Heinrich Federer
Jungfer Therese
Heinrich Federer

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23

Die Gäßlein des Dorfes sehen so unlustig aus in den Ferien! Keine geflickten Hosen, mit beiden Säcken bubenhaft auseinander gespreizt, keine zappeligen Zöpfe, kein Tuscheln, kein Signalpfeifen, kein Ball, keine klobigen Holzschuhe, kein Schreien und sich weidlich Durchprügeln und um einen Pfifferling sich wieder Versöhnen. Nichts von so einer muntern, wilden, jungen Gassenwelt. Die Sträßlein sind stumm, die Häuser öd. Denn was zwei flinke Beine hat, geht für ein paar Wochen in die Berggüter, um von Milch und Butter und Alpenrosen und Schneewasser zu leben.

Nur der strohgelbe, magere Schlingel der Stadlerin, der Ernst, und zwei, drei Gespanen sind unten im Dorf geblieben. Sie haben kein Vieh, nicht einmal eine magere Geiß, und haben kein Berggut, nicht einmal tellergroß. Die Stadler haben überhaupt nur zwei wertvolle Sachen: den frechen, ewigen Hunger des Ernst und die zwei ewig knüpfenden, nimmermüden Hände der Witwe Hütlerin. Soviel und sowenig! Ist das nicht Armut?

Johannes wollte die Stadlerin schon lange einmal besuchen und ihr für das Reisegeschenk danken. Aber erst, wenn er ihr einen Fünfliber geben konnte, so groß und so rund wie der ihre, wagte er sich zu diesem braven Weib.

Nun hatte die Post diesen Fünfliber gebracht. Von Laus! – Johannes war eben daran, die vier fertigen Teile seiner Marthapredigt in einer kurzen, wuchtigen Rekapitulation seinen vielen Zuhörern unvergeßlich auf die Stirne zu schreiben, um dann in einem weiten, glänzenden Periodenbogen das Kanzelwort abzurunden und ein großes Amen zu sagen, als diese prachtvolle Münze ihm mitten ins bethanische Stüblein rollte. Und obwohl er im glücklichsten Redefluß war und ihm die silbenreichsten Adjektiva und triftigsten Verba wie von selbst in die Feder flossen, und obwohl er gerade in diesem Moment Perioden fertigbrachte, die sich vom Hauptsatz in vier, fünf Nebensätze und von da in fünfmal fünf Seitengesätzlein wunderlich wirr verästelten und doch aus allem rhetorischen Laubwerk heraus sich zuletzt immer wieder zu einer majestätischen und kompakten Krone verdichteten: einerlei, er mußte die Feder ablegen und jetzt eine kleine, prosaische Addition vornehmen. Er zählt die Zeilen seines Leitartikels – hundertfünfzehn! Jede fünf Rappen! Das stimmt also nicht. Fünfundsiebzig Rappen fehlen am Honorar. Der Fünfliber ist freilich schön, nagelneu, mit dem laufenden Jahr aus der Berner Münze gesprungen. Aber das hilft nichts. Die fünfundsiebzig Rappen werden nicht geschenkt. Dieser Redakteur scheint also doch ein kleiner Filz zu sein. Das werden wir ihm abgewöhnen! Indessen freuen wir uns an dem, was da ist! – Johannes lächelt mit seinen schwachen grauen Augen wie ein Schelm. Er redet im Pluralis majestaticus von sich. Das tut er immer bei gutem, sich selber ein wenig verspottendem Humor.

Mit ein paar großen Sätzen wird die Predigt vollendet. Dann sucht der Kaplan den dicken Weichselstock, dessen Duft ihn immer an hundert süße Knabendinge erinnert, packt den Taler fest in die Linke und zieht aus. Der Verweser begießt im Pfarrgarten die Dahlienstöcke und lüpft das Samtkäppi hochauf zum Gruß. Richtig, wie Johannes ahnte, treibt sich der junge Stadler mit zwei Kleinen auf der Kirchwiese herum. Sie hüten zusammen des Kronenwirts Kaninchen und essen rote Rüben, die sie bei dieser schönen Gelegenheit halb bekommen, halb gestohlen haben, mitsamt der Erde daran. Sie könnten Kröten essen, es täte diesen Frechlingen nichts.

