Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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10

Zwiespältigen Mutes ließ sich der Kaplan in die Küche drängen, wo sein Platz oben am langen Familientisch mit einem groben, aber schneeweißen Tüchlein überdeckt war. Darauf stand ein geblümtes Kelchglas und eine Literflasche tiefgelben Mostes. In einem Körbchen duftete das bräunliche, immer so feuchtfrische Bauernbrot in langen Schnitten. Daneben lag auf zwei Holztellern Käse und Schinken.

»Euch zu lieb und zu willen, – aber nur einen Augenblick, 's ist nicht recht,« sagte Johannes und setzte sich auf die niedere Küchenstabelle.

Welch frische Luft wehte da vom nahen Wäldchen herein, wie blinkte das Geschirr, wie lachte die Abendsonne über den Schieferboden, und wie gesund und appetitlich nahm sich in dieser Küche das Leben aus!

Schon beim ersten Schluck fühlte Johannes es wie Segen durch seinen heißen, ermatteten Leib rinnen. Nun erst merkte er, wie so ganz ausgetrocknet und ausgehungert er gewesen. Das war aber auch ein Saft! Wie das toste im Becher und kühlte und Leib und Seele erfrischte! Die Verdüsterung wich von ihm wie Nebel von einem windumfegten Berg, und er sah wieder leicht und hell ringsum. Tapfer griff er in die Brotschnitten, die so wundervoll nach dem braunen Acker und dem schwangern Halm rochen. Und erst dieser rotstriemige Schinken! So ein Fleisch verstehen eben doch nur die Bauern richtig zu räuchern. Dergleichen ist nirgends feil.

Der Kaplan will von allem schnell einen Schnitz probieren und dann gleich wieder zum Kranken hinein. Aber die Bäuerin Mathilde füllte ihm das Glas unversehens wieder und legte ihm vom herbsäuerlichen Ziegenkäse einen ganzen Felsen auf den Teller. Und sie schämt sich, je wieder dem Hochwürdigen unter die Augen zu treten, wenn er ihr nicht die Ehre antut und alles aufs letzte Krümlein aufißt. Dann stößt sie ihm gar noch ihr fünfjähriges Bübchen Christian zwischen die spitzen Kniee. »So, Christeli, schau, das ist jetzt eben der Kaplan, zu dem du einmal in den Unterricht gehen mußt!«

Der Kleine mit einem struben, hohen, honiggelben Haarschopf, fast wie ein Wiedehopf, starrt den schwarzen Mann fröhlich an und rumpelt dann heraus: »Gib mir denn ein Helgeli

»Wart, Bettelbub!« droht die Mutter.

»Ich habe keine Bildchen bei mir,« sagte der Kaplan und setzte den Jungen mit seinen himmelblauen Lichtern im Gesicht aufs Knie. »Aber erzählen will ich dir von unsern Heiligen.«

»Ich will Bildchen,« grollte der Bursche, »bist du denn kein Pfarrer?«

»Da sieht man,« bestärkte sich der Kaplan in seiner Meinung, niemals wie die Kapuziner und die alten Parochi den Kindern billige und grell gemalte Heiligenbildchen zu verteilen. Was haben sie davon? Ein Weilchen Eitelkeit und Eigennutz. Hernach aber lassen sie die frommen Papierchen elend herumliegen oder vergessen sie in einem alten Bilderbuch. Nein, das alles ist nur Kram und Geschäft. Lebendige Heilige, ich meine, warm und begreiflich erzählte Heilige müssen sie von mir nehmen.

»Nicht mal eins!« schimpfte der kleine Kerl, »so, so, und der Kapuziner gibt mir allemal grad zwei!« – Seine blauen Fensterchen wurden düster, als hätte man die Vorhänge gezogen.

»Du kannst ja noch nicht lesen,« verteidigte sich Johannes.

