Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Langsam, langsam, wie es sich für den Hausrat eines wohlbestallten, geistlichen Herrn schickt, fuhr der Möbelwagen des Kaplans Johannes durch die glotzenden Lachweilerkinder über den steilen Dorfplatz hinauf und hielt mit einem würdevollen Geknarre vor der alten, hochgiebeligen Kaplanei. Viel witziger und schneller war der Leiterwagen mit Jungfer Theresens paar Tischen, Stühlen, Kommoden und den Seegrasmatratzen ins Dorf gerollt. Auf der kleinen Stiege stand das brillenscharfe Fräulein, beide Arme streckend, und gebot den Fuhrleuten und Trägern und tätschelte die Rosse und begrüßte den Pfarrer und fragte, ob noch niemand etwas vom Kaplan gemerkt habe, und nickte links und rechts den neugierigen Nachbarn hinter den Fenstern und Gartenhecken ein Grüßchen zu und sah zu allem noch einem jeden neuen bemalten und gefirnißten Möbel des Kaplans durch sein spiegelhaftes Gefunkel in die innerste, so billige, fadenscheinige Seele hinein. Tannenholz, nur alles Tannenholz! kritisierte sie schonungslos und hob dann eine zentnerschwere Kiste voll klingelndem Geschirr flott auf die Achsel und trug sie bolzgerade ins Haus, drei Treppen hoch.

»Das ist eine forsche! eine urchige! die hat Haar an den Zähnen!« murmelte es rundum. »Da muß der Kaplan schon Schwingerkönig sein, wenn er die meistern will! Seht, seht, den Küchentisch schwingt sie nur so wie ein Servierbrett aus dem Wagen!«

Der Kaplan machte indessen den Weg von der Bahnstation ins Dorf hinauf zu Fuß. Er hoffte zuerst, einer Blechmusik oder einigen weißberockten Kindern mit Blumen und einem Willkommengedicht oder doch wenigstens zwei schwarzen Kirchenräten und dem Pfarrer unterwegs zu begegnen. Schließlich gefiel es ihm so am besten, in aller Stille zwischen zwei kühlen, mächtigen Forsthalden durchs enge Tal hinauf ins Dorf zu pilgern. Es lief da ein drolliges Sträßchen bald durch Sträucher und Ried, bald durch enge, obstreiche Wiesen und nahm es mit seinem Wanderer herzlich ungenau. Jetzt holprig wie ein Holzhacker, jetzt zimperlich glatt wie ein Stadtfräulein! Da hopst es in ein Bachtobel hinunter, drüben klettert es ohne Umweg wie eine Gemse haldan. Aber das hat ermüdet. Nun steht es doch einen Moment still, weitet und verbreitert sich fast zur Heerstraße und schlenkert eine großartige Schleife um den nächsten Hügel. Weiter oben wird es wieder enger und zutraulich, so daß zwei Begegnende sich mit den Ärmeln streifen müssen. Der Ranft wächst in den Weg und braune Waldschnecken kriechen sorglos her und hin. Der Forst hüben und drüben an den Abhängen sieht mit seinen senkrechten, enggestellten, schweren Stämmen einer Armee alter Jahrgänge gleich, in deren Lücken jedoch da und dort ein jüngerer Waffenknirps, dort an die Frontecke sogar ein flatternder, beflaumter, junger Fähnrich getreten ist. Von der schattigen Westseite bringt dieser Wald eine große Kühle, von der besonnten Ostseite den Geruch von dürren Nadeln, gesprungenen Rinden und kristallgelbem Harz.

Wie schön war doch dieser Wald! Ganz eigen feierlich blickten seine Tannen drein und ihre Spitzen funkelten wie gleißende Münsterhelme. Die Stämme leuchteten wie rote Basaltpfeiler aus der Dunkelheit hervor. Der Wind orgelte durch die Gewölbe, während aus den grünen Veranden und Emporen abgerissene Töne flogen, von Amseln und Drosseln und Buchfinken, genau so, wie vor einem Konzert die Flöten und Geigen ahnungsvoll gestimmt werden. Bei aller Menschenstille war augenscheinlich eine fieberhafte Erregung und Bewegung ringsum, als erwarte man etwas Großes. »Nun ja, das Kaplänchen kommt,« scherzte Johannes und ward über sich und seinen hochmütigen Spaß immer munterer.

