Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

28

Johannes wollte schnell seine Klage wegen dem unberufenen Leitartikel vorbringen und sich damit einen Vorsprung im Disput sichern. Aber Laus Tann war zweimal rascher, und schon mit dem ersten Satz saß Johannes wie ein Angeklagter und der Redakteur wie ein Richter da.

»Sie haben mich diesen Vormittag schwer enttäuscht, Herr Kaplan. Sie haben Ihrem gesamten herrlichen Opus da drüben widersprochen!«

Der Kaplan sah der weisenden Hand des Redakteurs nach. Da drüben? Wo denn? Er entdeckte sein ersehntes Manuskript nirgends.

»Und Sie haben . . .« begann der Geistliche zu tadeln. Aber Laus Tann überschrie seine schwache, müde Stimme und sagte unpassend schnell und unpassend laut, als wüßte er's auswendig: »Ich habe in stiller Nacht Ihr Werk gelesen, Sie lieber, gescheiter Mann. Diese Stunden bleiben mir unvergeßlich, wie weniges in meinem Leben. Das ging vor mir auf wie der Sternenhimmel vor dem Fenster. Wie treffen Sie mit jedem Satz! Und wie schön und würdig sagen Sie das Schmerzliche, wie milde das Harte und wie hinreißend, ja, wie ein heroischer Redner der Antike, das, was geschehen soll! So ein Büchlein hat die deutsche Welt schon lange nicht mehr erlebt . . . Es ist eine Trutznachtigall der Kultur, wie die . . . wie das . . . ich weiß nicht mehr, hat Luther oder Melanchthon oder Gellert . . .«

»Friedrich Spee, der Jesuit,« half Johannes nach, dem alle Schmeichelei nun nichts mehr anhaben konnte. »Aber ich möchte . . .«

Es klopfte. Laus Tann riß unruhig an seinem schwarzen Schnurrbart und rief zur Tür hinaus: »Einen Augenblick warten! . . . oder nein, ich sei nicht daheim!«

»Ich wünschte diese Nachtigall trotziger,« fuhr er dann zu Johannes mit unrastig schaffenden Äuglein fort; »sie singt zu mild. Jedenfalls kann niemand behaupten, daß auch nur eines ihrer Lieder einem Betroffenen wehtut.«

Johannes schüttelte den Kopf. Nein, nein, das ist gar nicht so, das ist alles anders, als du da sagst, wollte er damit aussprechen.

»Nachdem Sie mir die Erlaubnis gaben, mit dem Manuskript zu verfahren wie ich wollte, konnte ich es mir nicht versagen, auf diesen gottvollen heutigen Tag . . .«

»Das ist's gerade,« schoß jetzt Johannes empört darein, »und darum . . .«

Da zog Tann schnell den Brief des Kaplans aus dem Rock: »Da sehen Sie selbst: ›Drucken Sie mutig davon, was Ihnen behagt!‹ Das schrieben Sie mir vor vier Tagen.«

»Aber ich sprach vom Geheimhalten. Ich meinte, einstweilen drucken, an der Broschüre drucken, aber keine Silbe davon jetzt schon öffentlich, . . .« er stockte. Indem er das sagte, merkte er seine Halbheit. Wenn man etwas drucken läßt, will man es doch öffentlich machen. Und an dieser Halbheit hatte Laus Tann sich festgeklammert.

»Ich habe das Buch und den Autor geheimgehalten. Mehr zu tun verpflichtet mich Ihr Brieflein nicht!« erklärte er hart. »Aber um auf Ihre Predigt zurückzukommen, das war ja der reinste Rückfall in unser tiefstes, konservatives Philisterium. Solche Predigten haben wir zu Hunderten gehört, und sie haben keinen Axtstreich am Reformwerk der Welt geholfen. Es ist ja freilich in einem gewissen Buchstabensinn alles wahr, was Sie gesagt haben. Aber so wie Sie die eine Wahrheit hoch hinaufschrauben und die andere tief hinunterschrauben, wird eben doch wieder eine Unwahrheit verübt. Der katholische Fortschritt erscheint danach gar nicht mehr notwendig, eher ein Luxus. Das rostige Mittelalter wird in seinem trägen Behagen bestärkt, es bleibt alles im Alten, und Ihr Opus wollte doch gerade alles aus dem Alten heraus ins schöne Neue stürmen.«

Ihr Opus! Wieder zeigte der Redaktor irgendwohin, und wieder sah Johannes dort nichts als Tische, beladen mit schweren Stößen Drucksachen.