Ernst soll den Kaplan zur Mutter begleiten. Aber kaum nach drei Schritten, unter dem güldenen Schild des Gasthofs geht das Fensterlein des Herrensäli auf. Schulrat Michel Hos schiebt seinen dicken Kopf heraus, gerade unter der Krone, die seinem dreieckigen Schädel gräßlich anstände, und fragt gemütlich: »Wir halten Schulrat. Wollen Sie nicht für unseren Pfarrer einspringen?«

Das kam ihm wie gerufen. Er entließ Ernst mit dem Geheiß, in einer guten Stunde ihn hier an der Krone abzuholen. Dann schritt er hochgemut die Kronenstiege empor. Diesen verklaubten, geizigen Dorfmagnaten wollte er einmal frisch von der Leber sagen, was der Lachweiler Schule und ihren lieben Kindern not tue.

»Grüße unsern hochwürdigen Herr Kaplan!« sagte im Flur die hagere Wirtin zu einem Jüngling, der wie ein Städter so schmuck gekleidet war und mit blendend blauen Augen sogleich heftig den Geistlichen prüfte. »Jakob ist erst vor einer Stunde in die Ferien gekommen,« entschuldigte die Kronenfrau. »Er hätte Sie morgen nach dem Gottesdienst besucht.« – Der feste, aber geschmeidige Bursche trat auf den Kaplan zu und bot ihm eine schmale, aber sehr harte Hand. Er hatte einen hellen, spöttischen Mund und ein zartes Rot auf den magern Wangen. Das Näschen war schnippisch aufgestülpt, die Brauen fast weiß, und darüber thronte eine gescheitelte, schon leis gefurchte Stirne. Auf dem runden Römerkopf glitzerte das kurzgeschnittene, aber dichte Haar in unzähligen goldenen Flöcklein. Der Jüngling schob sogleich wieder seine Zigarette in den Mund und blies zwischen Rede und Bescheid rasch ein kleines Räuchlein aus dem Stengel, was ihm einen tadelnden Blick der Mutter eintrug. So blühendschön der junge Herr aussah, dem Kaplan gefiel er nicht, wiewohl er nicht recht wußte, warum. Vielleicht machen das die Augen. Sie sind viel zu blau, sie stechen. Indessen unterhielt sich Jakob sehr höflich mit Johannes und gab ihm, wie nur ein gewandter Stadtbengel, auf jede Frage nach Fach und Professor und Liebhaberei eine glatte Antwort. Aber er redete mit einer nachlässigen, leisen Stimme, wie ein müder junger Cäsar. Etwas Gebieterisches lag in seinem ganzen Benehmen.

Der paßt nicht ins Dorf, entschied Johannes rasch für sich und trat in das Herrensäli. Da hörte er hinter sich noch gerade etwas wie Schelte der Mutter und dann ganz deutlich die Erwiderung des Jungen: Er ist ja ein Dichter! Johannes wollte, gelte es, was es wolle, sich umwenden. Aber schon zog ihn der Schreiber Hörig am Ärmel ins Zimmer.

Da saß er nun unter den knorrigen alten Bauern, die im Sonntagskittel vor einem Glas Most hockten und das Erziehungswesen des kleinen Staates Lachweiler besorgten. Es wurde das Protokoll der früheren Sitzung verlesen, woraus Johannes merkte, daß man seit beinahe einem Jahr nicht mehr beisammengesessen war. Stimmt, stimmt! dachte er und zog die Brille ab. Ohne Augengläser kannte er kein Gesicht und wagte darum viel kühner und gefährlicher zu reden.

Nun wurde die Jahresrechnung vorgelesen und ihre beschämend kleinen, geizigen Sümmlein wurden schweigend genehmigt. Es folgte der Bericht des Inspektors über Schule, Lehrer und Osterexamen. Der Schreiber las ihn ab. Oben am Tisch präsidierte Karl Scheiwiler, ein Greis von hartem, spitzigem Verstand und unendlicher Langsamkeit im Reden. Er machte eine so verschlagene Miene, als mochte er heute wieder einmal einen Fuchs schnitzeln.

