Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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Welch eine langsame Uhr haben die Dörfer hoch oben in ihren müden, grauen Kirchtürmen! Von einer verblichenen Goldziffer zur andern müht sich die Stunde mit grob genagelten Schuhen, schwerem Knie und einer Bürde Hackholz oder Heu auf ihrem gebogenen Bauernrücken. In den Stadthäusern tänzeln die Zeiger nur so dahin. Aber hier sind es zwei alte, behäbige, ehrwürdige Arbeiter, und wenn sie im Aufstehen der Sonne ihren Kreis beginnen, so blicken sie sehr ernst auf das große, runde, blaue Feld mit seinen zwölf Stationen, und der große Zeiger sagt zum kleinen: fangen wir an, Väterchen, aber nicht zu schnell, nicht zu schnell, es ist ein schweres Stück!

Zwischen solchen langsamen, gleichmäßigen Zeigerrunden liegen die Tage und Jahre des Dorfes Lachweiler. Draußen in der sogenannten Welt verkracht eine Regierung oder entlodert und verloht ein Krieg oder lärmt ein Genie oder funkelt eine Erfindung durch die siebzigtausend Herrenstuben des Erdhauses oder ist in Berlin ein nagelneuer, schwerer Dichter aufgestanden, der einen dicken Poetenschatten bis ins Meer hinaus wirft: hier im grünen, kleinen Hinterstübchen der Menschheit merkt man nicht mehr davon, als daß im Samstagblättchen ein Zeigefinger vor der Depesche mit ihren dreizehn Druckfehlern steht. Aber auch die Botschaft, daß in Benzlau schon die Maikäfer schwärmen, bekommt eine zeigende Hand vorgesetzt, und daß in drei Wochen die Imker der Umgebung in Lachweiler einen Vortrag zum Schutz des echten, gelben Bienenwachses halten lassen, wird sogar mit zwei breiten Händen notiert. Und zwischen Maikäfer und Wabe ist vielleicht der deutsche Reichstag nach stürmischer Sitzung aufgelöst, ist der Zar mit einer Bombe in die Luft gesprengt worden, haben sie in Amerika die Anden genau unter dem Tschimborossa durchbohrt und ist ein italienischer Herzog nun endlich einmal auf die oberste Zinne der Welt geklettert, einen wüsten, wilden Berg in Asien! . . . Aber, du lieber Gott, was will das bedeuten gegen die Heiserkeit des Wendel Fehr, der am Sonntag zu Ehren des Kaplans Johannes als einziger Dorftenor die Einlage im Offertorium singen sollte und nun nicht wird singen können? oder gegen den Aufschlag des Halmstrohs um anderthalb Rappen das Kilo für die Lachweiler Hütlerinnen? oder gegen eine Frostnacht am Pankrazitag über die knospenden Birnbäume der Gemeinde? Wenn der Liter Most auf fünfunddreißig statt auf fünfundzwanzig Rappen kommt, oha, das ist ein Dorfunglück! Das bedeutet weniger Geld, kleinere Gläser, mehr Durst und verdrießlichere Feierabende, weniger Lieder und Lachen und Sonne dahinten im einsamen Leben. Das ganze Volk leidet. Man kann einen neuen Zar oder Sultan machen von einer Woche zur andern. Aber einen neuen Most? . . . Sapperlot, da muß sogar der Kaiser in Wien sich wieder ein volles Jahr gedulden.

Die Männer von Lachweiler haben ein wenig Vieh, ein wenig Wiese, ein wenig Wald zu besorgen. Davon leben sie. Daneben weben ihrer viele in den tiefen, feuchten Webkellern ein dickes, schweres, unzerreißbares Zwilchtuch. Man bekommt das in keinem Laden der Welt. Es ist aus Berghanf und Wolle eigenhändig zu Garn gesponnen, dann in einem scharfen Wasser aus grünen Nußschalen dunkel gefärbt, dann auf den Webbaum gezogen und mit dem Handschifflein und seinem festen Einschlag kreuz und quer gewoben. Alle Buben von Lachweiler tragen dieses schwarzhaarige Tuch, am Sitzbrett doppelt aufgelegt, und alle Mädchen haben solche Jacken, an den Ellbogen zweifach gefüttert. Aber auch die Nachbarschaft kauft davon gern, besonders die Bergler, die ob dem Wildberg gegen die eigentlichen Alpen hinein ihre Sitze haben und für ihr felsiges Leben nicht bloß eine dicke Haut, sondern auch ein dickes Gewändlein brauchen.