»Ach, ich habe mich reichlich überzeugt,« sagte Johannes mit einem schmerzlichen Lächeln, »daß ich dieser Stürmer doch nicht sein kann. Ich bin zu schwach . . . zu dumm, zu klein . . . zu . . .«

»Sie? Um Gottes willen, reden Sie nicht so! Gerade Sie sind der rechte Mann!« brauste Tann auf. »Das ist nichts anderes als Feigheit, was Sie da anfechtet . . . oder die zwanzig Pfäfflein haben Sie . . .«

»Bitte!« widersprach Johannes und reckte sich hoch und streng auf.

»Verzeihung, das Wort hat ja einen guten mittelalterlichen Klang. Aber gewiß haben die hochwürdigen Herren Kollegen . . .«

»Kein Mensch hat mir eine Silbe in dieser Sache eingeredet. Aber da innen hat es geredet. Gott allein weiß, was ich durchgemacht habe, bis ich so hell geworden bin, die letzten vierundzwanzig Stunden! Mein Gott . . . aber nun seh' ich. Herr Redakteur, rühmen Sie, wie Sie wollen, aber ich bin auf dem falschen Weg oder, wenn es nicht ganz der falsche Weg wäre, so bin ich wenigstens der falsche Führer auf diesem gefährlichen Weg. Das weiß ich jetzt. Schwer habe ich diese Erkenntnis gewonnen, aber nun halte ich sie fest. Und darum: geben Sie mir das Manuskript heraus! Sogleich! Ich will es mit mir heimnehmen, vorher hab' ich weder Ruhe, noch Segen. Also!«

Johannes sank nach dieser Anstrengung in den Stuhl. Und so müde und elend versank er darin, daß Laus Tann nicht mehr an der Veränderung dieses Mannes und an seinem blutigen Ernst zweifeln konnte.

Es klopfte wieder und diesmal ging gleich auch die Türe auf. Das kleine schmutzige Engelchen erschien mit kauendem Mund und Augen wie satten, ruhigen Sternen. Und hinter ihm drängte sich ein langer, knochiger, grauer Mann mit einem klapperigen Stecken an die Schwelle, nicht viel anders, als wie man den Tod auf alten Holzschnitten dargestellt sieht.

»Wußte wohl, daß Sie da stecken,« lachte er höhnisch, »und jetzt reden wir aus, sind noch zwei ganze Tag' bis zum Ersten! Also!«

Nun erst erkannte der Bauer den Ehrenprediger hinter dem Rücken des Redakteurs. Sofort zog er ehrerbietig den Filz ab, so daß ein völlig kahler Schädel braun und rot hervorglänzte. – »Aha, nichts für ungut, Hochwürdiger. Ich sah Sie gar nicht . . . aber ich warte da draußen . . . nichts für ungut.« – Und er schloß die Türe sehr artig. Engelchen und Knochenmann verschwanden.

Laus Tann war erbleicht und rang nach Worten. Nun stand er vor den Kaplan hin, ergriff seine beiden dünnen Hände innig und sagte, indem er alle Herbheit und allen Trotz fahren ließ, mit einer wahrhaft verzweifelten Stimme: »Um meiner Familie willen, Herr Kaplan, lassen Sie mich jetzt nicht im Stich! Sehen Sie, der Weibelbauer da draußen will Geld. Der kann mich jeden Augenblick aus der Druckerei und aus der Wohnung werfen . . . Mein Geschäft hat viel Geld gekostet, meine Kinder kosten täglich auch viel, und meine schöne, liebe, liebe Frau kostet . . . ach! . . .« er hielt die Hände vors Gesicht und kehrte sich ab, um nicht sagen zu müssen, daß sie ihn am meisten, sein ganzes Herz, aber auch sein ganzes Einkommen koste.