Den Kaplan wollte es fast nicht auf dem Stuhlbrett sitzen lassen vor Ungeduld, sein mit Blitz und Hagel geladenes Gewitter im letzten Traktandum »Verschiedenes« abzubrennen. Er wollte mit überlegener Beweisführung aufrücken. Mit Gründen und Beweisen war er bis an die Zähne bewaffnet. Längst hatte er sich auf so einen Gerichtstag gerüstet. Schlag auf Schlag konnte er jeden Einspruch niederschmettern. Er fühlte wie Napoleon bei Austerlitz den Sieg schon vor dem Angriff sicher auf der platten Hand. Und er mußte lächeln, weil diese alten, morschen Herren ihn so eigen von oben herab, beinahe lustig oder boshaft betrachteten, als sagten sie: dich haben wir jetzt fein bekommen, junger Mann! Denn dir wollen wir einmal den Meister zeigen. Nun steckst du in der Falle. Du wirst heut dein blaues Wunder erleben.

Ich muß mich mäßigen, dachte Johannes. Der Mächtigere soll immer großmütig sein. Und soll dem Besiegten ein Pförtlein zum Entrinnen offen lassen. Ich werde also mild und schonend sagen: ihr seid nicht allein schuldig, sondern die alte Zeit ist die größere Sünderin, diese graue, alte Zeit, die sich in unsere Täler verhockt und fast nicht mehr austreiben läßt. Ihr seid ihre Kinder. Da begreif' ich gut, daß es euch schwer wird, gegen die eigene Mutter zu ringen. Aber doch muß es gesagt sein: unser Schulhaus gleicht einer Baracke, der Stundenplan ist schimmelig, der Lehrer bekommt einen Hungerlohn, und die lieben, guten Kinder leiden unter allem mehr, als ihr denkt. Seid Helden, überwindet euch und steht zum Fähnlein der neuen Zeit. Die kommenden Geschlechter werden euch dafür segnen! – So etwa, das tönt nicht bös und doch ernst genug!

Beim Examenbericht des – o greulicher Name! – Bezirksschulinspektors schlüpften Lehrer und Schüler so zwischen halbem Lob und halbem Tadel durch. Aber die Bänke wurden urweltliche Möbel genannt, an denen vielleicht Noahs Buben vor oder doch gewiß nach der großen Flut weidlich herumgekerbt hätten. Die Schulstuben seien zu eng, zu niedrig, zu fensterarm, Marterkammern für Lehrer und Junge, die Beheizung geradezu ungesund und polizeiwidrig. Die Unterrichtsmittel seien nirgends so ungenügend und so altväterisch wie in Lachweiler. Von einem Anschauungsunterricht scheine man da noch keine blasse Ahnung zu haben. Die Gehälter der Lehrer spotten aller sozialen Gerechtigkeit. Ein Buchbindergeselle verdiene in einem halben Jahr allein am Kleister mehr als der Lehrer hier durchs ganze, mühsame und doch so hochwichtige Magisterium. Hier müsse unbedingt aufgebessert werden.

Johannes horchte auf. Das gab ihm ja eine famose Einleitung. Er konnte sagen: »Wie Sie von einer Autorität soeben gehört haben . . .«

Nachdem das lange, unwirsche Gutachten durchgenossen war, ohne daß die Schulräte sich im geringsten rührten, da sie es schon so oft im gleichen Stil gehört hatten, etwa wie das Evangelium vom Untergang der Welt und von den Schrecken des Jüngsten Tages, wobei man auch ziemlich der alte, ruhige Sünder bleibt, – hielt der Vizepräsident die Umfrage, ob sich jemand zu dieser alten Geschichte äußern wolle. Alles schwieg oder murmelte halblaut untereinander: Ja, ja, unser Lehrer ist alt, aber eben doch immer noch obenan . . . in der Geographie haben alle Klassen feine Noten . . . eine Drei im Aufsatz ist keineswegs übel . . . hier wachsen ja Bauern, nicht Schriftgelehrte oder Büchleinmacher! Und so viele Fächer! So viele Stunden! Sapperlot, unsere Kinder lernen so mächtig wie die Weisheitskragen in der Stadt! – Und man reckte sich und sog einen langen Zug vom goldgelben Most in seine zufriedene Seele ein.

