Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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30

Johannes ist zäher, als man glaubt. Er rang sich fast allein bis zur Kutsche hinauf und, als er ins Polster fiel, schloß er die Augen immer noch nicht und sank nicht in Schlaf oder in dunkle Ohnmacht, sondern suchte dankbar das Gesicht Theresens in der Finsternis zu erkennen. Aber er sah nur etwas Bolzgerades, Steifes, wie einen Felsen neben sich, und Doktor Allspach zeigte nur seinen breiten, soliden Rücken vom Bocksitz her. Aber wenn es vom Himmel züngelte, dann merkte er im grellen, hurtigen Blitzlicht, daß Therese noch das gleiche stramme Gesicht hochhielt, jetzt in den funkensprühenden und krachenden Himmel, wie sonst in die kleinern Unebenheiten unseres Erdkügelchens, diese außerordentliche unvergleichliche, diesseits und jenseits der Alpen allmächtige Jungfer Therese.

Sie wähnte ihn schlafend und erzählte in ihrer ungeheuern Wachseligkeit dem Doktor mit Wind und Regen übertönender Gewalt, wie der Redakteur ihr nach langem, stürmischem Läuten endlich die Haustür aufmachte, wie er sich wehrte und spreizte, wie sie mit dem Bischof und sogar mit dem Papst zu Rom drohte, vom einen zum andern würde sie ihn verklagen gehen, und wie sie dann die Bankscheine hinlegte, fünfmal einen großen, schönen Tausender, fast all ihr Spargeld. Das war ihr letzter Trumpf. Und als er diese Papiere sah, da zitterte der Redakteur wie ein Baum, der durch und durch getroffen ist und im Nu fallen muß. Ja, über diesen elenden fünf Papierfetzen ist der große Schwätzer gefallen. Er steckte sie hurtig ein und sprach: »Gut, schickt morgen einen Wagen und holt das Zeug! Meinetwegen schon heut nacht!«

Aber sie wollte das schriftlich von ihm haben. Und dreimal, wie er sich auch drehte und wand, mußte er den Zettel neu verfassen, bis es hell und ehrlich drin stand, daß er alle fünftausend Franken zurückgeben müsse, wenn er je eine Silbe vom Manuskript so oder so verlauten lasse. Auch das Manuskript des Kaplans mußte er ihr sogleich aushändigen. Sie hielt ihn fest in der Schraube, bis alles im Reinen war. O mit Schlangen muß man tun wie eine Schlange!

Dann schellte sie den Doktor aus dem Bett. Denn sie war dem Kaplan auf der ganzen Straße nirgends begegnet. Er mußte also die Abkürzung gemacht haben, – bei solcher Nacht! Und kam nun im Tobel nicht weiter und war in Gefahr. Der Doktor mußte darum mit dem Wägelchen die Straße befahren, sie aber ging spähend und schreiend die Wildnis hinunter und jenseits hinauf. Und da haben wir ihn! – Aber wahrhaft, nun nie keine Abkürzung mehr!

»Nein, niemals!« flüsterte Johannes.

Er fühlte sich unsäglich wohl in dieser lieben Kutsche da. Aber darnach im warmen Bett seines Zimmers spürte er auf einmal die schweren Fäuste der letzten Tage am ganzen Leibe. Jetzt erst wirbelten Hitze und Frost durch sein Fleisch und Gebein. Allspach sagte mit kluger Offenheit nach der Untersuchung: »Kodex, du hast eine schwere Bronchitis und eine noch schwerere Brustfellentzündung. Und es könnte an die Lunge gehen, – wenn wir nicht wacker aufpassen. Aber wir passen auf, nicht wahr!«

»Ja, Rex, ich will wacker aufpassen,« lispelte Johannes aus den Fiebern.

Darauf wurde er von einem heißen Wickel in den andern geschlagen, die ganze Nacht und am nächsten Vormittag auch noch. Dann gab es eine kleine Pause. Die Hitze war gesunken, das Drücken und Stechen in den Seiten hatte nachgelassen, aber Johannes fühlte sich zu Tode matt. Um die Vesperzeit schlummerte er zum erstenmal leicht ein.