Ein Handwerker mit der Axt und einmal ein hohes, sonnverbranntes Mädchen gingen vorbei und grüßten den Unbekannten ruhig, mit singendem Tonfall. Wo ein Strahl hinfiel, dampfte die Wiese vom Weihrauch aus tausend Blumenglocken. Große weiße und gelbe Falter flogen herum und es surrte und summte von Fliegen und Hummeln über allen Kleeköpfen. Die Hügelketten hoben sich und gingen gegen eine Paßhöhe breit auseinander. Aus jeder Falte der Halden schwatzte und gurgelte es von Quellwasser und auch in den Wiesen tief unter den Halmen sang es wie von einer unterirdischen Musik. Der Kaplan kostete das alles fein und tief wie ein Näscher. Seine Brust füllte sich von einem kräftigen Atem. So ein starkes, frisches Lüftchen war schon lange nicht mehr durch seine dünne Nase eingegangen. Ihm war durchaus, er schreite einer schönen, heimatlichen, gesunden Herberge entgegen.

Freilich der Himmel war nicht ganz blau. Er stach mit einem blendend weißen, dünnen Lichte nieder, und heiße, pulvergraue, müde Wölklein standen langsam im Süden geradeswegs gegen das Gesicht des Wanderers auf. Die Ferne spann sich mehr und mehr in eine unheimlich violette Dämmerung. Sobald der Marsch durch eine Talmulde ging, wo die Zugluft nicht zugreifen konnte, fühlte sich Johannes wie in einer schwülen Ofenhitze. Die Hummeln summten da zahmer, die Falter flogen mühsamer und das Gras stand totenstill und bebte nur mit dem äußersten Halm ein bißchen, wie in der Vorstellung eines Windes. Dem Kaplan tropfte der Schweiß aus dem Haar. Da regiert also der Föhn oder ein nahes Gewitter, sagte er sich und, sobald ihm ein langsames Holzfuder mit einem fast eingeschlafenen Fuhrmann auf dem Bock begegnete, fragte Johannes neugierig: »Guten Tag! Erlaubet, ist ein Gewitter unterwegs?«

Der Mann nickte nachlässig und hob den Geißelstiel.

»Kommt es bald?«

»Weiß nicht. Gestern hat sich's um die Vesperzeit auch zerschlagen. Hüp, Hans!«

»Gibt es denn hier viel Gewitter? Sind sie schlimm, blitzschlagenden Charakters?«

Der Fuhrmann lacht: »Der Blitz tut Euch nicht weh. Der schießt gewöhnlich ins Tobel hinunter.«

»So? Aber der Hagel?«

»Hm, was will man, wenn's im Kalender steht?«

»Im Kalender?«

»Ein ganzer Sommer voll Gewitter. Wir haben hier schon drei heillosige gehabt . . . guten Tag! . . . hüp hoi!«

»Einen Augenblick, lieber Mann! . . . ist es noch weit bis Lachweiler?«

»Zehn Minuten! . . . allo, allo, Hans!«

»Ich danke vielmal,« versetzte Johannes und zog den Hut.

»Für was?« sagte der Fuhrmann, nickte schläfrig und rutschte mit dem knarrenden alten Roß und Wagen weiter.

Zehn Minuten! bedachte sich der Kaplan. Es wird wohl das Doppelte sein, sonst müßte ich doch den ersten Ziegel vom Dorf sehen. Diese Leute geben immer zehn für zwanzig. Ich sehe weder Helm, noch Dach. Haben sich denn diese Lachweiler ganz in den äußersten Schatten der Menschheit hinausgesetzt? Darf man sich erst da so recht von Herzen auslachen? Die Straße wird unterdessen zum Sträßchen, das Sträßchen zum Fußweg, der Fußweg zum Wiesenpfad, bald hören wohl die letzten Fußspuren auf. Wenn es so fort geht, komme ich ans stille, einsame Zipfelchen der Erde.

Torheit . . . Johannes hat die Straße verloren. Dort unten geht sie dem Rand des aufsteigenden Flußtobels entlang. Er aber ist ins richtige Dorfweglein geraten, das mit ein paar steilen Kehren den Paß gewinnt. Jetzt steht er auf der Höhe. Aber der Wind vom Tal herauf und der Gegenwind schräg von der Schlucht und den Bergen dahinter, von denen man drei Schritte zuvor noch keine Ahnung gehabt, packen hier oben gewaltig an. Von diesem ewigen Spiel sind hier die Hecken zerzaust und das Gras ist dürr. Den dünnen Kaplan will es umwerfen. Er hat nicht Zeit, sich umzusehen, wo er eigentlich sei. Er muß den Hut einfangen und dann mit ein paar Sätzen und hochwirbelnden Frackschößen sich in die Büsche hinunterwerfen, die ihm die Hochebene feldein versperren.

