätte. Wie eine Kugel rollt, eine flinke, sichere, aufs genaue Ziel geschnellte Kugel.

Zuerst wollte Johannes ihm nachspringen. Er wollte ihm sagen: nein, ich finde meinen Weg nicht mehr allein. Hilf mir! Aber schon hörte er irgendwo eine Türe zuschlagen. Dann ward es ein Weilchen totenstill im Gang. Nur Sankt Georgs Harnisch schien leise zu knirschen. Dieser Held wachte großartig.

Johannes schlenderte durch die Stadt wieder dem Bahnhof zu, langsam, mit gesenktem Kopf, wie ein Büßer, der seine Lossprechung nicht gefunden hat. Wie anders hatte er sich doch diesen ersten Besuch in der Residenz vorgestellt! Freunde, Gratulanten, ein Konzert, ein Ehrenerweis. Jetzt gab es nichts von dem allem. Aber auch die schmucken Läden, die schönen Brunnen und Statuen, die blumigen Rasenplätze, die ganze, helle Rüstigkeit der Straße und all ihr Frontenglanz und ihr pfeifendes und parlierendes, schnelläugiges Volk, alles das berührte ihn nicht. Er strebte dem Bahnhof zu. Nur an einem Bücherladen sah er zufällig den neuen Regensburger Kalender. Den kauf' ich, dachte er, ein Kram für Jungfer Therese. Bis ihm der Diener das Stück eingepackt hatte, besah er sich ein wenig den neuesten Vorrat auf dem Tisch. Da fiel ihm sogleich ein Heftlein auf: ›Doktor Lorse gegen die Unsterblichkeit!‹ Wie eine Stadt mit niedern und hohen Türmen war die Unzahl dieser Hefte aufgebeigt. Die niedrigen Türme bewiesen, wie viele Broschüren davon schon verkauft waren. – »Es geht reißend ab,« sagte der Ladenschwengel boshaft. »Da drüben haben wir eine Entgegnung, ich glaube vom Bischof selbst. Na, sie zieht nicht. Zwei oder drei Exemplare sind heute weggekommen. Aber von dieser Beige wohl so viele Dutzend.«

Wirklich, dort lag ein bescheidenes und immer noch ungestörtes Häufchen in der Ecke, wie ein frommes, stilles Dorf gegenüber jener großen, rauschenden, gottlosen Stadt. »Wissen Sie, Herr Pfarrer,« fuhr der Naseweis fort, »die Leute wollen lieber auf Erden gut und lang leben, als drüben,« – er pfiff leise irgendwo hinaus, – »dort drüben unsterblich sein . . . Was wollen wir machen?« – – Und während der Kaplan die gewechselten Münzen zusammenlas, hieß es wohl drei- oder viermal von rasch Hereinspringenden: »Bitte, den Lorse!«

»Ist das menschenmöglich!« entfuhr es Johannes unwillkürlich.

»Es ist so!« beharrte der Junge, und seine Miene wurde mit jedem Worte geistreicher. Das war wohl kein gewöhnlicher Ladenbursche, das war der Sohn des Hauses. »Setzen wir den Fall,« fuhr er großartig fort, »Sie schreiben bei Ihrer unzweifelhaft großen Gelehrsamkeit ein Heft mit dem Titel: ›Sei enthaltsam!‹ und ich mit meiner kleinen Grütze schreibe ein anderes Heft mit dem Titel: ›Genieße!‹ . . . Ich wette, Herr Pfarrer, bis ein Exemplar Ihrer zentnerschweren Weisheit seinen Leser fand, sind hundert gedankenleichte, lose Vögel meines Geistes unters Volk geflogen. So ist es einmal!« – Er lachte und pfiff: »O du lieber Augustin!«

Johannes sprang mit dem Regensburger Kalender und der bischöflichen Broschüre zum Laden hinaus. Der Kerl hatte recht. Da sah er voraus, wie es von heut über drei Tagen mit seinem Opus zuginge. Vielleicht nicht so fieberhaft flügge, vielleicht etwas schwerfälliger. Aber dafür mit um so tieferen und gefährlicheren Furchen. Nein, nein, tausendmal nein, niemals durfte sein Werklein so feilgeboten werden, niemals! . . . Ich will ein zweites Werklein schreiben, eine Entgegnung, . . . ich will mich selber widerlegen. Das biet' ich dem Laus heut noch an. Gratis! Ich will keinen Rappen davon. Vorwärts, vorwärts! Das ist noch eine Rettung. Hurra!

