Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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18

Pfarrer Cyrill Zelblein kam nicht heim. Gerade in Pisa, wo der schiefste aller schiefen Türme steht, mußte der aufrechte deutsche Mann einen Schwindelanfall kriegen und vor San Michele wie ein Benebelter straucheln. Bei 38° Reaumur frösteln und zähneklappern, ist bedenklich. So ging's nicht weiter. Die zwei geistlichen Gespanen brachten Cyrill ins Spital. Das Fieber hatte den forschen Mann schon in Rom ein paarmal leis gezupft. Dann hatte er das Ohr voll vom scharfen Streichorchester der italienischen Grillen, dieser wütenden Spielleutchen. Aber nun aß er tapfer Pflaumen gegen die Hitze und öffnete abends gegen alle Warnungen des zimperlichen Kammermädchens erst recht die Fenster sperrangelweit, – ganz wie daheim im Dorf. »Ich müßte ersticken,« sagte er. »Ich muß die Glocken hören, die Rosse, die Fuhrleute, ich muß das bißchen Himmel sehen, sonst sterb' und verderb' ich.« –

Seine Kollegen warteten zwei Tage. Dann sagte der Arzt Paolo Cattani: »E il tifo. Sie nutzen amico niente! Gehen haim, gehen nur haim!« –

Nun lag der liebe, nordische Mann im schwülen Pisa am schläferigen Arno, in einem kahlen, großen, steinernen Zimmer, abgeschlossen von allen Gesunden und Kranken, in drangvollen, stürmischen Hitzen und hatte einen Tanz auf Tod und Leben mit der ersten Krankheit seiner siebenundfünfzig Jahre auszuschwingen. Ringsum grünte kein deutsches Wort! Aber Pfarrer Zelblein hätte jetzt auch nicht Latein, noch sein Lachweiler Deutsch verstanden. Es ging wie Wolken und Nächte und zerfetzte, sinnlose Bilder durch sein Gehirn. Dann und wann zuckte ein Licht auf – – leb' ich? – – wo bin ich? – – wie spät ist's? – – Aber gleich stürmt es wieder schwarz und rotfleckig durch die Sinne, tost wie dumpfe Wasser und lärmt grell wie die verflixten Grillen . . . und ist dann wieder ein stetes Zusammenstürzen von weiß Gott wieviel Schutt – – Und dann ward's still und tot wie hundert Meter unterm Boden: die Bewußtlosigkeit!

Fräulein Ottilie vom Pfarrhof zehrte sich auf vor Kummer über diese Depeschen. Mit roten Augen ging sie umher und kniete den halben Tag in der Kirche. Vor der schmerzhaften Mutter Gottes betete sie Litanei um Litanei, und vor dem Josephsaltar hielt sie eine neuntägige Andacht ab. Aber vor dem Hochaltar, hinter dessen Goldtürlein der Allheilige selber horcht, ließ sie ihr Flehen hervorsprudeln, wie es ihr ohne Buch und Noster, gleich einem frischen Bächlein aus der Seele floß. – Fast schien ihr frommes Drängen den Himmel zu erschüttern. Denn ein Weilchen ließen die Spitalberichte eine leichte Besserung vermuten. Doch an einem Samstag ward gemeldet, der Patient liege immer noch ohne klares Wissen und Sinnen in auf- und niedergehenden, wilden Fiebern da. Dieses dauernd gleiche Befinden habe als eine Verschlimmerung zu gelten.

Kaplan Johannes schrieb jeden Tag einen leidlichen italienischen Brief mit doppeltem Rückporto und tante, tante grazie, um der Gemeinde und der armen Ottilie ein ordentliches Bulletin zu verschaffen. Am Sonntag nach dem Bericht empfahl er den Kranken allen Gläubigen, besonders aber den Kindern in ihr lippenreines, helles Gebet: Euch hat er getauft, ihm verdankt ihr euer schönes Christkindleben. – Nun steht zusammen, schaut gen Himmel und schreit herzhaft hinauf, daß der heilige Christ unserem Pfarrer auch sein Leben erhalte – – weil ihr ihn noch braucht und weil ihr Heimweh nach einem so lieben Hirten habt!