Der Kaplan beschloß, gleich jetzt mit Wucht einzusetzen. Aber als hätte der alte Fuchs von einem Vizepräsidenten die Gefahr gewittert, fuhr er schnell mit dem Satz voraus: »Meine Herren Schulräte, es sind da ein paar Stellen im Bericht, die vielleicht doch dem einen und anderen das Herz schwer machen könnten. Mir scheint, unser hochwürdiger Herr Kaplan nimmt mir da alle weiteren Erklärungen ab. Ich erteile Hochwürden das Wort.«

Voll Freude, an diesem unheimlichen, langsamen Greis auf dem Vorstandsstühlchen nun noch einen Mitpartner gefunden zu haben, begann der Kaplan seine Anliegen zuerst gelassen, dann immer wärmer und zuletzt mit der Entrüstung eines Anklägers vorzubringen. Dabei glitt ihm wie gewöhnlich der logische Faden aus den Fingern. Er sprach von Lehrern, die an der Lungenschwindsucht in solchen Schulstuben frühzeitig dahinschwänden, von Kindern, die in solcher Luft und Enge bleichsüchtig würden und den Keim zu einem baldigen Siechtum in ihr grünes Pflänzchen legten; er redete vom Überschuß der Bubenkraft, die sich austollen und austoben wolle; wo? – ei, am Reck, am Sprungbrett, am Barren, Seil und Klettergerüst. Er rügte Strafen von mittelalterlicher Schärfe, wie auf Holzscheiter knien, haselbuchene Tatzen auf die weichen Patschhändchen, ja sogar garstige Hosenspanner und Einsperren ins Kellerloch, wo man heizt und wo Ratten den Sträflingen die Schuhriemen abfressen. Er tadelte den Geiz, womit ein so schönes, habliches Dorf gegen seine liebsten und feinsten Geschöpflein, die Schulkinder, wüte. Dann wurde er immer großzügiger und langte aus dem versteckten Bergdorf in die offene, große Weltgeschichte hinaus. Nie hätte es eine Sklaverei und Tyrannei, noch Völkerwanderung, noch Reformation oder Revolution gegeben, und in Rußland und am Bosporus wäre Friede und Macht und Glück, wenn man da immer tüchtige, von einem lebenswarmen Fortschritt gesegnete Schulen gehabt hätte, in deren hübsche, bequeme und glatt gefirnißte Bänke jene alten Barbarenbuben oder die roten Revoluzzer oder die bleichen Herrensöhnlein von Rom und Byzanz hätten hineinsitzen können. Da wäre eine sehr feine Tinte, aber kein Völkerblut geflossen. Da hätte man sich geeint, nicht geschieden. Da blühten die Künste und gediehe die sauberste Kalligraphie. Da würde ein gewisser Ratsherr auf einem gewissen Papier nicht mehr Schule mit einem h schreiben.

Johannes sprach immer lauter und großartiger und so voll pädagogischer Inbrunst, daß sie dem alten Pestalozzi im Grab noch das letzte übrige Knöchelchen erwärmt hätte. Nach dieser Leistung wischte der Redner den Schweiß von der Stirne, blickte um sich und fand weder eine Hochschule gesitteter Ostgoten und Vandalen, noch ein zivilisiertes Rußland vor sich, sondern einige ausgetrunkene Mostgläser, ein Häufchen Wursthäute, etliche Zigarrenstumpen und mehrere sehr kühle, braune, unbewegte Ratsherrengesichter. Da wurde Johannes verlegen. Er fühlte, daß er sich in die bescheidene Wirklichkeit zurückwerfen müsse, und rief mit einer großen seelischen Anstrengung: »Kathri, bringen Sie mir auch ein Schöpplein Most!«

»Meine Herren,« begann nun der Präsident, »das tut mir leid, daß mich der Herr Kaplan nicht verstanden hat. Gerade das Gegenteil meine ich: keine Turngeräte, keine neuen Bänke, keine Änderung . . . die Schule wie sie ist . . .«

Die Schulräte nickten und lächelten. Johannes traute seinen Ohren nicht.