Die Eisenbahn lief ihm viel zu langsam. In seinem Kopfe zergliederte er schon den Stoff des neuen Büchleins. Bucolica spiritualia! Das wäre ein famoser Titel.

Ich spaziere unter den alten Nußbäumen des Friedhofs. Da ist mir, ich höre die Toten unter der Erde reden: Kinder mit der Weisheit der Unschuld, Alte mit der Erfahrung ihrer langen, staubigen Lebensstraße und frische, aus Saft und Kraft des Mannestums Gerissene, und alle erzählen, wie sie jetzt vom Leben denken. Sie schütteln die Asche aus den Augen und, rückwärts blickend, fangen sie an, den Erdentag ernst und wahr zu zeichnen, nicht wie wir meinen, als ein kurzweiliges, lustiges Geschnörkel, sondern als eine gerade, solide Linie, sauber und fest in die unendliche Gerade der Ewigkeit gezogen, in sie mündend wie ein Tropfen ins Meer. Und dieser Tropfen, der vorher auch nur das Glück eines Tropfens genoß, schwimmt jetzt in der Seligkeit eines ganzen Meeres.

Bumbdibibum . . . bumm!

War das Donner? Ein Reisender zieht den Rock vor Hitze aus. Man öffnet die Fenster gegeneinander, um eine Nase voll Luft zu bekommen. Über den Feldern wird der Himmel eintönig grau und schwer. Wie kleine, goldene Nadelspitzen zucken fern, fern ein paar Blitze den Horizont entlang.

»Alle Tage Gewitter,« brummt jemand.

»Es hat nur gewetterleuchtet,« entgegnet man.

»Nein, es hat richtig geblitzt.«

»Und ich hörte es deutlich donnern,« fügte ein Bauer grimmig hinzu.

»Wir auch! Wir auch!« rief es durcheinander.

»Aber es kann sich verziehen?« bat ein zopfiges Dirnlein.

»Es sammelt sich langsam, dafür wird es um so schlimmer,« erwiderte der Bauer hart. »So ums Zunachten herum kegeln sie da oben wieder einmal forsch.«

Dem Kaplan ging fast der Atem aus. Er fühlte Herzklopfen. Die Hände hingen ihm schwer nieder, die Füße waren wie Bleiklötze. Der Kopf drückte wie ein Stein, alles tat ihm weh, alles war ihm lästig. Er hätte die Glieder von sich schütteln mögen wie ein müder Baum sein dürres Laub, und dann wollte er zusammensinken wie ein Kartenhaus. Dann wäre ihm wohl.

»Bumm!« grollte es wieder von weitem. Der letzte bleiche Sonnenflimmer erlosch. Es ward seltsam, kein Licht, kein Schatten. Die Eisenbahn rollte mit merkwürdig lautem Gepolter durch die tote, von Hitze und Dumpfheit starre Natur da draußen.

Diese Toten, dachte Johannes schon mühsamer weiter, müssen erzählen, wie das Sterben gewesen ist. Dann, wie die Portale des Jenseits aufgähnen, wie der gute Engel rechts, der böse links mit der zitternden Seele zum Allmächtigen schreitet, und wie es dort zugeht, wenn der Richter das große Lebensbuch aufschlägt und ruft: »Adam, wo bist du?«

»Hier, o Herr.«

»Warum versteckst du dich vor mir?«

»Weil ich nackt bin.«

Und nun wird diese Nacktheit erbarmungslos gerichtet. Was ist jetzt der ganze irdische Reformplunder wert? Kann er die kleinste Blöße decken?

»Hußweiler! . . . Lachweiler!« ruft der Schaffner herein.

Hier muß Johannes aussteigen. Er rennt unter dem bleifarbenen, brütenden Himmel von der Station nach dem Dorf, glühend von der Hitze dieses Nachmittags und noch mehr von der Hitze seines Innern.

Auf einem Schleichweg gelangte er unbemerkt in sein zu oberst im Dorf liegendes Pfrundhaus. Er wollte nur schnell das nasse Hemd wechseln und dann sogleich mit seinem schönen und mächtigen Vorschlag zu Laus Tann nach Peraut hinüber. Keine Minute ist zu verlieren. Der Kerl muß nachgeben. In drei Tagen und Nächten schafft Johannes ihm das neue Opus.

Da sah der Kaplan mitten in der Stube einen Handkoffer und auf dem Tisch einen ihm wohlbekannten, breiten, alten, schwarzen Hut mit vergilbten Teerosen. Therese war also schon da! Aber gottlob nicht im Hause. Nein, jedenfalls drüben im Pfarrhof. Jetzt flink aus dem Staub und hinüber nach Peraut.