»Aber ich weiß doch alles,« widersprach der Bub und rutschte eifrig vom Knie. Aus der Kommode holte er ein zerrissenes Bilderbuch. »Da schau,« machte er streng, »das ist der heilige Alois!« – Er hatte ihn auf zwei japanische Soldaten geklebt. – »Da hat er 'ne schneeweiße Blume. Er war halt immer so sauber, gelt, Mutter! . . . Und das ist der heilige Lorenz!« – Der Levit war aufs Rütli, genau in die drei eidschwörenden Urschweizer gekleistert. »Den hat man auf dem Rost gemartert. Ist glutrot worden, wie das Scheit dort« – er zeigte in das feurige Herdloch der Küche – »das tut weh. Aber er hat noch gelacht und Spaß gemacht. Gelt nur, Mutter! . . . Und das ist ein heilig Meidli, weiß aber nicht mehr, wie' s heißt, ist halt nur ein Meidli! . . . aber der, schau, mit dem krummen goldigen Stecken und dem Spitzhut, das ist ein Bischof, hat Apfel und Fünffränkler auf seinem Buch, heißt Klaus, bringt im Winter, wenn's schneit, Nüss' und Wecken, heioo . . . wenn's ganz Nacht ist. Aber ich hab' ihn mal g'hört, wo er meinte, ich schlafe.« – Dieser große Mann der Kirche stand mitten auf einer amerikanischen Eisenbahnbrücke.

Das schüttete der Junge flink und sicher her und blätterte mit seiner lustigen Kinderhand sich immer tiefer in die goldene Legende hinein.

»Du bist ein kolossaler Gelehrter!« scherzte Johannes. Aber er wunderte sich doch über einen so reichen und drollig frommen Schwatz aus fünfjährigem Munde. Da waren die Bildchen doch nicht unnütz gewesen. Na, das Kerlchen ist eine große Ausnahme.

»Nu, nu!« machte der kleine Wiedehopf. »Und das Heiligste von allem hast du erst nicht gesehen. Da liegt's, im Streu neben dem Kälbli, 's Christkindli! . . . Kennst du's? Ich auch, ja . . . und da sprengt der Landjäger einen Turm in die Luft, schau, mit Pulver . . . das raucht, heioo! . . . aber äh . . . das gehört ja nicht dazu . . . weißt, das ist eben ein Bilderbuch! Aber, jetzt gib du mir auch ein Helgeli!« begehrte der Grünschnabel und funkelte mit seinen zwei kleinen, blauen Himmeln den Kaplan gewaltig an. »Gib, ich will!«

»Hätt' ich nur eines!« sagte Johannes.

»Du bist mir ein schöner Pfarrer!«

Der Kaplan hätte in diesem Augenblick viel gegeben, wenn er gegen alle seine Grundsätze nun doch ein paar Heiligenbildchen mit sich getragen hätte. Wie hübsch wäre es, dieses gescheite Höslein da nach Herzenslust auswählen zu lassen. Für solche kluge Ausnahmekinder mochte das Bildchenschenken doch recht ratsam sein.

»Ich bring' dir mal eins!« versprach er.

»Jetzt, jetzt!«

»Christeli!« drohte die Mutter. Aber sie blüht vor Stolz, daß ihr Knirps da einen hochwürdigen Herrn in die Enge trieb.

»Da . . . weg! Du darfst nicht mehr trinken . . .« Der Junge zog dem Kaplan fürwahr das Glas fort; »zuerst will ich das Bild!«

»Er ist ein schrecklicher Fratz!« seufzte die Mutter mit einem ihrer vielen, leichten und süßen Gewohnheitsseufzer. »Nehmen Sie es ihm nicht übel!«

Der Kaplan konnte nicht anders, er mußte sein Brevier öffnen. Da steckten wohl einige Heiligenbildchen drin, köstliche, feine, in Stahl gestochene, Andenken an seine besten Studienfreunde. Auch ein Helglein mit einem jungen Priester, der am Altar die Hostie in die Höhe hob. Das war sein Primizbild.

Aus vielen Ah! und Oh! heraus fragte sogleich der Knabe: »Bist du das?«

»Ja,« versetzte der Kaplan lustig.