»Erlauben Sie, Herr Kaplan, aber wenn Sie einmal vierzig, fünfzig Jahre bei uns gewesen sind, lachen Sie selber am meisten über Ihre Rede vorhin . . .«

»Herr Präsident,« brauste der Kaplan auf.

»Nur Vizepräsident! . . . Seien Sie nicht böse,« fuhr der Vorsitzende unendlich langsam und lustig weiter, »aber wir Schulräte haben es schon lange im Ohr, daß Sie uns im Dorf als vernagelte, alte Gehirnkästen . . . als . . . als . . . bitte auch, wie denn? . . .« er zog ein kleines Papier aus der Weste und las behäbig, »ja richtig . . . als Leute aus Noahs Arche . . . und als rostige Rumpelkammermenschen . . . verschreien.« Er schob das Fetzchen wieder sorglich in die Weste. »Wir gelten Ihnen als Geizkragen, als Kinderfeinde, ja, man könnte sagen: als Kulturfeinde! Natürlich –« er nahm ein Schlücklein Most, – »natürlich Sie meinen es ja nicht so buchstäblich böse. Aber wir alte Knorze müssen uns nun doch einmal verteidigen. Auch wir meinen es dabei nicht böse. Aber darum wollen wir Sie jetzt doch, so wie Sie uns da frisch ins Garn gerannt sind, hier oben im Stüblein einmal tapfer anpacken. Nichts für ungut! Wenn der Pfarrer da wäre, ging's ja nicht. Der ließe das nicht an Sie kommen. Darum haben wir auf diesen Augenblick wie eine Katze gepaßt. Indem wir uns verteidigen, verteidigen wir freilich auch den Pfarrer. Er denkt haargenau wie wir.«

Dem Kaplan wurde heiß und beängstigend zumute. Die Schlacht von Austerlitz war doch nicht so leicht zu gewinnen. Jedenfalls hatte sich die Taktik geändert. Johannes sah sich aus dem Angriff in die bitterste Defensive gewürgt.

»Sie haben vorhin von lungenkranken Schulmeistern gesprochen. Mit Verlaub, unser Lehrer ist jetzt dreiundvierzig Jahre hier und hat noch nie eine Medizin gebraucht. Im kommenden Weinmonat . . . am . . . am . . .«

»Am sechsten!« kam der Schreiber zu Hilfe.

»Am sechsten oder siebten feiert der Lehrer seinen siebzigsten Geburtstag. Wir werden ihm, unter uns gesagt, Herr Kaplan! fünfhundert Franken in lauter neuen Goldstücken schenken. Die Ottilie im Pfarrhof strickt schon am seidenen Beutel. Feuerrot wird er, und darauf steht in Goldfaden: Aus Liebe! Ist das nicht fein? . . . Dann haben Hochwürden gesagt, das Lokal und die Stühle seien zu eng. Achten Sie einmal, Herr Kaplan, wie wir da sitzen! Sind das bequeme Bänke? Und die in der Kirche? Das sind Marterstühle, die Ratsherrenplätze am allermeisten! Und kaum in einer Stube der ganzen Gemeinde treffen Sie ein Polster. Und unsere Wohnzimmer haben Sie gesehen. Sie sind viermal kleiner als unser engstes Schulzimmer und zehnmal dunkler. Und mein Kollege hier webt seit fünfundvierzig Jahren in einem Keller sein Prachtstuch, und ich schreib' all mein' Sach' auf dem Küchentisch bei einer Kerze, in der Stube jucken mir neun Enkel ins Geschreibe. Ja, ja, lieber Herr Kaplan, da wäre noch viel zu erzählen. Glauben Sie doch ja nicht, die Welt sei gescheiter, wenn sie schönere Stuben und weitere Fenster hat. Bequemer ist sie dann wohl, aber auch fauler!«