Ei, ei, da geht ja der Weg deutlich durch eine Hecke und, o Wunder, genau durch den Einschnitt sieht man Lachweiler ganz nahe in den Wiesen, am Fuß des Wildbergs, mitten in seinen Nußbäumen. Man erkennt den Kirchturm, das Pfarrhaus, die altersbraune, hochgiebelige Kaplanei, den Gasthof zur Krone, dann die fünfzig übrigen, kreuz und quer zwischen Baumgrün geneigten Ziegeldächer und die höher an der Bergrampe klebenden Bauerngehöfte. Gott, welch ein Häufchen Welt! Ein Haselbusch hat es vor allen Menschen verbergen können. Aber nun liegt es doch da, fast wie ein altes, abgefingertes, herzheimeliges Spielzeug oder wie eine wundersame, leise, uralte Landmelodie. Ja, so liegt es da. Ich werde es verherrlichen in einem Gedicht. Wie sagte ich, eine uralte Melodie aus Nußbaumrauschen, aus Sonnenspielen über grauen Schindeln, aus Dorfbrunnengeplätscher, Holzschuhgeklapper und greisen, müden Kirchturmglocken. Das Bild muß ich mir behalten.

Man hatte den Kaplan gesehen im fliegenden Frack. Kinder liefen her und boten ihm ihre braunen, klebrigen Händchen. Ein paar Männer und Weiber nickten ihm von den Äckern her zu. Etliche Jünglinge lüpften die Mütze verlegen. Aber die Jungfern überweg schrien auf und steckten gleich die Köpfe so nahe zusammen, daß man ihre dicken Zöpfe leicht verwechselt hätte. Der ist's? so sieht er aus, so ein langes Gesicht, so dünn und so langes, lichtbraunes Haar? Jung, fürwahr sehr jung, aber nicht stark und kein Feuerbrand! – So reden sie. Und gleich lösen sich die Zöpfe wieder säuberlich und jede der Jungfern zwirbelt mit dem ihrigen ins Dorf hinein: »Er kommt! Er kommt.« –

Jetzt bricht zwischen den beiden nächsten Häusern, der Schule und dem Spritzenhöfchen, ein breiter, starker, mittelgroßer Herr hervor, mit blutrotem, rundem Gesicht und dickem, kurzem, schneeweißem Haar. Dem Kaplan fliegt der Atem. Der Pfarrer, der Pfarrer! Leichtfüßig wie ein Dreißiger kommt er ihm entgegen und schwenkt von weitem schon den schwarzen Strohhut. Nun ist er heran und blickt mit völlig runden, glockenblauen Äuglein aus dem blühenden Greisengesicht seinen hageren farblosen Gehilfen an. Er drückt ihm zwei- und dreimal die Hand, selber ein wenig ergriffen, und sagt: »Willkommen endlich bei uns! Herr Kaplan . . . das ist nun gut, daß Sie da sind! . . . Aber wie schlecht hat es die Stadt mit Ihnen getrieben. So spindeldünn und bleich schickt sie uns den jungen Herrn herein! . . . Ja, da haben wir sie wieder einmal, diese Geizhälsin! Aussaugen tut sie allen das Blut. 's ist hohe Zeit, daß Sie kamen. Hier müssen Sie rote Backen und ein starkes Schnäufchen kriegen. Laßt uns nur sorgen, Herr Kaplan!«

Und wieder sah er ergriffen dem Jungen ins Gesicht, mit dem er nun fortdann gemeinsam das Halleluja und das Requiem und das weihnächtige »Es ist ein' Ros' entsprungen« singen, die Sakristei und die Seele des Dorfes teilen wird, und wo keiner weiß, welcher dem anderen das Sterbegebet vorsagen und die erste Scholle auf den Sarg schütten muß.