Er schrieb auf einen Zettel: »Willkommen tausendmal, gute Jungfer Therese! Ich muß sogleich zum Redakteur Tann hinüber. Er hat mich in eine höllische Falle gebracht. Ich muß mich noch heut um jeden Preis freimachen. Aber er hat den Buchstaben auf seiner Seite und ist selber in großer Not. Beten Sie und bleiben Sie auf, bis ich komme. Es kann tiefe Nacht werden. J.« – Und durchnäßt wie er war, rannte er auf dem gleichen Halunkenweg ums Dorf herum unbemerkt gen Peraut.

Es dämmerte schon, und dunkle Nebel stiegen aus dem Flußtobel, als er mit fröstelndem Rücken, aber ohne Zögern die Abkürzungen hinuntersprang – – –

Aber als er drei Stunden später wieder da heraufklomm, war es sternenlose, dumpfe, tiefe Nacht, da außen und drinnen in seiner armen Seele. Der Redakteur hatte sich nicht erweichen lassen. Eine Gegenschrift? Die könne Johannes doch nicht schreiben! Gegen seine eigene Seele könne niemand schreiben. Und wer würde so was lesen? Es bleibe dabei, die Broschüre sei fertig eingedeckt, in Kisten verpackt, reisefroh. Zweitausend Franken lägen darin begraben. Fünftausend müssen zurückkehren, unbedingt! Ob Johannes diese fünftausend Franken zahlen könne? Sogleich? Dann allenfalls, ja! Zum Spaßen sei jetzt keine Zeit mehr.

Fünftausend Franken! Wenn Laus Tann eine Million gesagt hätte, wäre es für Johannes das gleiche gewesen.

Dann war der Kaplan aufgestanden, hatte die Faust geballt und, indem er sie krachend aufs Pult schlug, sagte er in unbemeistertem, heißem Zorn: »Sie sind ein Schuft!«

Der Redakteur lächelte nur. Aber als Johannes zum zweitenmal und noch grimmiger mit der Faust niederfuhr, hielt Laus Tann sie auf und bat demütig: »Wecken Sie mir doch Ihr Gottli nicht!« Dann zog und drängte er den Gast langsam zur Türe hinaus.

Jetzt klomm Johannes den Abhang auf der Lachweiler Seite wieder empor. Er wußte nicht, wie spät es war. Mechanisch und halb besinnungslos schleppte er sich vorwärts. Vom Prügelweg sah er nichts vor Finsternis und mußte oft an den Boden langen, ob es noch Kiesel habe, ob er also doch noch auf der rechten Fährte sei. Bald da, bald dort rutschte er mit einem Fuß über den Rand hinaus und fühlte sich dann jedesmal vor Schreck fast gelähmt und wagte lange keinen Schritt mehr zu tun. In der Tiefe grollte der Fluß, der so unheimliche, seelenbedrückende Fluß furchtbar schwer herauf. Der Wind blies durch das Tobel und von den Höhen, aus der dicken, bleiernen Luft scholl dann und wann ein fernes Brummen wie Donner. Aber das konnte auch vom Rollen eines schweren Wagens hoch oben in der Straße rühren. Freilich schossen jeden Augenblick Blitze herum. Es war nur wie Wetterleuchten, ein schwefelgelbes, dünnes, den ganzen Himmel durchkritzelndes Wetterleuchten, aber es war unheimlich genug. Vielleicht kam nun doch, was jener Bauer in der Eisenbahn prophezeit hatte.

Johannes hatte seit dem Vormittag nichts mehr gegessen, aber auch in dem wilden Hetzen dieses Tages weder Hunger, noch Durst gespürt. Allein der leere Magen, die schwülen Bahnfahrten, die trostlose Stadt, die Heimkehr, das Schwitzen und Erkalten, dieses Hinauf und Hinab und die unnennbare Seelenqual zweier Tage brachen nun auf einmal den letzten Rest seiner Kraft. Mitten im Aufstieg zwischen dornigen Stauden und groben Steinen schlotterten ihm plötzlich die Knie so stark und fror es ihn so eisig, daß er sich niederkauern und an den Büschen halten mußte. Nichts als Tosen und Sausen von oben, von unten und innen überflutete ihn. O Gott, ich sterbe, seufzte er und rieb die Stirne, die kalt und dick wie von schmelzendem Schnee tropfte, um ja nicht die Besinnung zu verlieren und von da in die gräuliche Finsternis hinunterzustürzen.