Die Schulräte stupsten sich ungeniert und betrachteten unbarmherzig die wechselnde Blässe auf dem Kaplanengesicht. Sie benutzten die Pause, die der Redner eintreten ließ, zum gegenseitigen Anstoßen und Bescheidtun. Auch der Präsident stieß mit dem Geistlichen an und sagte: »Zur Gesundheit, Herr Kaplan . . . aber, Sie trinken ja gar nichts!«

Es ist wahr, das Glas des Herrn Kaplan steht noch randvoll da. Aber er mag nicht trinken. Er fühlt sich wie angeschmiedet an seinen Platz. Die entsetzliche Rede des Präsidenten macht ihn so starr. Die Schlacht von Austerlitz entwickelt sich durchaus zu seinem Verderben.

»Was aber die Sklaverei und die Tyrannei betrifft, die Hochwürden mit einer üblen Schule zusammenhängen, so will ich nur sagen, daß hier in Lachweiler vor hundertfünfzehn Jahren die Befreiung der Untertanenländer gegen die sogenannten gnädigen Herren und Obern begonnen hat.« – Der Vizepräsident reckte sich hoch auf, da er das meldete. – »Und wir sind stolz darauf!« fügte er unter dem Beifall der Kollegen bei. »Der hohe Sandstein im Friedhof, auf dem eine gesprengte Kette abgebildet ist, bezeichnet das Grab unseres Führers. Seitdem gibt es bei uns keine Tyrannen und keine Leibeigenen mehr. Und so hübsch lebt man hier, daß ich von einer Völkerwanderung nichts weiß . . . Sie auch nicht, Herr Gemeindeschreiber . . . Na, Herr Kaplan, ich denke, das haben Sie nur zum Spaß gesagt.«

In diesem heillosen Augenblick hätte der Kaplan alles, auch sein ganzes, berühmtes Manuskript gegeben, wenn er nur nach Art der bedrängten homerischen Helden in eine wohltätige Wolke gehüllt und diesem fatalen Stüblein entrückt worden wäre. Er sah durch die Scheibe den Verweser die Oleanderbüsche im Pfarrgarten begießen. Der Glückliche!

»Vom Überschuß der Kraft dürfen Sie uns schon gar nichts Blaues vormalen. Gehen Sie einmal auf unsere Bergweiden oder gar in die Alpe hinauf. Schauen Sie, wie unsere Jungen den ganzen Tag zwischen Felsen und Tannen klettern und mit den Geißen herumspringen, melken und hirten und Wurzeln graben und Holz fällen . . . zwei Monate lang! Und hernach müssen sie das Obst von unsern dreitausend Apfel-, Birn- und Nußbäumen schütteln, beim Mosten helfen, das Vieh füttern und zweimal im Tag zur Tränke treiben. Und dann kommt der Schnee, und es heißt, das viele Bergholz ins Tal führen, was nichts Leichtes ist. Daneben schlitteln sie bis in die Nacht. Und was sie sonst noch für Häge umrennen und Scheiben einwerfen und Hosen zerreißen, das mögen Sie Vater und Mutter fragen! . . . Überschuß an Kraft! O Herr Kaplan, bei uns können sie ihn reichlich verbrausen lassen . . .«