Von den ernsten Gedanken des Pfarrers hatte der Kaplan keine Ahnung. Er schämte sich vielmehr zum erstenmal in seinem Leben über seine auffallende Magerkeit. Mager sein ist doch nicht notwendig zur Heiligkeit. Wie stände es sonst übel um den großen Thomas von Aquin. Schau, schau, eine Hummel schnurrt zwischen Pfarrer und Kaplan vorbei. So ein fettes, glänzendes, lustiges Tier! Und strahlt und summt und fliegt so tüchtig, unbeschadet ihrer Leibesfülle. Und Johannes! Wie ein Halm! Was macht er für eine Figur durchs Dorf hinauf! Er möchte ein kleines Taschenspiegelchen hervornehmen. Aber er spürt, daß ihm diese kleine Weltlichkeit hier nicht zieme.

»Seh' ich denn wirklich so totenbeinig aus?« fragt er. »So erschreckend neben Ihnen . . . Sie sind freilich ein Prachtspfarrer! . . . daß die Leute davonlaufen?«

»Es könnte noch schlimmer sein,« lachte der Pfarrer. »Dort oben auf dem Grätli hat es Ihnen nur den Hut genommen. Andere magere Menschen hat es auch schon umgeworfen. Drum wird von einem Ihrer Vorgänger hier erzählt, daß er jedesmal beide Hosensäcke voll Steine mitnahm, wenn er übers Grätli mußte, damit er standhielte! Das war noch viel schlimmer, nicht?«

Johannes lachte und faßte Mut.

»Gott wolle Sie uns lange hier behalten! Aber wenn Sie doch einmal als Domherr oder Professor weggehen, so hoff' ich, haben Sie keine Steine mehr im Sack nötig. – Hier wohnt unsere älteste und geduldigste Kranke! Grüß' Gott, Babette!«

Der Pfarrer zog den Hut. Der Kaplan folgte. Die alte Frau am Fenster in den Kissen murmelte etwas und lächelte.

»Das ist unser neuer Kaplan!«

»Gott segne ihn!« klang es schwach übers Fensterbrett hinaus.

Nun war man am Dorf und der Willkomm ging los.

Wie viele hundert Hände gab es zu drücken! Und wie viele Gesichter anzuschauen! Alles so würdige Gesichter, auch meist mager und mit starken grauen Augen in den Höhlen und mit einem fein gezogenen, scharfen Mund. Wie Philosophen! Das stimmt nicht zum Namen. Die Lachweiler hatte sich der Kaplan mit einem Rosinchen oder einer roten Nelke zwischen den losen Lippen vorgestellt, mit Stulpnasen und spöttischen Grübchen in den Backen und immer mit einer hellen Schelmerei im Auge. Nun war das eine andere Rasse, hager, groß, beinig, mit stählernen Augen, fast wie die Pickel oder Schaufeln oder Äxte oder anderes spitzes, eisernes Geräte, das sie da vor den Häusern voll Glanz stehen hatten. Sie redeten langsam und mit einer Betonung, als ob sie jedem Satz einen scharfen, feingeschnittenen Rand ziehen wollten. Welche weiße, feste Zähne hatten sie alle! Ha, Roggenbrot! Daher kommt's! – Und wie sieht wohl die Seele dieses Völkleins hinter so tiefen Augen und so einem scharfen Mund aus?

Über den grasigen Dorfplatz geht der Pfarrer mit seinem Gehilfen in die Kirche zu einem frommen Grüßchen.

Die Diele ist bunt bemalt. Im Schiff steht ein Gerüste an der Kanzelseite, und man merkt die angefangene, auch recht bunte Malerei von Engeln und einem kahlen Mönchskopf, Wolken, Bergen, Wasserfällen und einem gewaltigen, braunen Meister Petz. Das übrige ist verhängt. Vor dem holzgeschnitzelten Hochaltar knistert leise das ewige Lichtlein. Durchs Fenster herein winken die hohen Nußbäume des Gottesackers, fettlaubig und glänzend aus so gesegnetem Erdreich herauswachsend. Davon ward die ganze Kirche schattengrün. Fast wie ein heiliger Wald. Das Gold schimmerte wie Bronze. Auf den Gesichtern lag es wie feiner, dämmeriger Mondschein.

Johann musterte jede Stelle mit frommer, neugieriger Scheu . . . . Also das wird mein Opfertisch sein und das braune Gestühl dort mit dem grünen Vorhängchen mein Beichthäuschen und der schiefergraue Balkon dort hoch oben meine Kanzel. Und St. Gallus an der Wand mit dem Bär und Sankt Wendelin an der Diele mit einer ganzen Alpe von Schafen und zackigen Ziegen sind meine Patrone. Bittet für mich! . . . Helfet mir! . . . Du aber, lieber reicher Vater unser, der du bist im Himmel, geheiliget werde dein Name, zukomme uns dein Reich, dein Wille . . .

