Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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20

Johannes Keng stocherte sich durchs Gartenpförtlein und den dunkeln, mit allerhand Feldgerät verlegten Gang zur Treppe. Da ward es heller. Er klopfte lustig an der fast schwarzen, verbogenen Stubentüre und öffnete auf das weinerlich greise Herein! so weit und fröhlich, als wollte er dem Mann die Welt zeigen. Das hatte der alte Balz nicht nötig. Er lag vorne an der langen Fensterreihe auf einem Sofa ohne Rücken. Da er nicht mehr gehen konnte, war es eine unschätzbare Gunst, daß er hart an der Hauptgasse des Dorfes lag und daß von ihrer hundertbeinigen Kurzweil auch nicht ein Schritt für ihn verloren ging. Er sah alles, die großen und die kleinen Sprünge der Dorfmenschen, und genoß es mit einer gutartigen Genugtuung, wenn eine ansehnliche und im Fußwerk tüchtige Persönlichkeit ausglitt und alle viere von sich streckte. Das konnte ihm nimmermehr passieren! Daneben freuten ihn die Jünglinge mit ihrem so elastischen Gassenschritt und die hüpfenden Rangen. Und nur, wenn sein Schulkamerad Moritz Gehrig so mühselig durch die Straße herauf hinkte, immer einen Schuh vor den anderen setzend, schimpfte der alte Balz: Wann wirst du wohl so gescheit wie ich und legst dich aufs Kanapee! Die Straße ist nichts mehr für uns zwei.

Sowie nun aber der Geistliche eintrat, kehrte der Greis das Gesicht von der eiteln Gasse nach der Stube und sozusagen nach der frommen Innenseite seines Lebens und fing jedes Wort des Priesters wie eine Goldmünze auf, wog es gleichsam mit beiden Händen und dankte herzlich.

Der Kaplan begann nach einem kurzen Gesprächlein das Krankengebet. Wieder, wie seit langem, aus dem heiligen Stegreif seines betenden und phantasierenden Herzens. Er hatte seine Zuversicht neu gewonnen, und die Freude am fertigen Manuskript, am Verweser, der ihm die halbe Mühe abnahm, und am guten, frischen Sommermorgen ergoß sich in seine Weise. Die Worte wurden prunkvoll und malerisch. Er rief dem Alten das hohe Jerusalem, das nach dieser Stubenniedrigkeit seiner warte, in den Sinn, mit seinen Harfenkonzerten wie rauschenden Wäldern, mit seinem Engelspiel und seiner prachtvollen Kurzweil durch alle ewigen Stuben. Er redete von der Einsicht, die der Selige da oben genieße, hoch über alles Grübeln und Brüten der irdischen Philosophie hinaus. Und dort lebe die Poesie, nicht die geschriebene oder geträumte, nein, die wahrhafte, die von einem Morgen in den andern erlebte. O welch ein Himmel! Nicht der Himmel, von dem es in Goethes Faust ein Schimmerchen gebe, auch . . .

»Herr Kaplan!« bat der Greis leis und mit suchenden, unglücklichen Augen.

»Auch nicht einmal der Himmel, wovon der große Dante im Paradiso an Beatricens . . .«

»Herr Kaplan,« bröckelte der Alte nochmals und nun lauter und unmutiger hervor, »beten Sie mir doch etwas Deutsches vor.«

Johannes stand da wie zu einer Säule erstarrt.

»Was ich verstehe . . . ein Vaterunser.« Und da der Kaplan noch immer stumm und steif stand, schlug der Kranke ein großes Kreuz und begann mit seiner zitterigen Stimme: »Vater unser, der du bist im Himmel . . . der du bist . . .« wiederholte er lockend und einladend . . . »der du bist im Himmel.«

Dem armen Priester ward es blau und grün vor den Augen.

»Der du bist im Himmel . . .« forderte der Mann nochmals dringender, und seine Augen brannten wie eine ganze große Wüste im Durste nach dem einzigen, nahen Oasenbronn brennt.

Das wirkte. Dieser Durst drang dem Kaplan bis an die Seele. Hilflos mit all seinem Pomp, so recht ein Habenichts und fadenscheiniger Prahlhans kam er sich plötzlich neben diesem heiligen, überirdischen Durst des Greises vor. Das Vaterunser, o ja, das Vaterunser konnte hier nur helfen. Demütig faltete er die Hände, und während sich seine Augen leise, leise mit Tränen füllten, betete er das uralte, unwiderstehliche, von Gott selbst erfundene Gebet immer kräftiger vor. Aber bei jedem Gesätzlein wartete er, damit der Kranke die Bitte nachflüstern konnte. Und sieh da, das Antlitz des Alten ward wie ein Feiertag. Erquickung lagerte sich über Mund und Augen. Er saß in der Oase und schöpfte lebendiges Wasser. Vorhin war es nur eine Fata Morgana gewesen.