Bei diesen Worten sah der Kaplan viele Frauen mit Nastüchlein im Gesicht wischen. Einige Mädchen schluchzten, die Männer sahen besorgt drein, die Buben schielten verlegen und schräg in den Boden. Da stieg ein leises Wohlgefallen an seinem Werk in Johannes' Seele auf. Nur Therese kniete steif und breit im Köchinnenstuhl. Sie verwirrte ihn mit ihrem ungerührten Wesen, und er ärgerte sich weidlich, daß seine ganze beredte Herzlichkeit da, an diesem kleinen, quadratischen Menschenpünktlein, nicht verfing. Und als die fünf Vaterunser für den Kranken nach der Predigt laut gebetet wurden, da klang ihr greller Sopran mit den scharfen Endsilben wie sprödes Glas ihm geradezu schmerzlich ins Ohr. Wo hat denn auch dieses Geschöpf sein notwendiges Herz? dachte er. Irgendwo im Kleiderkasten aufgehängt?

Beim Mittagtisch aß sie gemütlich ihren Teller voll weg, dann legte sie Gabel und Messer übereinander, kehrte dem Kaplan mit leisem Bst! das Obstmesserchen, das mit der Schneide gegen den Himmel sah, im Plättlein erdwärts. Darauf steckte sie den Finger in den enggeschnallten Gurt und sprach:

»Herr Kaplan, geht es dem Pfarrer so übel?«

»Leider Gottes!«

»Meinen Sie nicht, daß die Leute dort unten in – Pissa . . .«

»In Pisa!«

»In Pisa nicht viel von einem Typhuskranken verstehen? . . . Denn das ist mir doch seltsam, daß . . .«

»Pisa hat eine berühmte Universität, und vor allem wird die Heilkunde dort stark gepflegt.«

»Tut nichts zur Sache! . . . Einen deutschen Kranken, so eine bäuerliche Natur vom Bergland, wie der hochwürdige Pfarrer eine ist, verstehen diese Italiener sicher nicht recht zu behandeln. Das ist nicht das gleiche, einen starken, vollblütigen, schweren Mann aus unserem Land oder so einen bleichen, leichten Italiener mit seinen paar heißen Spritzen Blut. Kurz und gut, Hochwürden, wenn Sie nichts dagegen haben, so möchte ich nach Pisa gehen und unseren Pfarrer pflegen.«

Dem Kaplan schoß vor Verblüffung ein ziemlich großer Pflaumenstein den Hals hinab. Er würgte und hustete und sah ängstlich nach Theresen.

»Das macht nichts, Herr Kaplan, ich habe schon Pfirsichsteine verschluckt. Viel gefährlicher sind die Kirschensteine . . . Aber ich möchte nach Pisa! Ottilie sorgt indessen für Sie und hat dann Arbeit und minder Zeit zum Greinen.«

»Aber Pisa . . . Das ist weit! Und so allein. Verstehen Sie italienisch?«

Therese lachte übermütig. »Ich werde reden, bis sie mich verstehen! Haben Sie da nur keine Sorge!«

Nein, das besorgte er auch nicht. Aber ob man sie zum Kranken läßt?

»Das wäre! . . . Ich, vom gleichen Dorf! Sein Pfarrkind! Dazu zwanzig Jahre im Hauptspital unserer Stadt Krankenwärterin gewesen, auch bei Nervenfiebrigen! Ich zeige meine Spitalkarte!«

»Und die Reise hin und her. Das kostet sicher zwei blaue Banknoten.«

»Das zahlt mir der Pfarrer schon zurück. Und sonst, wenn auch, so zahl' ich's! Ich habe genug in der Sparkasse.«

Nein, sie brauchte nichts zu zahlen. Die ganze Gemeinde steuerte zusammen. Der Kirchenmaler, der jetzt am Gallusbild weiter malte, ging mit dem Taglohn herunter, die Pfarrköchin verzichtete auf einen Monat Salär, der Meßmer opferte die Sporteln bei den nächsten zehn Kindtaufen und Trauungen zum voraus, und so bot jedes in einer sinnreichen und nicht gar zu fühlbaren Manier ein Scherflein an die Reise. Jungfer Therese aber packte ihren Koffer ein, ehe noch Johannes Zeit gehabt hatte, aus seinem großen Staunen zu kommen. Es war ihm bei allem nicht recht wohl. Es juckte und stach und biß ihn wie mit hundert kleinen, aber sehr tiefen Mückenstichen, – – das Gewissen!

Sollte er nicht auch etwas Geld hergeben? Er war unvermöglich, und sein Gehalt reichte nicht halb an das seines Prinzipals. Er sparte überdies die wenigen entbehrlichen Fränklein wie Diamanten ins Sparbüchlein der Bank zusammen. Schon verzeigt es fünfundsiebzig Franken. Aber er muß ein paar tausend Franken zusammenbringen, weil er ein so kränklicher Mensch ist und nie weiß, wie bald er Invalid und damit pfrundlos und von der Gnade oder dem Almosen einer Armenkasse oder eines geistlichen Unterstützungsfonds abhängig wird. Heillose Abhängigkeit von Geld und Geldmenschen! Nein, er will auf sich selber stehen!

