Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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12

Die Woche verlief ungemütlich. Therese holte in der nächsten Vesperstunde zwar den alten Folianten wieder über ihre Knie, aber las leise für sich. Das entrüstete den Kaplan so, daß er schnell die erste Tasse hinunterstürzte, sich die Zunge verbrannte und dann eilends ins Studierzimmer einriegelte. Er warf sich angriffslustig über die großen Quartblätter seines Manuskriptes. Es ging wie von selbst. Ein ganzer Anger von Reformideen umwogte ihn jetzt mit hohen, reifen Halmen, und Zeile auf Zeile flog unter seiner reißenden Feder wie die Heuschwaden der Bauern unter der Sense dahin. Es war ein großartiger Heuet, so ganz wie eine Mahd im Juli mit schwerem Gras, großer Hitze und fernem Donnergrollen.

O welch ein Wahrheitsbuch sollte das geben! Und seine Wahrheit sollte lärmen, sogar das überlaute Maul der Lüge überlärmen. Anders meistert man sie doch nicht. Wie witzig klangen schon die Kapitelstitel! – »Die Geringschätzung der Mutter Natur: eine Gewohnheitssünde der Gewohnheitskatholiken!« – – »Tod dem Schund! Es lebe der echte, psychologische Roman!« – – »Die Nützlichkeit des Theaters auf dem Land!« – – »Das Heilige auf der Bühne!« – – »Moderne Predigten!« – – »Nicht Reinigkeit allein, auch Reinlichkeit!« – – »Hundert Prozent Gebetbücher und ein Prozent Gebetsinn!« – – »Katholische Hygiene!« – – »Mehr Turnen!« – – »Wo gibt es noch Folterkammern? In den Landschulhäusern!« – – »Deutsche oder lateinische Vesper?« – – So rasselte ein geharnischtes Kapitel ans andere, und in jedem gab es hundert kleine Spitzen und Stacheln. Da ward das refusé! dreimal unterstrichen, womit Landgeistliche jede Zeitschrift, die ein frisches Fünklein Geist in ihren alten Kasten werfen will, unbesehen ablehnen. Da gab es einen bissigen Satz von zuviel Geld am Altar, zuwenig Holz im Armenhaus und zuwenig Brot beim Schullehrer. Besonders stark dünkte Johannes das Kapitel geraten: »Von der wichtigen Person und vom unwichtigen Kleid der Kirche.« Eifrig ward untersucht, was nur Kleid sei, darum den Moden unterliege, geflickt, verbessert und wohl auch neu zugeschnitten werden dürfe. Und da ward auch die Epik des Breviers in der zweiten Nokturn gestreift und eine kecke polizeiliche Razzia in die dunkeln Viertel der Wundersucht abgehalten. – – Lourdes! – Jawohl, das auch! – – Viele kennen nur noch die blaugegürtete Marie von Lourdes, aber die stille von Nazareth und die evangelische von Bethlehem nicht mehr. Davon auch eine eherne Zeile! – – Am meisten bitterer Humor floß ihm ins Kapitel: »Das alte Vaterunser und seine modernen Rivalen!« Da zerzauste Johannes die sonderbaren, neuen Gebete und Andachten, die Litaneien auf alles und noch etwas und bewies, auch das schönste Gebet könne man mißbrauchen. Und er erzählte nicht ohne eine kleine Freude am mitlaufenden Witz, wie er abends einen Krankenbesuch machte und die ganze Familie gerade beim Nachtgebet traf. Er hielt mit. Der Großvater betete vor. Aber es war zum Sterben. Nach langem und breitem Gebet sagte der Alte: »Jetzt noch ein Vaterunser für alle Kranken! – – Also geschah es. »Ein Vaterunser für die Sterbenden.« – Gut! – »Ein Vaterunser für den Letztverstorbenen!« – Also! – »Eines für die arme Seele, die am meisten vergessen wird!« – Es sei! – Aber die zwei Buben und das Mägdlein auf der Ofenbank plapperten nur noch mechanisch, und sogar der Vater gähnte zweimal. – »Eines für die Seele, die am längsten leidet!« – – Das Mägdlein schläft. Die Buben unterhalten sich mit Kneifen und Kitzeln. Es folgen noch viele Vaterunser. Der Greis weiß immer wieder etwas. Es ist eine religiöse, aber unheilige Plaudersucht. Aber zuletzt stottert er doch: »Ein Vaterunser für – für – na, – für –« ach alles ist abgebetet, guter Mann! – »für, für – – nüt und wieder nüt!« – – Und auch dieses Vaterunser ward gebetet. Aber der Kaplan rannte wie ein Verzweifelter zur Türe hinaus. – Das schrieb er hin und erzählte auch von abenteuerlichen Erfindungen im Gebet und zürnte gewaltig, wie das ein Hochmut und ein unkirchlich täppisches Tun sei, für die alten, großen Kirchengebete seine kleinen Verfassereitelkeiten, für lebendiges Wasser aus dem Jordan einen Löffel voll aus dem eigenen Tümpel zu bieten. O er fand nicht Worte und Rhetorik genug, um sich so recht auszugrollen.