»Ich danke vielmal!« sagte er und schloß glücklich die Augen.

Dem Kaplan war begegnet, was einem zähen Stubenhocker etwa passiert, der hinter Scheibe und Türriegel in großer Ofenhitze seine Stunden verbrütet und nichts von der erstickenden, verdorbenen Luft merkt, weil er immer da drinnen war und kein Lüftchen von außen einließ. Aber nun tritt ein Freund ins Zimmer und rümpft schon auf der Schwelle die Nase und schreit: »Es ist zum Sterben bei dir. Das hält keine Seele aus!« Und er öffnet schnell ein Fenster, und da dringt die Gesundheit und Frische der Natur herein. Und nun merkt der Pedant da innen entsetzt, in welchem Moder er saß, und er reißt auch noch die anderen Fenster auf, eins ums andere, und es graust ihm vor dem letzten Restlein Stickluft mehr als selbst dem frischatmigen Besucher.

Mit jener einzigen Bitte hatte der Kranke ein Loch in den dumpfen Hochmut seines Kopfes geschlagen. Der Schöpferhauch des Vaterunser drang ein und fegte die verhockten und erstickten Winkel alle aus. Und nun erst merkte Johannes, in welch eitlem Dunst er gelebt hatte. Auf einmal erkannte er, daß sein Beten mehr Rauch als Feuer gewesen war. Es hatte geflackert statt geleuchtet, Rhetorik statt Innerlichkeit geboten. Wie konnte er das nur bis zu dieser Minute übersehen? War er denn immer so benebelten Geistes und mußte sich irgendwo fast den Schädel einrennen, ehe er hell und nüchtern sah! Haufenweise fluteten jetzt die Bilder und Phrasen aus seinem bisherigen, selbsterfundenen Beten über ihn, und er konnte es fast nicht glauben, daß er so überspannte Sachen gesagt hatte. Neben diesem einfachen, wahrhaft großartigen Vaterunser schien ihm jetzt all sein Beten am Bett der Kranken eine öde Flunkerei. Er übertrieb da wieder. Denn er hatte doch auch manchen schönen und guten Gedanken mitten in den vielen Phantastereien vorgebracht. Aber das hätte er jetzt um keinen Preis zugegeben. Alles galt ihm als Schwefelei. Und er, er hatte gegen die ehrwürdige Letzt End'-Litanei gewettert, du lieber Gott! – noch mehr, er, gerade er, wollte ein Reformgebetbuch schreiben! – – Niemals, niemals!

Es läutete von der Kirche mit dem kleinen Glöcklein zur Wandlung. Der Kaplan kniete auf den Boden und betete so zerknirscht, wie einst bei der ersten Beichte als inniges, seelenbetrübtes Schulbüblein: O Jesus, sei mir gnädig! O Jesus, sei mir barmherzig! O Jesus, verzeih mir meine Sünden, Amen. Besonders, fügte er im Stillen bei, verzeih mir, daß ich soviel gedichtet und gefabelt habe, was doch ein einziges Vaterunser schon sagt und tausendmal besser sagt.

Er segnete den Greis und gab ihm zum Abschied die Hand in einer so weichen, bittenden Art, als wollte er bei ihm um Vergebung anhalten.

Dann lief er nach Hause, und das gesättigte Gesicht des Krummbauern begleitete ihn wie eine schöne Genugtuung bis ins Studierzimmer. Gleich steckte er sich den Pastor Fidelis in die Rocktasche und riß dann das Manuskript aus der Lade. Wo stand denn das Unglück? – Ah, Seite 65 begann es: »Wie man mit dem Munde unserer Zeit beten soll!« Ist denn das nicht wahr? O ja, es hat einen Sinn. Aber der lag mir fern und den liest auch niemand heraus, weil es so verfänglich, so spitzbübisch gesagt ist! Und so hab' ich's gemeint. Nein, nein, weg damit! Es ist ein verrücktes Reden. »Mit dem Munde unserer Zeit?« Vater unser, der du bist im Himmel, das paßt in den Mund eines jeden Tages und eines jeden Jahrtausends. Und wenn es Menschen im Mond und in hundert anderen Sternen gibt, sie alle können es beten. Gott ist immer der gleiche Gott, und das Menschenherz ist immer das gleiche suchende, hungernde, da wird auch das Gebet vom einen zum andern am besten das alte bleiben.