Und dann wollte er auch Bücher kaufen. O Bücher, Bücher, sein Leben in der Stube, seine Seelenfreude an stillen Nachmittagen.

Sonst band ihn nichts ans Geld. Als leeres, schönes Metall lockte es ihn nicht; wohl aber als großartigen Helfer und Retter im Leben, als Befreier vom Zwang, als Spender hoher Geistesgenüsse, kurz, als notwendigen Atemzug des ganzen unabhängigen, leiblichen Lebens schätzte er es hoch, liebte es, knauserte damit gegen sich und gegen die anderen.

Er besaß einen fast zitronengelben Zwanzigfränkler, den Lohn für sieben lange, mühsame, bei später Lampe geschriebene Artikel in die Kirchenzeitung. Viele Wochen hatte er daran Fränklein um Fränklein zusammengelegt, sie dann zu Zweifränklern und endlich in die Riesen von Fünffränkler umgemünzt. So trug er sie schwer und klirrend im Sack, bis ihm der Briefträger dafür ein Goldstück mit dem Römerkopf des ersten Napoleon gab. Das hielt er hoch. War es doch der erste Ertrag seiner Feder. In ein rotes Seidenpapier gewickelt, trug er es stets in der Weste bei sich und sah es jeden Abend ein Weilchen mit dem Gefühl eines Krösus an. Er wollte damit die ersten zwei Bände von Pastors Papstgeschichte kaufen, aber wartete von einem Tag zum andern, weil es ihm so schwer war, sich dieses blitzenden, mächtigen Stückleins so rasch zu berauben. War er am Ende doch daran, sich ins rohe Gold zu verlieben?

Da nun Therese sich ein so starkes Opfer auferlegte, und zwar mit einer Einfachheit und Unbekümmertheit, als gehörte es sich so, wollte Johannes doch aus Anstand auch eine Kleinigkeit wagen. Den Zwanziger also wieder wechseln und ihr wenigstens einen von den vier silbernen Riesen in die Hand drücken. Aber als er den Napoleon wieder aus dem Papier schälte und sich so recht in den eigensüchtigen, frechen und doch süßen Glanz dieses kleinen Ungeheuers vergaffte, brachte er es nicht übers Herz, die Münze zu wechseln. Morgen! Morgen! nahm er sich vor. Wenn er dann sah, wie die Spenden immer dichter in die Kaplanei regneten, beruhigte er sich und dachte, das gibt ja unzählig viel Reisegeld. Laß du nur deinen Batzen in Ruh! – Daß die meisten das Geld nicht ihm, sondern es durchaus eigenhändig der Jungfer auf den Tisch vorzählen wollten, als hätten sie schon leise seine knappe, magere Manier erschnüffelt und mißtrauten ihm, – das beleidigte ihn, und er verhärtete sich nun erst recht mit einem trotzigen und bitteren Mut in seinem geizigen Vorsatz.

Einen Zweifränkler hatte er noch in der gleichen Westentasche. Den wollte er Therese beim Abschied zustecken, so etwa, wie man ein Trinkgeld gibt, und wollte dazu sagen: 's ist nur für ein Gläschen Malaga, wenn Sie etwa wachen müssen. – –

Diesen Zweifränkler hielt Johannes zwischen Daumen und Zeigefinger in der Tasche fest, während er Theresen zum Dorf hinaus begleitete. Es gingen noch etliche Lachweiler ein kleines Respektstücklein mit, Kinder dabei, die Pfarrköchin mit hundert verschiedenen Aufträgen, Fragen, Grüßen, Bitten und Ermutigungen an ihren Pfarrer, – – der Kirchweibel, der Organist, der einen Kantus auf die Heimkehr des pastor bonus studierte, der Lehrer, die Ministranten und junge und alte Frauen. Nie war eine simple Kaplanenköchin in so feierlichem Geleite auf die Reise gegangen.

Der Kaplan wartete, bis eine Person um die andere zurückblieb. Nun ging auch die Ilsigkrämerin mit fünfundzwanzig Ades und Verneigungen retour. Nun also, er wollte das Silber herausklauben – – er schämte sich ein wenig – wär's vorüber. – – vorwärts, es muß einmal sein.