»Dann will ich's nicht! Ich will einen Heiligen! Den da! Den da! Mit dem großen Vogel und dem Berg! Gib!«

»Sankt Johannes Evangelist!« Es war die letzte Erinnerung an seine geliebte Mutter. Sie schickte es ihm kurz vor ihrem Tod auf seinen Namenstag ins Seminar. Nein, das Bild konnte er nicht geben.

»So gib doch! Das gefällt mir! Der hat ein schönes Gesicht, sieh, Mutter! Soviel Licht um und um! Den hab' ich gern. Gib mir, bitte, bitte!« Das Bürschchen tätschelte flehend seine lieben, ungewaschenen Händchen zusammen.

»Ach, nimm's!« entschied der Kaplan. »Was kann meine Mutter im Himmel Besseres wollen, als daß ich Kinder glücklich mache, wie sie's getan hat? . . . Nimm nur!«

»Jetzt darfst wieder trinken,« erlaubte Christel und schob das neue Bild mitten in die Belagerung von Metz.

Im Flur draußen sagte eben jemand im tiefsten Baß: »'s ist dumm! Aber morgen muß ich an eine Holzmessung für drei Tage. Wollt Ihr den Sarg, so . . .«

Eine andere Stimme erwiderte, wehrte, sträubte sich. Mit angehaltenem Atem horchten Johannes und das Eggerweib.

»Ich mess' nur so mit den Augen, ohne daß er's merkt. Ungefähr hab' ich das Maß schon. Mein Vater und Remigi sind an der Rekrutenprüfung nebeneinander gestanden. Viel Unterschied machen die Jahre nicht. Ich geb' zwei Zoll unten und oben zu. Viele strecken sich heillos im Verscheiden . . . aber . . .«

»In Gottes Namen, kommt!« hieß es rasch.

Johannes befiel ein neues Todesgrauen. Dazu eine schwere Scham. Längst sollte er wieder am Sterbebett sein. Wie hatte er sich so vergessen können! Der halbe Liter war ausgetrunken, der Schinken dreimal angeschnitten, ein Häufchen Käsrinden lag auf dem Teller, nein, so eine Schwachheit! Was ist doch der Mensch!

Er sprang hitzig auf, dankte verwirrt und sagte dem Schreiner im Gang schier furchtsam: »Ich komm' gerade mit Euch!« Schon unter der Stubentüre hörte er ein Geraspel dünner, pfeifender Atemzüge. Der Alte war nun ganz bleich. Den Mund sperrte er furchtbar auf, aber die Augen waren schwer verriegelt und von unbewußten, dicken Tränen schienen die Wimpern klebrig und verleimt. Die gespreizten, wächsernen Nasenlöcher schnappten nur noch ein kleines, karges Lüftchen ein. Aber es ward immer dünner, langsamer, geiziger. Der Sterbende schien nichts mehr zu hören und zu merken.

Johannes öffnete zitternd sein Buch, um die Sterbegebete zu suchen, und legte die violette Stola um.

»Macht schnell!« drängte der Bauer den Schreiner.

»Grüß' Gott, Vetter!« sagte dieser halblaut und nahm nun doch unauffällig eine Schnur heraus. Er beugte sich über den Alten, um zu wissen, ob er noch bei Sinnen sei. Aber dann zagte er und spannte bloß die Arme vom Haupt zu den Knien Remigis und von da zu der Bettlade.

»Meßt nur!« hauchte der Sterbende sehr deutlich.

Alle standen da wie verdonnert. Ah, der Verscheidende merkte noch alles!

»Nur . . . nicht . . . zu . . . kurz!«

Der Schreiner tat so, mit gesenktem Kopf, wickelte dann den Faden wieder auf und ging wie ein entlarvter Verbrecher hinaus.

Man holte jetzt schnell die Frau und das Büblein in der Küche und die zwei großen Buben vom Acker und betete mit dem Priester für den im letzten Kampf ringenden Mann.