Doch da weckt ihn ein Lärm. Er hört ein großes, lautes Volk vom Dorf herauf. Die Blechmusik spielt mit zündend hellen Trompeten einen Parademarsch. Und das Summen und Rauschen wächst. Und horch, da fällt der Holzklöppel auf die Turmdiele. Ah, die große Glocke fängt an zu brummen. Und alle andern Glocken spielen ringsum, wie um eine mächtige Altsängerin kleine und große Kinder trillern. Das ist der Einzug des Pfarrers. Um diese Zeit kann er von der Station dasein. Willkommen, willkommen, lieber Pfarrer. Wie froh bin ich, daß der Vater wieder da ist. Der Bub hats allein nicht machen können. Er ist ungebärdig geworden, hat sich übernommen und ist gestürzt. Regier' jetzt du wieder! O ich will gern folgen, hundertmal lieber, als noch einmal wie ein Tor regieren . . . Horch, welch ein Getöse! Jetzt ist der Pfarrer auf dem Platz. Jawohl, und ihm zur Seite Therese, die treue . . . und der Verweser, der liebe, . . . und alles Volk. Und ich allein bin nicht dabei. Das ist die Strafe . . . O wie schön wäre es gewesen, den greisen Mann zu holen und ihn durchs jubelnde Dorf, vor allem durch all die lachenden Kinder hinauf zur Kirche zu führen und ihm die Malereien zu zeigen, die nun glücklich beendigt sind, und ihm zu sagen: Nun geben Sie uns den Segen! Wie einst bei seinem Einzug der Pfarrer zu ihm sagte. – O wie hart ist es, hier im Bett zu liegen!

Jetzt wird es still auf dem Platz, sie sind in der Kirche. Unklar und verworren dringt die Orgelmusik bis ins Kaplanenzimmer. Jetzt sieht der Pfarrer wieder die ganze Herde beisammen. Wie hat er darauf die Stunden gezählt! Jetzt stimmt er an: Großer Gott, wir loben dich! . . . Horch, horch! Wie das braust, wie das stürmt! Keine Orgel hört man mehr. Genau wie damals, als ich einzog!

Dem Kaplan ist, er fange erst heute an, Seelsorger zu werden. Heute sei sein erster Tag. Das Vergangene sei ein mißratener Versuch gewesen. Aber jetzt weiß er, wie man es macht. Auf dem geraden Wege! Auf dem Wege der tüchtigen Vorgänger. Nicht auf Abkürzungen, nie mehr auf diesen heillosen Abkürzungen!

Nun schweigen auch Gesang und Orgel drüben in der Kirche. Eine Zymbel klingelt. Das ist der Segen, der erste Segen des Pfarrers in seiner Heimat.

Johannes stützt sich in den Kissen auf und macht ein großes Kreuz über sich. Ach, sieh da, er ist ja nicht allein. Am Gesimse steht Ottilie und lauscht auf jeden fernen Ton. Sie weint leise. So ist das zarte Ding nun einmal weinen und immer weinen, vor Angst, vor Freude, vor Hoffnung, vor Leid, beim Wiedersehen und beim Abschied, bei einem harten Wort und bei einem lieblichen Gebet, bei einer starken Predigt und bei einem süßen Musizieren, weinen, das ist ihr Reden, ihr Ja und Nein.

Gern wäre sie jetzt auch dort drüben, beim ersten Pfarrkindergruß mitgrüßend dabei! Aber nein, vorerst gehört Therese ans Fest. Nein, sie ließ es sich nicht nehmen, hier beim Kaplan zu wachen, auf daß Jungfer Therese zur Station mitgehen und den glorreichen Einzug mitmachen kann. Ein wenig gelten ja alle Kränze und alle Trompeten auch ihr, – das haben sie gestern im Dorf allum gesagt.

»Was ist das?« hauchte Johannes aus der Decke. – Man hörte wieder ein unzähliges Holzschuhgetrappel und Summen und Reden und von der jüngeren Welt frohe Pfiffe und laute, lachende Wörtlein. Und es kommt näher, schwillt gegen die alte Kaplanei an wie eine Flut. »Ottilie, was ist nun das?«

Die Pfarrköchin hat sich in stiller Freude hinter das Vorhänglein geflüchtet, aber stibitzt einen Ausguck um den andern durch die lose Stickerei. – »Der Pfarrer, der Pfarrer,« jubelt sie, »da kommt er . . . O wie mager ist er! . . . Aber schon hat er wieder die roten Backen und das prächtige volle Haar hat er auch noch! Mir ist, es sei silberiger geworden! . . . Der schöne, schöne Herr! . . . Herr Kaplan, der Pfarrer kommt in allem Volk.« – Und sie weiß nicht, soll sie zur Stiege entgegenspringen oder schon hier niederknien und warten oder am Kaplaneibett stehen, was soll sie? Was soll sie auch machen? –

Indem vernimmt man hier oben sehr deutlich ein lautes Pst! pst! aus allem Gewoge wie einen Pfeil schwirren. Und dieses Pst! pflanzt sich fort wie ein Wind über hundert spitze Gräser. Alles macht Sst, sst! – Und der Kaplan hört die warme, tiefe Stimme des Pfarrers sagen: »Seid ruhig, unser hochwürdiger Herr Kaplan ist schwer erkrankt!«

Da ist es plötzlich totenstill. – Welch gute Leute! Schon wird es naß in Johannes' grauen Augen.