Man trank wieder einen Schluck und stieß wieder die Gläser an, wohl auf die Jungen, die ihre Kraft so prächtig allhier austoben können. Johannes vermochte keinen Tropfen hinunter zu würgen. Er spähte nach der Türe. »Prosit, Hochwürden,« sagte der Vize mit einem leisen Strich von Mitleid. »Sapristi, daß ich nicht vergesse, Sie sind ja Ehrenprediger auf den Marthatag! Gratuliere, gratuliere! . . . Aber nun wäre noch vom Geiz zu reden. Das ist so: wir hausen und halten zusammen. Jedoch als Anno 1892 das Untertal überschwemmt worden, um Jakobi herum, und alle Glocken durchs Land die große Not geläutet haben, da haben nur wir Lachweiler nicht gebimmelt, aber sind dafür die ersten drunten im Wasser gewesen und haben die zwei ärmsten Dörfer Margis und Margiswil ganz allein mit guter Kuhmilch und Mais und dürrem Obst und mit hundertdreiundvierzig Matratzen versorgt. Bis sie aus dem Elend heraus waren! Seitdem sagt zu uns jeder da unten Vetter Götti! Der Dank der Landesregierung aber steht auf der Kanzlei hinter Glas und Rahmen auf einem dicken Bundespapier zu lesen. Schauen Sie's einmal an, Hochwürden! Und so ist's mit unserer Schule. Eigenlob stinkt, aber jetzt muß ich's halt doch sagen: unsere Schule liefert dem Staat fünfzehn Prozent Rekruten mehr als die Residenz. Schwarz auf weiß kann man es im Kalender nachsehen. Und jetzt haben wir drei Pfarrer und zwei Kapuziner, einen Lehrer im Seminar und einen Ingenieur in Zürich und den besten Brückenbauer weitum und endlich den Herrn Konrad Hofstetter, der ohne Fachstudien die schönsten Reliefs macht, so daß er weit ins Ausland arbeiten muß, die alle sind aus unserem Rumpelkasten und aus unserer Marterkammer hervorgegangen. Und wissen Sie, unser Dorf ist nicht reich und muß auch für die Kirche und die Armenkasse und das Waisenhaus aufkommen. Und da geht noch seit zehn Jahren das Weben so flau und das Hüteln schon ganz übel, so daß unsere Frauen die Brocken in die Mehlsuppe damit nicht einmal verdienen. Im übrigen, wenn wir Lachweiler zu einer Versammlung mit den großen Dörfern des Unterlands und sogar mit den Städtern wegen einem Gesetz oder einer Industrie zusammenkommen, so merken wir Dörfler jedesmal flink, daß wir um kein Haar dümmer sind als die Residenzler. Und ich weiß keine einzige wichtige Versammlung, wo nicht auch ein Lachweiler auf die Tribüne gesprungen ist und so laut geredet hat, daß ihn alle verstanden haben, und so richtig ein Sächlein zerlesen hat, daß alle Respekt gekriegt haben, und so vaterländisch gefaustet und gestampft hat, daß einmal der Bundesrat Welti, der dabei war, sagen mußte: Aus einem Lachweiler könnte man im Notfall zwei Eidgenossen schneiden, und jeder wöge noch immer so viele Pfund und schlüge so mannlich drein, wie irgendein Berner oder Basler oder Zürcher! . . . Das hat ein Bundesrat gesagt, und zu dem könnte ich noch allerlei Gutes legen. Aber, ich denk', es langt auch so . . . Das ist meine Meinung! Und nun nichts für ungut!«

Er streckte seine rote, haarige Hand über den Tisch und schüttelte die schlaffe des jungen Priesters treuherzig.

Damit war die Schlacht von Austerlitz endgültig entschieden, nur hieß der Napoleon hier nicht Johannes Keng, sondern Schulrat Karl Scheiwiler.

Wie Johannes nach so einer Niederlage noch die Überbleibsel seiner Truppen sammelte und mit einem Rest von Würde die Walstatt verließ, das könnte er selbst nicht sagen. Gleich vor der Krone fielen ihm hundert prachtvolle Entgegnungen ein, die er bald offensiv, bald defensiv sehr nützlich gegen den Vorstand hätte äußern können. Aber es war nicht mehr nachzuholen. Im Stüblein war er wie vor den Mund geschlagen gewesen, und das änderten nun die schönsten Einfälle nicht mehr.

Er taumelte das Gäßchen hinunter zur Witwe Stadler. Schreibfehler und üble Bänke sind doch nicht das Schlimmste im Leben, dachte er für sich. Und mit einer gewissen, heimlichen Bosheit wünschte er, Laus Tann, der Großsprecher, wäre statt seiner unter den alten Räten gesessen und hätte die Abfuhr erlitten. Gewiß, auch er hätte im richtigen Moment von all seiner frechen Weisheit keine Silbe hervorzustottern vermocht. Das Kapitel von der Schule bedarf unstreitig einer starken Korrektur.

Aber dieser Vizepräsident ist ein Talent. Das ist er – – und er hat einen verdammt salzigen Humor.


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