In diesem Augenblick rumpelte etwas und faucht und pustet auf der Empore. Plötzlich geht ein Sturm los. Die alte Orgel! Das rauscht und sprudelt und weht und tost wie ein majestätisches Gewitter von Tönen. Es ist eine Phantasie des Lehrers Philipp Korn. Meist in Oktavgriffen oder doch in herben Sextakkorden wallt es auf und nieder, schäkert ein kleines, rasches Piano und donnert und dröhnt dann wieder in die dicksten Pfeifen hinunter. Der Kaplan erkannte bald ein Volkslied, bald einen Hymnus aus dem Vesperale, jetzt gar einen Streifen aus der Präfation. Dann wieder entzog es sich allem irdischen Erwägen, war nur noch Eingebung, Stegreifchoral des Spielenden. Das Lämpchen zitterte, die Blumen am Altar erbebten, die starken Heiligen an den Wänden und Dielen lauschten feierlich auf, und es schien, als wollten die Böcklein und Zieglein der Diele in frohem Getümmel durcheinander hüpfen. Durch die drei Kirchtüren kroch junges und altes Volk herein, hemdärmelig und barfuß, wie es der Werktag will. Sie bogen das Knie und schoben sich in die Bänke und bewegten die Lippen und schielten nach dem Kaplan. Der war erschüttert. Solche Musik, so ein Gruß, als riefe der liebe Gott selber mit einem himmlischen Baß herunter: Du, grüß' dich wohl, mein Knecht hier zu Hause! Nun leb' und wirk' mir auch ordentlich! Erheb dich und dein Volk zu mir, deinem Gott und Herrn! –

Bumbumbum!

Nein, das ist nun doch keine Baßpfeife. So donnert keine Orgel. Jetzt macht der Himmel Musik. Wirklich, da loht es wieder durch die gotischen Fenster in die Kirchendämmerung herein. Und wieder krachen Donner um Donner. Aber die Leute knien ruhig in den Bänken. Nur ein paar Bübel lachen gegen die blitzzuckenden Scheiben hinauf. So ein Himmelssturm ist ihnen Spaß.

Philippus Korn jedoch, sobald er seinen Nebenbuhler merkt, stampft gewaltig auf die Baßpedale. Ein heiliger Grimm packt ihn, daß der Orgler da draußen noch brillanter spielen will, als er in der Kirche. Laßt sehen, ob er es nicht ebenso wuchtig kann! Er zieht die Brummer und Doppelregister, läßt das Fortissimo nicht mehr los und hämmert eine Fuge mit solchen Pfundnoten über die Tasten, daß man von der anderen Fuge, die das Unwetter draußen spielt, kaum noch eine Note hört. Erst als ein kleines Sonnenblinzeln wieder in das verdunkelte Gotteshaus hineingrüßt und klingelt: 's ist vorbei! 's ist vorbei! . . . beruhigte sich auch Philippus an seinem Donnerkasten. Auf einmal konnte er freilich nicht kopfüber ins Piano stürzen. Das ließ sein Ehr- und Kunstgefühl nicht zu. Aber er zog ein Register nach dem andern ein, ließ die Pedale ausbrummen, griff keine Akkorde mehr. Und nun verdünnen sich die Klänge, das Spiel spinnt in feine, silberne Pfeifen hinüber und wird leiser und menschlicher und lockt wie zum Mittun. Es probiert einmal und zweimal eine einstimmige Melodie. Das erstemal stutzt das Volk. Aber das zweitemal setzt der Pfarrer gewaltig ein, und rauhkehlig, groß und kühn bricht nun auch die Gemeinde los. Brausend fährt es durch die Kirche: »Großer Gott, wir loben dich!« Umsonst möchte auch noch der Organist mitreden, stampft die Pedale, schlägt handbreit auf die alte Klaviatur und zieht die schwersten Register. Vor der Mächtigkeit dieses Menschensangs kommt kein totes Instrument mehr auf.