Da schrie ein Knabe weit hinten: »Jungfer Köchin, Jungfer Köchin, wartet doch!«

Flink schnaufend und schwitzend rannte der blonde Schlingel daher, schon von weitem einen Fünffränkler entgegenstreckend. – »Das da,« sagte er stoßweise, »ist von meiner Mutter der Hütlerlohn – – für den Monat – – grad hat sie ihn bekommen – – da! – – sie kann eben nicht stramm hüteln wie die Farner Kathri, weil sie viel krank ist, hat sie gesagt, soll ich entschuldigen, – es sind im ganzen zweiunddreißig Hüte gewesen – – wem muß ich's geben?« – – fragte er und legte das Silber nun doch in die Kaplanenhand.

»Nicht mir, nicht mir!« sagte Johannes schnell und reichte das schwere, teuer erarbeitete Stück zitternd Theresen hinüber.

»Ich lass' danken, tausendmal danken, sag's deiner Mutter, Karli,« bat die Jungfer, »und ich wolle fleißig für sie beten auf der langen Reise und sie an den wunderbaren Heiligtümern da unten im Italien nicht vergessen. – Lauf, sag's! und dir bring' ich einen Pack Trauben.«

Trauben, da oben, so nah bei Stein und Schnee. Trauben soll's geben! – – Der Junge hastete wie verrückt heim.

Therese blickte dem blonden Wirbel nach und, ihn und das Dorf und die ganze Menschheit hier oben in einen ihrer großen blauen Blicke fangend, sagte sie mit Stolz:

»Welch ein Volk ist das!«

Dem Kaplan ward, als falle ihm ein Knüppel mitten auf den Kopf. Zweiunddreißig Hüte. Die kranke Witwe Stadler! – – Wie viele hunderttausend Knöpfe, wie viele müde Seufzer stecken in diesem Fünffränkler da. Er war ganz warm und klebrig anzufühlen gewesen, von diesem blutigen Verdienen her! Aber er hatte schöner als das lauterste Gold geleuchtet.

»Alle haben hier ein gutes Herz, alle. Ich wüßte keinen einzigen harten, geizigen, der zurückgeblieben wäre!« fuhr Therese fort, die Augen überfunkelnd von Glanz und Dank.

Du weißt einen, schmälte und marterte es in Johannes. Wer hat jetzt Herz und wer statt dessen einen Stein da drin? O Johannes! – – Es flimmerte ihm vor den Augen, sie netzen, füllen sich, – er langt in die Weste, – es rinnt ihm schon die mageren Backen herunter. – –

»Da, Therese, nehmt auch meine Kleinigkeit! – –«

»Das ist zuviel!« wehrte die Jungfer voll ehrlichen Staunens über den funkelnden Napoleon.

»Zuwenig, Therese, viel zuwenig! Hätt' ich nur mehr!« schreit der Kaplan.

»Aber das Silber müssen Sie behalten.«

»Das Gold für den Pfarrer, das Silber für Euch!«

»Herr Kaplan . . .«

»Ich muß zurück . . . ich weiß nicht, wie mir wird . . . Reisen Sie gut! . . . und bringen Sie uns den Pfarrer hübsch heim! . . . und sich selber! Sie brave, Sie . . .«

Er sprang davon.

Er ist ein lieber Mensch, aber ein extravaganter! Wenn er nur nicht diese Grillen hätte! Dieses Sonderbare! Das kommt vom Studieren. Unsere armen Herren müssen zuviel studieren. Aber die Hand hätte er mir zum Abschied doch geben können. Nach dem Italien hinablaufen, ist doch kein Katzensprung.

So dachte sie und beschloß: beim heiligen Borromäus zu Mailand für den Kaplan von einem frommen, hageren, demütigen Kapuziner eine heilige Messe lesen zu lassen, damit das Überspannte und Spektaklige von ihm weiche. Dann stehe er so sauber und brav da, daß man ihn gleich auf eine Säule stellen könnte.