So blieb er ein Weilchen am Boden, halb in Fieberschauern und halb in Bewußtlosigkeit. Die Blitze wurden schärfer und so nahe, daß er ihr Zischen zu hören glaubte. Sie erschienen wie Schwerter, die eine unsichtbare Hand tief aus den Wolken herausschwang, immer tiefer gegen sein Haupt. Und jetzt donnerte es auch jedesmal auf den Blitz rasch und grimmig. Es ist wie ein Gericht. Wenige schwere Tropfen fallen mit großem Geräusch ins trockene Gebüsch. Jetzt wieder ein Blitz, breit und versengend nahe. Johannes will aufspringen. Ein furchtbarer Krach schlägt ihn sogleich nieder. Strahl und Schuß fahren ins Tobelwasser hinunter. Aber noch lange hallt es in den Felsen nach und verliert sich erst in unendlicher Ferne. – Das hat mir gegolten, o lieber Gott, erbarme dich meiner! betet Johannes. Über dem Tobel auf der Perauterseite klirrt es wie Hagel. Am Himmel säbelt es flinker und wilder drein. Große Heere scheinen nun Schwerter zu schwingen und die ganze himmlische Artillerie ihre Geschütze loszubrennen. Und all das rasselt und zückt auf ihn nieder, den Wurm da am Boden. – Nun haben wir dich, du Wicht. Wo bist du? Man sieht dich ja fast nicht, so ein Häufchen am Boden klebendes Elend bist du. Schon fast tot! – Und so einer will dem Himmel ins große, gelassene Ewigkeitswerk pfuschen! Rombodobombomomomom! poltert es wieder und zündet und schießt und spaltet fast die Erde. Aber wenn eine kleine Pause entsteht, so hört man aus dem Abgrund den Fluß so dumpf und gequält schreien wie des Johannes böses Gewissen.

»De profundis clamavi ad te Domine,« flehte Johannes, nicht mehr imstande, sich vor den herumgepeitschten Astlein und den klatschenden Regentropfen zu schirmen. »Domine . . . exaudi vocm meam!«Ps. 129. »Aus den Tiefen rufe ich zu Dir, o Herr, Herr, höre mein Flehen . . . Wenn Du auf unsere Ungerechtigkeit schauen wolltest, o Herr, wer würde vor Dir bestehen? Aber bei Dir ist Erbarmung . . .«

»Si iniquitates observaveris . . .«

»Herr Kaplan . . . Herr Kaplan Johannes!«

»Ach, ich höre Stimmen, als riefe man mir! Ich muß wohl hohe Fieber haben . . . es ist so deutlich . . . ich höre knallen mit einer Geißel . . . wie damals, wie damals! . . . Domine, quis sustinebit?«

»Herr Kaplan Johannes Keng, wo sind Sie? . . . Therese, Ihre Jungfer Therese ist da! Und oben in der Straße ist Doktor Allspach. Mut! . . . Geben Sie ein Zeichen . . . wo sind Sie?«

»Ach, diese verwirrenden, betörenden Stimmen! . . . Quia apud te propitiatio . . . denn bei dir ist Erbarm . . .«

Das schönste Wort der Welt konnte er nicht mehr aussprechen. Aber in diesem Augenblick ward es an ihm erfüllt. Er spürte noch etwas wie Laub knistern und Steine rollen und Schritte, er fühlte tapfer zugreifende Hände und hörte sagen: »Sie armer, armer Herr!« . . . Aber dann horchte er frisch auf: »Es ist alles in Ordnung . . . nur Mut! Ich komme von Peraut! Ihr Zettel hat mir ja alles deutlich gesagt. Da hab ich mein Geld zusammengenommen . . . bin Ihnen nachgesprungen, hinüber . . . hab ihm alles abgekauft . . . zwanzigtausend Büchlein . . . Morgen kommt das Papier alles, ein ganzer Wagen voll . . . Herr Doktor! Herr Doktor! Hier herunter! . . . hier herunter! Da ist der Kaplan!« . . .

Ist's ein Traum, ist's ein Wunder? Leise flüstert der Kaplan: »Gloria patri et et filio . . .«

»Et in saecula saeculorum, Amen! –« erwidert Therese mächtig . . . »Aber machen Sie mir doch keine Abkürzungen mehr, Herr Kaplan . . . gar keine Abkürzungen mehr!«

»Keine mehr!« gelobt Johannes leise.


 << zurück weiter >>