Jetzt krachen ein paar Schritte die Stiegen herauf, zwei Türen gehen auf und zu. Der Pfarrer schreitet herein, hinter ihm Therese. Der Verweser leise zuletzt.

»Grüß' Gott, mein lieber, lieber Kaplan!« spricht der weißhaarige Mann und drückt dem Kranken die Hände zwei und dreimal und blickt ihn lange froh und weh an.

Johannes will aufsitzen, aber es geht nicht. Er will reden, das ist ganz unmöglich. Er reicht nur die Hand und läßt das reiche, linde Wasser aus den Augen rinnen.

»Ich habe Ihnen eine tüchtige Medizin aus Rom mitgebracht . . . nicht bloß den Segen vom Heiligen Vater . . . noch etwas anderes . . . da!« Der Pfarrer wickelte ein Pergamentpapier auf und ein gepreßter Olivenzweig kam hervor.

»Das Läubchen da hab' ich vom Grab des Torquato Tasso gepflückt . . . Sie sind ja auch ein Dichter. Das macht Ihnen wohl Freude. Nicht?«

Er legte das Ästchen aufs Bett des wortlosen, still weinenden Kaplans. – Das also war der verbauerte und versauerte deutsche Provinzpfarrer!

»Und wenn Sie wieder gesund sind, so dichten Sie uns auch so ein Tassoliedchen, nicht wahr? . . . So etwas von einem kleinen befreiten Jerusalem. Jeden packt's ja einmal und macht ihn krank und gefangen und bringt sein kleines Städtchen in Angst und Bangen . . . und jeder haut's durch mit dem lieben Gott und . . . mit so einer gewaltigen Helferin!« – Cyrillus zeigte auf Jungfer Therese, deren Brille blitzte vor Mut und Lust, auch noch dieses zweite Jerusalem zu befreien.

»Herr Pfarrer, es geht schon ein wenig besser,« warf sie ein, während sie mit Wohlwollen ihren neuen Patienten betrachtete, »das Fieber ist beinahe verschwunden, der Puls geht regelmäßig und . . .« fügte sie fast unhörbar, aber so recht wie ein Schalk zum Kranken hinunter hinzu, »auch der Nervus constrictus . . .«

»Ist tot!« lispelte Johannes mit großer Anstrengung.

Der Pfarrer ging auf so ein gutes Bulletin hin ans Fenster und rief hinunter: »Liebe Leute, unserem Kaplan geht es schon besser. So zieht ruhig nach Hause und sagt euern Kleinen beim Nachtgebetlein, daß sie ihm eines ihrer hübschen, unschuldigen Vaterunser schenken.« – –

»Es geht besser! – – Bravo! – – Recht so!« schreit es unten hin und wieder. »Herr Kaplan, recht gute Besserung!« ruft einer. Diese Stimme! – – das ist der Vize vom Schulrat.

»Gute Besserung!« brüllt jetzt ein Haufen wilder Buben. Dazwischen ein großes zufriedenes Volksbrummen und ein paar Warner: »Pst! Nicht so laut. – Gute, gute Besserung!«

»Sehen Sie, welch ein liebes Volk, da muß man ja gesund werden!« spricht der Pfarrer in die Kammer hinein. Dann winkt er aber mit der Hand übers Gesimse hinaus und lächelt so schelmisch, wie es nur rotbackige, greise, behagliche Pfarrherren vermögen.

Da fängt es an, unten an der Pfarrkirche, damit es nicht so laut wird und etwa zu stark aufregt: die Blechmusik spielt!