Das ganze Kapitel ward kurz und klein zerrissen und ins Küchenfeuer geworfen.

»Das will ich der Therese schreiben. Der hochwürdige Herr Kaplan zerreißt seine großen Papierbogen!« dachte Ottilie am Herd. Die Kollegin hatte sie vor der Abreise auf diese geheimnisvollen und gefährlichen Papiere aufmerksam gemacht. Gegen die sollte sie fechten wie gegen die Motten oder die Raupen im Garten. Aber die sanfte Ottilie wagte an nichts Unrechtes bei einem geistlichen Herrn zu denken. Dennoch, die tausend Fetzlein, in einem lachenden Feuer aufgehend und zusammenfallend, vergnügten sie der guten überbesorgten Therese wegen. Sähe sie's doch!

Nein, ein Gebetbuch werde ich nie schreiben, wiederholte sich Johannes im Angesicht dieses kleinen Autodafé. Das Vaterunser genügt mir vollkommen und was wir an Gebeten von seinem Geiste haben. Und auch mein übriges Manuskript bedarf einer genauen Sichtung. Wer weiß, ob es nicht noch an einer ähnlichen Teufelei krankt! – Mit der Miene eines sehr strengen Inquisitors trat er von der Asche zurück. Dann fragte er Ottilien:

»Ist der hochwürdige Herr Verweser noch immer in der Kirche? Der liest die heilige Messe so langsam wie ein Primiziant. Und sicher auch so fromm! Stellen Sie den Kaffee nur auf. Ich will den Herrn holen.«

Er ging in die Kirche hinüber. Ministrant und Meßmer waren weg, der Altar abgeräumt, der Chorstuhl leer. Ah, da unten im Schiff kniete sich der ältliche Herr gerade von der vierten zur fünften Station hinüber: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen! Wie er den Kaplan im Chor bemerkt, nickt er höflich und schlägt ein sehr langsames Kreuz. Mit einem Blick, der sagen soll: Auf Wiedersehen! verabschiedet er sich von der Station und geht dem Kaplan entgegen. »Entschuldigen Sie, es ist Freitag, und ich habe den Kreuzweg noch nicht verrichten können. Aber nun komm' ich, ich kann später . . .«

Der Kaplan wollte gern warten.

»Nein, durchaus nicht. Ich kann am Nachmittag weiterfahren.«

»Aber können Sie denn vor diesen Bildern beten?« fragte Johannes mit einem kleinen Ton von Spott und schenkte dem Gast Milch ein – er will keinen Kaffee –, »sie stammen vom gleichen Maler, der den heiligen Gallus verherrlicht. Ihr Kunstgefühl . . .«

»Sst! sst! Sie lieber Necker!« lächelte der Verweser und schüttelte seine dichten Silberkrausen munter zurück, »ich muß recht ungeschickt gewesen sein, nicht wahr? und habe Sie gar geärgert? Sehen Sie, ich bin lange Zeit Professor der Ästhetik am Lyzeum unserer Residenz gewesen und habe auch in jungen Stümperjahren in München gemalt, bevor ich die Soutane nahm. Es ist unglaublich, wie einem Alten solche Schwächen nachgehen und man sich erst noch recht mächtig viel darauf zugute tut!«

Dem Kaplan entfuhr ein Ausruf der Bewunderung. Professor der Ästhetik! Einst Kunstschüler an der Isar! Ah!

»Und da hat nun eben wieder einmal der alte, giftige Professor in mir austoben müssen, weil er nicht sein Geschmäcklein fand. Fein und innerlich und reich sind ja diese Fresken wirklich nicht gemalt. Ich meinerseits möchte lieber leere Kalkwände. Aber dabei vergesse ich die schöne Einfalt des Volkes. Und ich vergesse sogar, daß ich Priester bin und erst lange hernach Professor der Ästhetik, – dies letztere befugterweise eigentlich gar nicht mehr, bin ich doch längst abgedankt! – Aber Alter schützt vor Torheit nicht. Man muß dann nur beten, so sieht man seine Dummheit gleich ein. Sie, lieber Herr, können gewiß vor den unglimpflichsten und rohesten Stationenbildern prächtig beten!«

Der Kaplan sagte nicht ja und nicht nein. Aber es schmerzte ihn wahrhaft, daß er einem so lieben Manne nicht den feiertäglichen Kelch aufgerüstet hatte.


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