Ja, Johannes hetzte und riß es bei diesem Schreiben immer wilder und zorniger vorwärts, etwa wie ein amerikanischer Schnellzug, der überheizt ist und dem die Bremse versagt, immer ungeheuerlicher dahinrast, gar wenn es einmal bergab geht. Der Kaplan meinte freilich in die Höhe zu steigen. Seine Perioden schlugen ihre Fittiche gewaltig auseinander wie Adler und hoben ihn schwindlig hoch. Welten lagen unter ihm. Ein Sausen und Brausen der Gottesluft füllte sein Ohr; er war berauscht. Als er mit großen Tintenflecken an der Hand beim Nachtessen saß, summte es in seinem Kopf so mächtig von allem Erlebten wieder, daß er das schweigsam ernste Gesicht Theresens erst beim letzten Kartoffelklößchen wahrnahm.

Es ging ihm zu Herzen, und er konnte die weitern stummen Mahlzeiten fast nicht ertragen. Zu grollen und zu schmollen war ihm nicht gegeben. Aber Therese blieb fest. Sie las Tag für Tag die Legende allein. Johannes nahm sich vor, sobald sie nur einmal vom Buche aufschaue und nur für sich etwa sage: Nein aber, wie wunderbar! oder: Bravo, heilige Kunigunda oder Hildegardis! dann sogleich zu rufen: Bitte, gute Therese, lesen Sie mir das auch vor! Es interessiert mich gewaltig. Aber Fräulein Legli unterhielt sich mit ihrer wunderbaren Welt so gut und hatte es dabei so kurzweilig, daß sie kein einzigesmal aus dem Buche zum armen Zweifler hinüberschaute. Der mußte sich ganz anders benehmen, wenn er wieder seinen Sessel in die Gesellschaft ihrer lieben Heiligen abstellen wollte.

Unmutig sprang Johannes vom Kaffee auf und mähte neue, gewaltige Schwaden auf seine Quartblätter nieder.

Doch allmählich kränkte es ihn, seine tapfere Rolle ohne Parterre zu spielen. Es ist großartig zu kämpfen, aber wenn niemand zusieht, verpufft der Eifer. Es ist süß zu schriftstellern, aber wenn es niemand liest . . .

Vielleicht fände er einen gescheiten Leser. In Peraut, anderthalb Stunden von Lachweiler, freilich jenseits und hoch über dem tiefen Flußtobel, macht Doktor Albert Allspach die Menschen gesund. Wenigstens ist dies sein Beruf. Dieser Allspach hat mit Johannes am gleichen Gymnasium studiert. Er war zwei Jahre älter und kreidetrockenen Charakters, aber sie kamen doch gut mitsammen aus, weil sie am gleichen Kosttisch saßen und über die gleichen Zwetschgen und die nämlichen Nudeln ihrer Philistrin schimpften. Albert hatte ihm gleich nach der Installation ein Besüchlein gemacht und ihn zu sich geladen. Sollte er nicht mal hingehen? Peraut ist der Hauptort dieser weltentfernten, vielwinkeligen Provinz. Vielleicht sieht Johannes dort endlich wieder einmal ein Trottoir, eine elektrische Straßenlampe, einen kleinen Bücherladen. Richtig, Peraut gibt ja die einzige Zeitung der ganzen Gegend heraus, die »Lampe«. Nachtlämplein tauft sie der Stadtwitz. Mit dem Redakteur und Verleger könnte Johannes doch einmal über sein Manuskript reden. Der Mann gilt in Lachweiler als ein neumodischer, stürmischer Kauz. Um so besser! Aber vor dem kühlen Albert ist es schwer, ein Manuskript zu entrollen. Wenn der etwas liest, zieht er immer seine dicken Brauenbüschel in die Nasengrube, daß es wie eine Wolke über dem Buche hängt. Sie schwebt unheimlich über den Zeilen, und man ist nie sicher, wann es darunter hervor blitzt und brummt. Das kann Johannes nicht brauchen. Sonne, Freude, helle Begeisterung muß vom Leser auf sein großes Papier herunterlachen, nicht so eine schwarze, gallige Zensur. Warten wir lieber noch zu!