Viele Frauen und Jungfern hüteln neben ihrer Hausarbeit. Wenn sie sechs oder sieben Stunden fleißig am Halm knüpfen, bringen sie wohl zwei einfache Strohhüte fertig, das Stück zu fünfunddreißig Rappen. Doch müssen sie gehörig zappeln. Aber es gibt Hexen, die drei und dreiundeinenhalben Hut nesteln. Man respektiert sie hoch im Dorf. Freilich sind es dann kurzsichtige, bleiche, nach und nach ganz verhöckerte Stubenjungfern, die man beim Heuen nicht mehr gut brauchen kann.

Recht arme Leute gibt es nicht viele in der Gemeinde und ganz reiche auch nur den Walomerbauer, den Hütlermeister Imbrig und den Kronenwirt. Das große Volk lebt zwischen wenig und viel in einer gesunden, arbeitsamen Mitte. Nur die bronzehaarigen, krausen, blauäugigen Burschen vom Bergweiler Hasli machen zuweilen einen Sprung darüber hinaus, vielleicht ein wenig nach unten oder seltener und dann recht hochmütig nach oben.

Kaplan Johannes nistete sich da prächtig ein und trug auch bald den landesüblichen Zwilch. So neu ihm diese karge, genügsame Art von Menschen mit ihrem stillen, gescheiten, nach innen gekehrten Verstandeslichtchen war, so lieb wurden sie ihm doch auch gleich. Denn er spürte das Wertvolle in ihnen mit seiner psychologischen Feinschmeckernase heraus, wie man ein gutes Obst von weitem riecht, wenn man den trächtigen Baum noch nicht einmal genau sieht, geschweige denn genießt. Schon die Ministranten kamen so sauber in die Sakristei. Sie rissen sich dann freilich auch etwas an Haar und Ohr, aber doch erst nach dem Altardienst und womöglich außerhalb der geweihten Erde. Und der Sigrist erwies sich als ein pünktlicher, frommer Mann, den die gefährliche Nähe des Heiligen nicht etwa wie so viele Kollegen kälter, sondern inniger machte. Bei seiner ersten Predigt sah Johannes niemand schlafen. Alle hafteten mit aufgeschlitzten und hocherhobenen Augen am Gesimse, auf das er seine Hände während des Redens legte, da er des rhetorischen Gestus unfähig war. Sogar der Bäckergeselle des Kronenwirts, der unverbesserlich einnickte, sowie der Pfarrer »Geliebte in Christus dem Herrn!« gesagt hatte, horchte großäugig bis zum Amen zu. Das Amt wurde trefflich gesungen, obwohl der Tenor heiser war, und die Kinder machten beim Hinausgehen eine rührend schöne Verbeugung vor dem Hochaltar. Ja, es war eine wohlerzogene Kirchgemeinde. Schon beim ersten Unterricht der fünf untern Klassen merkte der Kaplan den nachdenklichen und dann schlagfertigen Antworten an, daß die Theologie hier einen famosen Laienboden gefunden habe.

Mit Arbeit war Johannes nicht übermäßig geplagt. Die Schulmesse um sieben Uhr, am Sonntag das Amt und einmal im Monat die Predigt, fünf Stunden Unterricht und am Samstag Beichthören, dann etwa Krankenbesuche oder selten einmal in der Morgenfrühe ein Versehgang, das war alles. Zum Lesen und Studieren und zu den Bucolica spiritualia blieb ihm Zeit in Fülle.