Es ist eine alte Lachweiler Weise. Schon die Urgroßväter wußten nicht, woher sie stamme, nur daß sie hier noch allein daheim sei. Sonst kennt sie kein Dorf und kein Gemeindevolk, und der Lachweiler Organist hütet die vergilbte Partitur wie ein Drache, ich kann's nicht anders sagen. Diese Melodie! Nicht Jodel ist's, nicht Tanz, nicht Marsch und doch von allem etwas und klingt immer feiertäglich. Am Gallustag und am eidgenössischen Bettag und zu Ostern, wenn man endlich wieder die Glocken läuten darf, spielt man diese seltene Weise. Heut geschieht's als großartige, ehrende Ausnahme. Man möchte sagen, es sei halb Volkslied, halb Psalm, warum man das Stück in der Kirche spielen kann, aber auch auf dem Schießplatz und an der Dorfkilbi. Es paßt jetzt auch sehr gut vor die Fenster eines schwerkranken Kaplans.

Alles, was Ohren hat, drinnen im Haus und auf der Gasse, horcht auf die alte, milde Musik. Der Kaplan faltet die Hände. Ihm ist's Gebet. Aber Therese lächelt ihn durch ihre gewaltigen Gläser mit einer sonderbaren Bosheit an. Hat sie am Ende auch das noch eingefädelt?

Da fällt dem Johannes ein, wie er so oft gesagt hat, seine schönste, irdische Eitelkeit wäre, wenn man ihm einmal nach einem besonders glorreichen Streich Musik machen würde, so wie man dem Bischof in seiner Pfalz oder dem Bundespräsidenten vor dem Palast zu Bern oder einem General mit großen, tapfern Narben auf Holz und Blech ein Spiel aufführt. Wenn man ihm das täte, dann hätte er nichts Irdisches mehr darüber hinaus zu wünschen. Und jetzt machen sie ihm wahrhaftig so eine Musik. Jetzt schon! Auf was denn? – Auf das Opus etwa?

Er nickt Theresen ernst zu und flüstert: »Ich will sie verdienen, die Ehrenmusik da unten!«

Er lauscht und lauscht und schläft allmählich vor freudiger Müdigkeit ein. Da hören sie auf zu musizieren, und Pfarrer und Volk gehen leise, leise, wie auf den Zehen heim. Und erst unter der Pfarrtüre schüttelt Cyrillus endlich auch der Ottilie die Hand und sagt traulich: »Ja wie, du lebst auch noch, mein altes Hauskreuz? Na, so probieren wir's wieder ein Dutzend Jährchen mitsammen!« – Und Ottilie freut sich, daß die Tschinggen ihrem Herrn den guten deutschen Humor nicht mit den roten Nastüchern und dem Proprium auch noch gestohlen haben.

Aber Kaplan Johannes schläft sehr gut und erwacht nicht einmal, als im Dunkel der Nacht ein gewaltiger Wagen mit drei Rossen und zwei Fuhrleuten ans Haus rumpelt und Allspach und Therese mit den zwei Kutschern die vielen Kisten in den Keller hinunterstapeln. – »Das hätt' ich auch nicht geträumt, daß ich mir mit dem Sparbatzen einmal so eine Bibliothek zusammenkaufe!« – Spaßig sagt sie's!

Doktor Allspach redet nichts dazu. Aber er schaut sie an wie eine adlige Dame, und wo es zu einer Türe aus- oder eingeht, steht er höflich beiseite und bittet mit seiner knurrigen Stimme: »Sie voraus, Fräulein Legli.« – Das ist das Höchste, was er tun kann.

Aber im nächsten Winter, wenn die Buben vom Melzberg hinunterschlitteln, wo man das ganze Lachweiler wie auf einer Platte vor sich hat, und wenn sie dann die Kamine zählen und den Rauch vergleichen, den dünnen Quirl auf dem Pfarrhaus, wo man mit seinem Spaltholz feuert, – und den breiten, schweren beim Kronenwirt, wo man Kohlen braucht, – und den stoßweisen, giftigen unten in der Strohfabrik, wo sie mit Maschinen oder weiß Gott was heizen: hei, wie werden sich die rotbackigen Buben wundern, was das für ein noch nie gesehenes, ungeheures Gewölke ist, das nachmittags, wenn Therese ihren grünen Kachelofen heizt, aus dem steilen Giebel qualmt! Ist es nicht, als tanzten und ritten Figuren darin, sonderbare lange Magisterfräcke? Oder sind es gar kleine Halunken mit Hörnern und Schwänzlein? So ein Spuk aus der Kaplanei! Was verbrennen sie wohl? Man möchte meinen, diese scharfe Jungfer Therese stoße alle unruhigen Teufelchen der Menschheit mit Johannes' Opus in den Ofen.


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