Am Sonntag darauf, am sechsten nach Pfingsten, stand Johannes auf der Kanzel und verlas mit seiner dünnen, aber vernehmlichen, in alle Winkel dringenden Stimme das Evangelium . . . Wie viele Brote habt ihr? . . . Herr, sieben! – Und sie aßen und wurden satt . . . Es waren aber Viertausende! . . .

Von dieser Erzählung bei Markus ging aber der Kaplan, wie es die Prediger so lieben, zur Brotvermehrung im Tabernakel über, zu dieser ewigen Speisung des Menschenhungers und Menschendurstes mit einem kleinen, hellen, runden Hostienbrötchen. Er wollte in historischer Entwicklung zeigen, was für einen wundervollen Anteil das Leben der armen und reichen Menschheit an dieser heimlichen Brotvermehrung genommen habe, ja, daß die Eucharistie das religiöse Leben noch gewaltiger bestimme, als das natürliche Brot etwa das körperliche Dasein regle. Aber da sah er gerade unter der Kanzel die Kinder, die vor kurzem mit weißen Gewändern und Kränzen im Haar zur ersten heiligen Kommunion gegangen waren. Wie Engel! Und da riß es ihn aus allem geschriebenen und auswendig gelernten Konzept hinaus in dieses lebendige, frische Argument. Davon sprach er nun in einem gewaltigen Stegreif. Er erinnerte sich an den eigenen weißen Sonntag, wo der große Himmelskönig zum erstenmal in sein enges Herzstüblein kam. »Ich ging heim wie ein Verzückter,« sagte er. »Meine liebe selige Mutter, die sonst immer etwas an mir zu schelten hatte, wenn ich zur Stube hereinrannte, blickte mich mit einer großen Ehrfurcht an, redete ganz leise und wagte mich kaum anzurühren, und die Kameraden und Nachbarskinder, die sonst gleich sich mit mir herumbalgten, drückten sich jetzt schüchtern um mich herum und staunten mich an, und ich glaubte, sie würden jeden Augenblick vor mir niederknien. Ich war etwas Heiliges geworden. Es gab ein Wunder in mir . . .«

Therese schoß funkelnd mit dem bebrillten Kopf in die Höhe. Er aber sah es in seiner Begeisterung nicht und erzählte weiter . . . er war jetzt ganz in seinem Element . . . wie es zuging, als seine Mutter so früh sterben mußte. Sie hatte sich sehr gefürchtet vor dem Tode und ihren einzigen Sohn an beiden Händen heftig umklammert, damit sie einander doch gegen den Tod fest hielten, auf dieser Erdenseite hier, wo das warme, frohe Leben ist.

»Da klingelte es, da schimmerte das Laternchen herein, ein weißer Chorrock tauchte unter der Türe auf, der alte Seelsorger reicht die heilige Hostie . . . O Herr, ich bin nicht würdig . . . aber sprich nur ein Wort, so wird gesund meine Seele! – Nein, kein bloßes Wort aus der Ferne, keine Botschaft von weitem . . . ich königlicher Freund komme selber, ich will dich grüßen, o kleine Kreatur, ich will dir in die Augen sehen, ich will dich küssen, will deine Seele umfangen. Komm, komm, meine Taube, meine Liebe, nun meine heiligste, ewige Braut! . . . Meine Mutter lag still und verklärt. Sie ließ zuerst meine rechte Hand und dann auch noch meine linke los. Aber als der Priester sagte: ›Brot vom Himmel hast du ihr gegeben!‹ flüsterte sie dem Sigrist zuvor: ›Das alle Süßigkeit enthält. Alleluja!‹ . . . Hört ihr, Alleluja sagte sie, und es war doch tiefe, schwere Fastenzeit. Aber für sie war es schon Ostern. Sie lächelte noch einmal oder zweimal und verschied.«