Die Kaplanei war ein altes, krachendes, romantisches Giebelhaus. Die erste Nacht kam Johannes nicht zum Schlafen, so königlich fühlte er sich in seinem Besitz. Zum erstenmal im eigenen und alleinigen Haus! In wie vielen Häusern hatte er als Student geschlafen, abhängig von der launenhaften Philisterei, von schreienden Kindern, schnarchenden Nachbarn und musizierenden Katzen! Jetzt hatte er ein ganz eigenes Haus, hatte sich darin um niemand zu scheren, durfte noch um die Geisterstunde seine Flöte blasen oder einen Kaffee nehmen, kurz er besaß eine souveräne Residenz. So mochte ein alter Ritter in seiner Felsenburg oder ein König in seinem Schloß sich noch im Bette mächtig fühlen, wie jetzt Kaplan Johannes. Er war wirklich müde, aber einschlummern konnte er doch nicht. Nein, er mußte aufstehen, in die Hosen schlüpfen und so recht besitzfroh und genußsüchtig von Zimmer zu Zimmer durch das totenstille Haus wandeln. Einzelne Kammern standen noch leer. Aber die Stube war schon hübsch mit einem Schrank, einem runden Tisch, einer Kommode und einem dünnbeinigen Pültchen, sowie mit zwei steifen Teppichen und drei Wandbildern ausstaffiert. Sie hatte eine sehr niedrige Diele und sechs kleine Schiebefensterchen, eins neben dem andern. Ein Spalierbirnbaum spann sein Laub darein. Der Boden krachte bei jedem Schritt. Fast bis in die Mitte wälzte sich wie ein Meerungeheuer der uralte grüne Kachelofen vor, mit drei Türchen und dem unvertreibbaren Geruch gedörrten Obstes. Neben dieser traulichen Stube lag links das Schlafzimmer des Kaplans mit dem Büchergestell und Studiertisch neben der Waschkommode, die mit ihrer weißgeäderten Holzbemalung sich als Marmormöbel ausgab. Rechts von der Stube war die kleine Küche mit gebretteltem Getäfel. Theresens Petrol-Apparat glänzte da auf einem hübschen Postament. Dann gab es noch ein winziges Stüblein mit einem Tisch und drei Stühlen. Es sah in den Garten und ward Speisesalon getauft. Von hier konnte man durch eine grobe Stalltüre in den Holzschopf und zu den Hühnern hinuntersteigen oder in die obern Kammern klettern, wo Therese ihre Stube hatte und später, wenn der erste Quartalzapfen etwas übrig ließe, ein Gastzimmerchen eingerichtet werden sollte. Vor allen Fenstern rauschte es märchenhaft, hier ein Brunnen, dort das Bächlein neben dem Garten, da die großen Obstbäume des Nachbars. Über die Straße ging ein langsamer, schläfriger Schritt. Der Nachtwächter! Die Hügelkuppen glänzten im aufgehenden Mond. Nun fing auch das Gesträuch im Gärtchen an, sich durch alle Blätter geheimnisvoll zu versilbern. Welche Ruhe lebte ringsum! Die Sterne wurden kaum sichtbar vor so heller Nacht. Zwischen Pfarrhof und Kirche schimmerten ein paar Grabsteine schneeweiß aus schwarzen Zypressen hervor. Das Dorf lag unter der Kirche. Man sah nur ein paar im Mondschein gleißende Giebel. Der ganze Himmel war wunderbar still, aber gewiß nicht stiller als diese schöne, ländliche Erde da mit ihren träumenden Baumkronen und ihren erloschenen Stubenfenstern. In den Lüften fuhren doch noch zwei wollige, weißgelbe Wolken wie von Sehnsucht getrieben quer über die goldige Mondscheibe. Hier unten aber ruhte alles, gar alles. Selbst die harten Schuhe des Nachtwächters hörte man nirgends mehr. Er mußte wohl aufs Kronenbänklein abgesessen und eingeschlafen sein. Was nun da noch wehte und spann, war die Stille selbst, die ungeheure, göttliche Schweigsamkeit der Natur.

So ein Nachtwunder hatte Johannes seit den Bubenjahren daheim nicht mehr erlebt. Eine kindliche Poesie begann ihn aus aller Gegenwart zu werfen. Er wußte nicht mehr recht, wer und wo und wie er war. Es lockte ihn, aus dem Hause auf die Vorstiege hinaus zu treten, um dieses Mondscheinmärchen in allen seinen goldblauen Kräften noch inbrünstiger auf sich einwirken zu lassen. Knarrend ging die vergitterte Hauspforte auf, und weit über das Geländer vorgebeugt, mit von Mond und Himmel gefüllten Augen, schwärmte Johannes in diesen Zauber hinaus. Wie von selbst summten seine Lippen irgend etwas Leises und Träumerisches, etwas in Versen, halb wie Sehnen, halb wie Erinnern. Waren es Psalmworte der heiligen Bücher von der Luna und dem Coelum coelorum? War es Gebet? Jedenfalls ging es so leicht und süß von der Zunge, als wären es genau solche Mondstrahlen, wie sie da vom Himmel niedersangen. Zuletzt ging dieses Gesumme nach unberechenbarer Poetenweise in Johannes' Lieblingsverse über:

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz.
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.« –

Ach, er sah in diesem Augenblicke soviel Schönes! Er sah seine kränkliche, junge Mutter ihm das lichtbraune, immer so feuchte Haar aus der Stirne wischen. Wie sanft sie's tat! – Er hörte sie beim Aufflackern der ersten großen Sterne ihm Lieder vorsingen, so weich und leis und tief wie es nur Frauen können, Frauen und Linden und alte, graue, steinerne Dorfbrunnen. Und er horchte auf einen ambrosianischen Choral und sah den gewaltigen Bischof mit Mitra und Stab und allen violetten Domherren unter dem Alleluja der Orgel durch die österlichen Domportale einziehen. Es ging ihm dann wieder die unwiderstehliche Kanzel des großen Chrysostomus und die Lieblichkeit des vielleicht noch größeren Basilius durch den Sinn. Er sah den jungen Helden Athanas auf dem Konzil von Nizäa vor Konstantin, vor purpurnen Märtyrern und vor eitlen Reformern aufstehen, wie ein zündender Blitz aufsteht und eine halbe Welt durchzuckt. Dann wieder dachte er an die warmen Stunden und Umarmungen der Jugendfreundschaft, an seine köstlichen Kollegen, die nun auch ihre erste Nacht im neuen Seelsorgeheim feierten. Und aus all dieser Schwärmerei ging es hinüber ins jetzige Leben, dieses Dorf, diesen prachtvollen Kaplanenberuf. »Leuchten wie da oben der treue, herrliche Wandler den Menschen leuchtet . . . leuchten, vorleuchten! . . . dem noch so verdunkelten Volk ins letzte Herzwinkelchen hineinleuchten und ihm Tag machen und ihm Fröhlichkeit geben, . . . sie machen so düstere Gesichter! . . . und ihm helle Welt auftun, . . . sie schließen sich so eigensinnig ab! . . . und ihm ein Lachen bringen, o so ein mildes, süßes, lindes Lachen wie da oben der gemütvolle Vater Mond . . .«

»Aber um Gottes willen, Herr Kaplan, was treiben Sie denn da unten?« scholl es plötzlich schneidend und grell wie ein Küchenmesser in seine Odenstimmung hinein. »Ist Ihnen unwohl?«

In einer geblumten Nachtjacke und die Haare ins Netz gehängt, sah Therese oben aus ihrem Eckfenster heraus. Furchtbar blitzten ihre Brillengläser den ertappten Sünder an.

Der Kaplan schrumpfte wie ein Ballon zusammen, der sein herrliches Gas verliert, seinen glorreichen Auftrieb in die Sterne.

»Wenn ein sterblicher Mensch Sie so sähe! . . . in Hosen und Nachthemd! Denken Sie doch einmal! . . . Kommen Sie hurtig herein!«

»Aber diese Nacht, Jungfer Therese, merken Sie denn nicht, wie poetisch . . . wie heilig es da ringsum ist! Wie der Mond . . .«

»Der Mond ist eine alte Geschichte, Herr Kaplan! Und Sie müssen morgen um fünf Uhr im Beichtstuhl sitzen! Um fünf Uhr! Nun haben wir da oben,« sie äugte zum mondflimmerigen, stillen Zifferblatt der Turmuhr empor, »bald ein Uhr! Wollen Sie sich krank machen?«

»Fräulein Legli, fühlen Sie denn wirklich gar nichts von dieser Romantik? Redet diese Nacht nicht wie eine Offenbarung . . .«

»Hochwürden, aber ich bitt' Sie! Ich sag' nur: wenn ein Sterbensmensch Sie so sähe . . . denken Sie an das Ärgernis!«

»Ach was!« schimpfte Johannes und ging unlustig ins Haus. »Ich werde doch noch meine Freude am Mond haben dürfen!«

Aber oben am Jungfernfensterchen klirrten die Scheiben zu und wurden die Vorhänge klosterdicht vorgeschoben.

»Ja, ja, ich begreife! So eine weiß nichts von Goethe!« brummte der junge Mann und legte sich auf die Kissen. Ihm war, er fühle das unsichtbare, aber schon deutlichere Schwingen des berühmten Pantoffels über seinem Haupte.


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