Dann stieg sie beherzt in den Schnellzug, saß steif wie ein Quadrat in ihr Polster und fuhr so in einem Kauderwelsch von Hochdeutsch und Französisch und Engländerisch mit all ihrer fünfzigjährigen Energie durch den Gotthard und die lombardische Ebene hinunter. Und sie staunte gar nicht, als der Schaffner nach dreizehnstündigem Rollen endlich feierlich und wunderbar schön rief: Pisa! – – Pisa! – – und als alles zu den Fenstern hinaus nach dem berühmten, weißen Marmorturm guckte, wie er schräg in den Himmel hing. Sie raffte ihren breiten, rauschenden Rock zusammen, als sie durch das Bahnhofgitter und das Spalier von Omnibussen lief, und strebte dann, mit scharfen, schnellen Schritten, die Spitze ihres Sonnenschirms fest ins klassische Pflaster schlagend, dem Ospedale zu, indem sie aller jahrhundertalten Schiefheit allhier zum Hohn sich kerzengerade wie eine kurze Tanne vom Lachweiler Forst hielt. Und es ist großartig: während sonst die allermeisten Fremden von der schönen, geraden Straße Vittorio Emmanuele verführt werden und über die Mittelbrücke gehen, wonach sie gleich in ein Gemengsel von kleinen, tiefen, schmutzigen Straßen weitab vom Dom geraten, hatte sich Therese den genauen Plan in den »Geistlichen Jungfernspiegel«, ihr stetes Begleitbüchlein, geschrieben: also einmal durch die Via Fibonacci zur Solferinerbrücke, dann durch die Solferinerstraße direkt an die Klinik. Es gelang, und sie hatte unterwegs Zeit, ihren italienischen Wörterschatz aufzufrischen, also prete – der Priester; ospedale – das Spital: tifo – das Nervenfieber; sono: ich bin; stata gewesen; trenta anni: dreißig Jahre; – nel servizio: im Dienste; degli amalati: der Kranken; ecco: sehen Sie; – il testimonio: das Zeugnis; – del medico: des Doktors! –

Das ist eine andächtige Stadt, dachte Therese. So viele Heilige an den Hauswänden! Sie hatte vollauf zu tun, sich jedesmal zu bekreuzen und nach ihrer frommjüngferlichen Mode zu empfehlen: Heiliger Franziskus, bitte für mich! – Sie kannte vorweg einen Himmlischen um den anderen und rief sie beim Namen. Beim ersten Blick sah sie: das war die heilige Agnes mit dem Lämmlein; da Sankt Rochus mit dem Hund; da der riesige Christoffel mit dem allerheiligsten Weltkugelknäblein; da der Samichlaus; ja, ja – hier mit den Fischen, ei ja, der darf nicht fehlen: Sankt Anton, bitt' für uns! – – da mit dem Drachen: Sankt Jürg, bitt' für uns. – Was verschlug es ihr, daß darunter Theseus stand. – – Nun einer mit der Flöte und dem Hirtenkittel: Sankt Wendel, bitt' für uns! – Die Italiener hießen ihn, scheint's, Orpheus. Aber da kam ein schöner, bartloser Mann mit langem Rock und einer Laute! David ist's nicht! nein. Was gibt's denn für heilige Lautenschläger? Ein gewöhnlicher Engel kann's doch auch nicht sein. Apollo steht daneben. Das »heilige« lassen die Faulenzer immer aus. Wie mag das deutsch heißen? Ach was: Heiliger so und so, bitt' für uns.

Sie läutete am Portal, drängte sich gleich in den vorsichtig geöffneten Türspalt, sprudelte ihr Sätzlein daher, streckte das Zeugnis vor, rief: il prete svizzero! il prete svizzero! . . . tifo . . . pago tutto . . . und schwenkte wieder das Zeugnis: testimonio mio! . . . und blitzte mit Brillen und Plomben und klopfte mit dem Sonnenschirm auf den Marmorsöller und schüttelte wuchtig die Geldtasche. Und mit dem allem und mit einer Unmenge über Gänge und Stiegen hingeschleuderten Spital- und Fachwörtern, die in allen Sprachen ziemlich gleich klingen, wie Nervus constrictus! Neuralgia! Cholera! und ähnlichem vermochte sie es, vom Portier zum Sekretär, vom Sekretär zum Verwalter, vom Verwalter zum Direktor zu gelangen. Der Direktor sprach ungefähr soviel deutsch, als Therese italienisch. So wurde wenigstens von hüben und drüben ein Brückenbogen geschlagen. Rechnet man dazu die süße, glatte Höflichkeit der Pisaner gegen alle, auch die häßlichsten Damen der Welt, die quadratische Standhaftigkeit Theresens, das Ausschütteln der ungewechselten, kleinen und großen, weißen und gelben und papierenen Lachweiler Gelder über den Tisch – – und man begreift, daß Suora Teresa Leglio schon nach einer halben Stunde im schimmernd weißen Wärterinnenschurz mit strammen, gestärkten Ärmeln und einem mächtigen Brustlatz, sowie mit einer niedlichen, weißen Haube auf dem Kopf ins Absonderungshaus geführt und zum armen, besinnungslosen Schweizerpfarrer scharf eingeriegelt wurde.


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