So redete der Prediger und kam jetzt auf seine erste heilige Messe zu sprechen . . . »Ich hörte nichts mehr von dem Wogenschlag der Orgel, sah nichts mehr von den schimmernden Gewändern ringsum oder vom Geflacker der Kerzen oder vom Gewirbel des Weihrauchs. Ich sah nur noch die große Hostie in meiner Hand und die vielen kleinen Hostien im offenen Ziborium, die ich konsekrieren sollte. Noch eine Minute, noch ein Wort und Christus ist da . . . wie wenn er vor der Türe stände und nur noch auf das Herein wartete! . . . Ich zitterte vor Bangigkeit. Vermag ich's? dachte ich. Darf ich's? Ein Wort sagen, das die Himmel spaltet, die Engel zusamt der Madonna auf die Knie wirft und das Gewaltigste, was es gibt, ans Kleinste und Unscheinbarste bindet! . . . Und ich sah noch einmal die vielen kleinen, wie mir schien, auch vor Sehnsucht und Angst bebenden Hostien im Kelch an und dachte: Diese für die Kinderlippen! . . . die für welke, müde Abschiedsgreise . . . die für Kranke, als köstliche Arznei . . . die für den verlorenen Sohn, wenn er heimkehrt zu seinem Vater . . . die für die letzte, furchtbare Stunde! . . . kann ich das? darf ich das? dieses Brotvermehren? dieses Verhimmeln der armen Erde? dieses Vergöttlichen der staubigen Menschen? . . . Gott, du mein Gott! Meine Wange ward naß . . . ich weinte – –

Da sagte der geistliche Vater neben mir im weiten Rauchmantel nur das eine feste Wort: Sprich, sprich! Du darfst Christus nicht warten lassen! – Und ich hauchte: Das ist mein Leib! – und sank aufs Knie und wußte, das ist wahrhaft Christus aus dem Himmel und Christus aus dem Abendmahlsaal und Christus am letzten Gericht! Und das ist das größte und alltäglichste Wunder, das es gibt . . . Es blüht fort auf hunderttausend Tischen in ewiger, sättigender, seligmachender Brotvermehrung . . . Ja, wenn es auf dem Acker ein millionenfaches Wunder ist, daß aus jedem dürren, toten Samen ein lebendiger Halm aufschießt und lustig in die Höhe wächst und zu einem Weizenbrot ausreift, ein Wunder, weil das keine chemische und physikalische Schlauheit bis heute auch nur in einem einzigen Körnlein nachmachen kann: so ist es ein genau so millionenhaftes, aber vielmal größeres Wunder, wenn die winzigen Brötchen auf dem Altar zur Weltspeise werden. Wunder über Wunder! O Freunde, zum Wunder sind wir geboren und im Wunder sterben wir und sind selber ein stetes Wunder. Und das größte Wunder wäre es, wenn einer ohne Wunder leben und sterben und selig werden könnte. Man kann sagen: Nur der Tor spricht in seinem Herzen: es gibt kein Wunder!«

Er sagte »Amen!« und in diesem Augenblick sah er Therese zuvorderst in ihrem Stuhl mit leuchtenden Gläsern aufstehen und mit einer Art von dankbarem Triumphgefühl, womit sie doch nicht wehtun möchte, zu ihm emporschauen. Ahhh! – – er verstand – ward purpurrot und kletterte verwirrt das Känzelchen hinunter. Da hatte er also gepredigt, – – oder besser, sein Herz, seine Seele hatte sich ausgeschüttet, wahr und innig, wie sie im Innersten fühlte. Und was war geschehen? – Er hatte sich selbst widerlegt.

Er ging zur Fortsetzung des Hochamtes auf den Altar und intonierte das einfache Credo unglaublich falsch. In der Kaplanei wich er Theresen überall aus. Aber am Mittagessen packte sie ihn unentrinnbar fest und sagte mit einer Art Jubel in der Stimme: »Gott, welch eine schöne Predigt haben Sie heute vom Wunder gehalten! . . . daß es täglich Wunder gebe! und daß wir alle mitten im Wunder leben und schweben! . . . Wie freu' ich mich darüber! Ich hätte nie gedacht, daß es jetzt noch mehr Wunder gibt, als früher . . . oder, wie Sie sagten: daß es ein Wunder ist, wenn kein Wunder ist!«

»Schon gut, Therese, schon gut!« wehrte der Kaplan errötend ab. »Was wissen wir? Scherben . . . aber was bekomm' ich zu essen?«

»Schaffleisch mit Rüben, Herr Kaplan! . . . Und das Wunder, nicht wahr, Herr Kaplan, das ist kein Scherben, sondern ein ganzes, unverstückeltes, helles Fenster, durch das man gradaus in den Himmel sieht!«

»Therese, jetzt sind Sie eine Dichterin!«

»Nein, nein, das sagte nur der heilige Pantaleon . . . oder Apollinaris oder . . . eine der Schwestern Sekunda und Rufina . . . oder . . . ach, ich weiß nicht genau . . . soll ich?« sie zeigte zur Bücherlade an der Wand, »soll ich mal nachsehen?«

»Holen Sie's nur! Wir müssen eben wieder die Legende mitsammen lesen, von heute an alle Abende! Nicht wahr, Jungfer Therese?«

Sie nickte gewaltig mit ihrem quadratischen Haupt. Der Friede war geschlossen.


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