»Ha, die können singen!« jubelt es im Kaplan. »Wer so singen kann, muß ein tiefes, tapferes Herz haben. Wie dank' ich dem Bischof für diesen Posten!«

Am lautesten sang im vordersten Stuhl des Pfarrers Bariton und in der hintersten Bank eine bisher in Lachweiler unbekannte Frauenstimme. – Die Jungfer Köchin! – Sie sang einen nicht mehr ganz neuen oder jungen, aber darum nur um so solidern Sopran, so etwa wie ein erfahrener Vorbläser in der Feldmusik. Er hat nicht mehr das weichste Trompetchen und nicht mehr den süßesten Ansatz, aber immer noch den höchsten und lautesten Schrei in der ganzen Musiktruppe.

Zwischen der ersten und zweiten Strophe flüsterte der Pfarrer dem Kaplan ins Ohr: »Gehen Sie jetzt zum Altar hinauf und geben Sie uns allen nach dem Lied den Primizsegen. Darauf wartet man.«

Der Kaplan ging – er meinte vielmehr zu schweben – über den graufliesigen Boden zum Hochaltar, wandte sich um, als alles schwieg, breitete seine bleichen, fast durchsichtigen Hände über die vielen, harten, vermergelten Köpfe aus und gab dem Dorf vom Haupt bis zum kleinsten Glied seinen ersten priesterlichen Segen. »Et spiritus sancti!« klang es schwach und zärtlich von seinen blutleeren Lippen.

Der Meßner war nicht da, um Amen! zu respondieren. Eine kleine Pause von Totenstille entstand. Da schoß das Responsorium hell und grell aus der hintersten Kirche hervor: »In omnia saecula saeculorum Amen.«

Das war wie ein Trompetenstoß gewesen.

Alle Lachweiler, die dieses feste, sichere Latein gehört hatten, wußten in diesem Augenblicke, daß die Gemeinde von nun an eine gescheite, tapfere und starke Seele mehr in ihrer Umfriedung beherberge. Sie hatte die Fuhrleute tüchtig abgelöhnt, die Pferde gefüttert, einen Gärtner bestellt, die Kaplanei möbliert, dabei eigenhändig zentnerschwere Stücke herumgetragen und mit den Ratsherren und dem Pfarrer ganz geschliffene Reden gewechselt. Alles in einer Stunde! Und jetzt sang sie noch über alle hinaus wie ein ältlicher aber sonorer Engel – und sprach Latein!

Als man die Kirche verließ, rannen zahllose Regenbächlein kreuz und quer das hügelige Dorf hinunter. Aber der Himmel war wieder sauber und irgendwo fern im Norden verstürmte sich das Gewitter über andern Dörfern und Menschen.

»Jetzt gehen wir in die Krone,« sagte der Pfarrer zu Johannes, »der Kirchenrat möchte Sie bei einem Glas Roten bewillkommnen.« Und auf die hängenden Stauden im Wirtsgarten und die sprudelnden Dachtraufen zeigend, spaßte er weiter: »Das hätte ich nie für möglich gehalten, daß so ein schmächtiges Kaplänlein mit Donner und Blitz in mein Kirchspiel fährt. Oder,« fuhr er, ganz nahe und sorglich dem Kaplan ins Auge blickend, schon fast mit halbem Ernst fort, »oder wie? oder wie? Sie tragen mir doch keine Gewitter in dieses ruhige Nest, Hochwürden?«

»Ach ich, lieber Herr Pfarrer, gewiß nicht, so gesund das Blitzen und Donnern mich dünkt . . . Aber ein Fuhrmann unterwegs hat mir gesagt, der heurige Sommer hänge voll Gewitter über dieser Gegend.«

»Es ist wahr, wir haben schon zweimal einen kleinen Hagel bekommen. Aber das Korn war gottlob noch nicht daumenhoch und den Klee sah man kaum. Nur keine Gewitter mit Hagelschlag! Vergessen Sie ja nie den Wettersegen, wenn Sie die Spätmesse lesen . . . Doch da winkt uns ja der Kirchenpräsident Scheiwiller schon mit seinem Zylinder übers Gesimse zu. Machen Sie sich auf eine steife Ratsherrenrede und ein paar josephinische Ermahnungen gefaßt.«

Sie klommen die jähe Treppe zum Herrenstüblein empor, während das Volk sich rasch in den offenstehenden Türgängen ihrer dunkeln, ernsten Häuser verlor. An diesem Abend ward bis zum Gut' Nacht in den hundert Kammern des Dorfes kein Wort vom Gewitter und ganz wenig und mitleidig vom bleichen Kaplan, aber mit Bewunderung von der Jungfer Therese Legli und ihrem gewaltigen Latein gesprochen.


 << zurück weiter >>