»Mit Ihrem Opus,« begann er wieder ruhiger, »mache ich Geld, zwei-, dreitausend Franken ganz sicher. Soviel kenne ich mich im Lesertum und im Buchhandel schon aus. Nun also, lassen Sie mir diese Rettung! Lassen Sie mir das Geld! Es steht ja nichts Böses in der Broschüre, kein Sätzlein gegen den Glauben oder die zehn Gebote und gar keine Respektlosigkeit. Und Sie wollten damit doch nur Gutes. Und irrte sich einmal eine Zeile, weil alles, was wir tun, ja doch menschlich ist, so nehme ich alle Schuld auf mich. Ich will das Opus mit meinem Namen zeichnen, ich will im Vorwort schreiben, daß den Autor das Geschriebene reut, daß er es nicht über sein ängstliches Gewissen brachte, die hingeworfenen Gedanken zu veröffentlichen; aber daß ich das Manuskript schon besaß, daß ich es mit der bekannten findigen Verschmitztheit aller Verleger eroberte, ja wohl, daß ich es schier einen Raub nennen müßte . . . aber einen frommen Raub. Daß ich daher auf die Veröffentlichung niemals verzichten würde und alle Verantwortlichkeit des Druckes auf mich nehme.« – Das wird, dachte Laus rasch und heimlich, mit der unverbesserlichen Bosheit seines Berufes erst noch eine interessante Reklame des Opus sein. – – »Und so verhält es sich ja auch! Ohne Lüge. Ich habe Ihr Wort: ›Drucken Sie mutig, was Ihnen davon behagt.‹ Und darin liegt auch die Veröffentlichung zu passender Zeit eingeschlossen. Ich kann aber nicht warten, bis Ihnen just ein Tag paßt. Keiner wird Ihnen passen. Das seh' ich mit Schrecken. Darum muß eben ich einen passenden Tag bestimmen. Und ich nehme den ersten August, wo wir in der Stadt großen Markt haben und wo unser liebes Vaterland seinen patriotischen Geburts . . .«

Johannes machte einen verzweifelten Gestus der Abwehr.

»Doch, doch, Herr Kaplan, der erste August! Kein Datum ist schöner. Am Abend zündet man in der ganzen lieben Schweiz Freiheitsfeuer an. Bundesfeuer. Man denkt an den Wiegentag der Heimat. Und in Ihrem Opus schaukelt auch so eine Wiege der Freiheit auf und nieder und schaukelt uns mit ein paar gewaltigen Stößen den schönen, neuen, modernen katholischen Reformjüngling heraus. Wie? Ist das nicht prachtvoll? Sehen Sie hier . . . hier!«

Laus Tann führte den siebenfach bedrängten Geistlichen an einen langen Tisch. Da lag turmhoch immer die gleiche Broschüre. Der Redakteur hielt Johannes eine vors Gesicht. Da stand es mit wunderbar großen, tintenschwarzen Buchstaben gedruckt: »Im geistlichen Frack durchs weltliche Land.«

Tann öffnete vor dem verblüfften Autor so ein Werklein. Wie herb, aber großartig es daraus roch! Er zeigte ihm die schlanken Kapitelstitel. Er wies auf die Vöglein, die ab und zu einen Abschnitt mit weitgeschwungenen Flügeln als sinnreiche Vignette beschlossen. Es war wundervoll anzuschauen, wie diese seine erste Arbeit da ein wahrhaftes, ordentlich dickes Büchlein mit ungeheuer wichtigen Mienen geworden war. Nur die steifen Deckel aus wolligem Büttenpapier fehlten noch.