Nach einer halben Stunde furchtbaren Mühens und Wütens im wehrhaften alten Leib Remigis ging ein leises Knacken durch das Zimmer, das schneeweiße Gesicht des Greises glänzte von tausend feinen Tröpflein Schweiß und knickte vom Hals her scharf ein. Die Beine reckten sich, die Fußspitzen sprangen hochauf . . . chchchchch! röchelte es aus dem fahlen Munde und verstummte dann plötzlich hart und kalt.

Der Kaplan wandte sich vom Kopf des Bettes totenbleich und voll Schweiß und selber auch wie vernichtet von dieser Grausamkeit des Todes gegen die Umstehenden und sagte bebend: »Liebe Leute, der Mann hat ausgelitten . . . Herr, gib ihm die ewige Ruhe!«

»Und das ewige Licht leuchte ihm!« antworteten dumpfe, gebrochene Stimmen.

»Herr, laß ihn ruhen.«

»Im Frieden! Amen.«

Der Christli sah voll Staunen den ausgereckten, steifen Mann an, der so wächsern dalag, den Mund offen hielt und doch stumm blieb; die Augen zuletzt mächtig aufgerissen hatte und doch nirgendwohin sah. Seltsam!

»Herr Kaplan, wollen Sie dem Toten die Augen zutun?« bat die Schwiegertochter, »der Pfarrer macht das auch immer.«

»Das kann ich nicht,« sagte Johannes ergrausend und trat einen Schritt vom Bett. »Ich habe meine eigene Mutter nach dem Sterben nicht mehr berührt. Ich kann die Toten nicht angreifen.«

Befremden malte sich auf allen Gesichtern. War das ein eigentümlicher Kaplan! Er hatte schon so ein besonderes Beten, so etwas Fremdes im Ton, etwas Gelehrtes, wie's in den Büchern redet. Der Pfarrer spaßte und lachte noch in die trübste Stunde hinein. Mit einem Witz hat er noch Sterbende lustig gemacht. Mit ihm kam immer Sonne ins Zimmer. Aber dieser junge, hagere Kaplan, mit der großen Nase und dem schweren Geschnaufe, machte ein saures Gesicht, wußte kein einziges Späßchen zu verzapfen, und um ihn herum mußte alles leise tun und großen Abstand halten. Wie in einer Kirche! Mit dem Pfarrer steht man doch dicht um den Sterbenden herum, wie eine Mauer, wärmt ihn gegen den Tod, schirmt ihn gegen die Angst, umbetet, umschreit und umspritzt ihn gegen den Teufel, allen voran, laut und mächtig, der Pfarrer selbst. Doch dieser Johannes Keng, mit seinem vornehmen Tun, seinen langen Manschetten und seiner feinen Stimme, nein, den wollten sie lieber nicht beim Sterben haben. Kann er einem ja nicht einmal die Augen zudrücken!

Frau Nannette Peiler, die vom Kaplan gescholtene und hinausgejagte, sah jetzt ihr Stündlein gekommen. Sie trat mit rauschendem Rock und schweren Schuhen aus den Betern heraus ans Bett, zog die steifen Lider dem Toten über die gebrochenen, eisgrauen, leeren Blicke hinunter und sagte, als wäre es vorhin nicht richtig vom Geistlichen vorgebetet worden: »Herrr, gib ihm die ewige Ruhe!«

Und wieder ward, aber diesmal viel kräftiger erwidert: »Und das ewige Licht leuchte ihm!«

»Herrr, laß Remigi Egger ruhen im Frieden!«

»Amen.«

Diese Frau war Kaplan geworden. Sie wand dem Toten den Rosenkranz um die Finger, zündete ein Totenlicht an, bespritzte sein starres Antlitz gewaltig mit Weihwasser und reichte das Zweiglein mit dem Becken den nachfolgenden Leuten, damit sie auch so täten, und sah triumphierend auf den demütig, unwissend und hilflos am Fußende stehenden Kaplan herab, den sie seines Amtes entsetzt hatte.


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