»Daran ist nun Tag und Nacht gedruckt worden. Zehntausend Exemplare! Heute nacht noch beginnen wir einen schönen, grünen Einband umzuheften. In drei Tagen sehen Sie in der Stadt schon aus jedem Laden das grüne Geschöpfchen gucken. So ein gutes, liebes, schönes Werk, ja, Ihre Seele ist's. Töten Sie sie nicht, seien Sie kein Selbstmörder!«

Durch Johannes fuhren Stolz und Entsetzen in einem Schwung. Aber das Entsetzen war mächtiger. Äußerlich glänzte die Sache wohl, ja, ja, aber innen! innen! – Nein, das war nicht mehr seine Seele, gottlob nein! – Was sollte, um Gottes willen, was sollte er da sagen?

»Übergeben Sie es mir also. Das heißt, es ist mir schon überlassen! Aber sagen Sie doch nur noch ein Ja! Es nützt ja nichts mehr, nein zu sagen. Nicken Sie ein wenig mit Ihrem lieben, bleichen Johanneskopf! Ich entlaste Sie von aller Schuld. Ich gebe es Ihnen schriftlich, daß Sie keinen Anteil am Druck haben.«

Er lief ans Pult, fuhr mit scharfen, hastigen Federzügen über ein Papier und stempelte es. – Da klopfte es schon wieder an die Türe. Und sogleich öffnete Isabellchen, immer noch kauend: »Schon wieder zwei Männer . . . wollen mit dir reden, Vater . . . mögen nicht warten . . . komm doch . . . ich bleib' beim Kaplan, gelt . . .« Sie lächelte engelsüß.

»Ich komme, ich komme ja, . . . in einer Minute!« schrie der Redakteur heisrig und schmetterte die Türe vor den zwei schönen, schwarzen Äuglein grimmig zu.

»Sie sind mein Retter! Herr Kaplan! Da lesen Sie! Stimmt es so? Ist der Herr Quidam jetzt beruhigt? Nehmen Sie das Papier schnell! Mehr erlangen Sie von mir nicht! Ein Mensch vor dem Ruin hat den Mut der Verzweiflung. Reizen Sie mich nicht!«

»Gott, lieber Gott!« würgte Johannes hervor, seinen Kopf mit beiden Händen festhaltend, als wollte er ihm davonfliegen.

»Vater, so komm doch!« rief das Kind wieder herein. »Sie laufen durch alle Zimmer, die Männer, Vater! . . .« Angst malte sich jetzt deutlich im Gesichtlein der Kleinen ab.

Jetzt riß Laus Tann das schmutzige Engelchen herein und warf es sozusagen dem Kaplan in die Arme. »Sie haben Kinder so lieb! Schauen Sie das an! Und solche habe ich noch sechse! Bellchen, hol' mir den Seppli und den Eu . . .«

»Nein, nein, nein!« wehrte Johannes fassungslos. – »Bleib, lieb' Kind! . . .«

»Wollen Sie mir diese Kinder auf die Straße schmeißen, eins ums andere? Bellchen, komm her! Liebes du! Sag' du dem Kaplan, er soll mit dem Vater gut sein! Soll Vater nicht arm machen. Soll mich lieb haben! Du müssest viel Hunger leiden und der Seppli und der Eugen und das kleine Berthelchen . . .«

»Und der Fritzli!« fügte des Mädlein mit den offenen, süßen Engelchenaugen hinzu, »der Fritzli am meisten!« Vertraulich faßte es den Kaplan an der Hand.

»Gib ihm ein Kußhändlein, liebes Ding! Schau, er ist doch ein guter! Er muß dein Firmgötti werden, das muß er!«

Hurtig wischte das himmlische Geschöpfchen die rechte Hand am Rock ab, küßte sie schallend und schlug sie gewaltig in die magere, feuchte des Priesters. »Götti?« fragte es lustig.

»So nehmt das Zeug, nehmt es, es gehört Euch! . . . Und zahlt in Gottes Namen die Männer da draußen! . . . Ja, ich will dein Firmgötti sein, Kind! . . . Lebt wohl!« schrie Johannes unverständlich. Seine Augen glänzten in unbeschreiblicher Not. Er lief ohne Gruß hinaus und atmete erst unterhalb Peraut in der kühlen Luft des Flusses wieder ordentlich auf.


 << zurück weiter >>