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Die Unzuverlässigkeit der »Verbrecherin« war geradezu unglaublich. Immer wieder durfte Tresler auf die unliebsamsten Überraschungen gefaßt sein. Bisher war die Art ihres Durchgehens immer noch bis zum gewissen Grad erträglich gewesen, jetzt aber rannte sie so blindlings drauflos, wie es eigentlich nur mit Dummkoller behaftete Pferde fertigbringen. In solchen Fällen bleibt dem Reiter in der Regel nur eine Möglichkeit übrig: er muß das Tier erschießen, denn es rast unter Umständen in vollster Fahrt gegen eine Mauer, einen Baum oder sonst ein Hindernis.
Bei einer Biegung des Pfades warf sich die Stute Hals über Kopf in den Busch. Dabei geriet sie infolge eines glücklichen Zufalls auf einen alten Rinderwechsel. Alles spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Der Reiter hatte gerade noch Zeit, sich tief auf den Pferdehals zu beugen, da peitschten ihm auch schon die Zweige um die Ohren.
Er wußte, daß es jetzt galt, auf Tod und Leben im Sattel zu bleiben, oder aber sich bei der ersten passenden Gelegenheit zu Boden zu werfen. Ein noch erfahrenerer Reiter würde unzweifelhaft den letzteren Ausweg gewählt haben, aber Tresler zog es vor, durchzuhalten. Vielleicht spielte dabei der Wille eine Rolle, sich von dem rasenden Gaul keine Vorschriften machen zu lassen. Wirklich erwies sich ihm das Schicksal günstig. Wie durch ein Wunder entging er der Gefahr, an irgendeinem Baumstamm zerschmettert zu werden, obwohl seine Knie verschiedentlich in mehr als unsanfte Berührung mit stärkeren Zweigen gerieten. Eine ganze Weile, die Tresler als halbe Ewigkeit vorkam, ging es in irrsinnigem Tempo die fast verwachsene Schneise entlang. Mit der Zeit aber wurde der Weg besser, und schließlich verwandelte er sich in eine breite Allee, über der sich droben der sommerliche Himmel wölbte.
Was war denn das? … Wohin mochte der leidlich gepflegte Weg führen? … Die Antwort blieb nicht lange aus. Über den niedriger werdenden Bäumen tauchten in der Ferne schneebedeckte Gipfel auf. Für den Reiter bedeutete das eine Warnung. Unter allen Umständen mußte er nun seinen Durchgänger zur Vernunft bringen. Rücksichtslos begann er, ihm das Gebiß im Maule hin und her zu zerren.
Vergebens! Der Stute schien solche Mißhandlung gänzlich gleichgültig zu sein, obwohl ihr der Schweiß in sahnigen Flocken von den Flanken wehte. Also weiter!
Das Gelände stieg an. Der lichter werdende Wald gestattete eine bessere Übersicht, und Tresler erkannte, daß der Weg vorderhand ganz gangbar blieb. Weiter vor ihm wurde die Gegend allerdings immer zerklüfteter. Die Stute war einfach nicht müde zu kriegen. Rechts bemerkte Tresler den Fluß, den Mosquito River. Sein Lauf war wesentlich schmaler geworden und wand sich schäumend in steinigem Bett dahin. Nach und nach wurde der Pfad so eng, daß er schließlich nur noch zwischen jähen Felswänden einerseits und dem zum Wildwasser gewordenen Fluß andrerseits verlief. Wie sollte das noch lange gut gehen? …
Über eine Wegkreuzung donnerten die Hufe. Dann plötzlich hörte die Spur auf, und nun ging es über eine fast ebene, spärlich mit Büschen besetzte Fläche. Hart voraus so etwas wie ein Engpaß! … Noch fünfzig Meter! Und dabei schwand die Entfernung mit märchenhafter Schnelligkeit. Nein, kein Engpaß! Es ging senkrecht auf den allerdings sehr verengten Flußlauf zu. Ein Durchparieren kam nicht mehr in Frage. Konnte man springen? … Würde dieser verrückte Gaul das drohende Hindernis überhaupt beachten? … Mit einer gewissen Ergebenheit in das Schicksal sah Tresler dem weiteren Verlauf der sich überstürzenden Ereignisse entgegen. Fest biß er die Zähne zusammen. Zum Glück war das jenseitige Ufer ein wenig niedriger und sandig. Von drunten, aus der Klamm dröhnte das Wasser herauf. Da, noch wenige Schritte davon entfernt, beugte sich Tresler weit im Sattel vor und schrie der Stute mit dem ganzen Aufgebot seiner Stimme ein einziges Wort ins Ohr:
Gleichzeitig bohrte er ihr die schaffen Eisen in die Weichen. Der Erfolg zeigte sich auf der Stelle. Wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil schoß die »Verbrecherin« durch die Luft. Der Reiter glaubte zu fliegen, und er flog ja auch in der Tat. Für den Bruchteil einer Sekunde ward ihm die Vision einer unmittelbar unter ihm gähnenden, schwindelerregenden Tiefe, es brauste und rauschte in seinen Ohren … dann landeten die Vorderhufe irgendwo in weichem Sand, und schon ging es »ta-ta-lump … ta-ta-lump!« im alten Tempo weiter.
Und Tresler lachte schallend auf. Das war ein Streich gewesen, dessen nur dieser verrückte und dennoch unübertreffliche Gaul fähig war! Endlich schien aber sogar die »Verbrecherin« an der wilden Jagd kein Gefallen mehr zu finden. Sie fiel erst in ruhigeren Galopp und dann fast unvermittelt in Schritt. Schließlich blieb sie stehen. Ihre Flanken bebten. Im Nu war Tresler aus dem Sattel.
Erst jetzt vermochte er sich in Ruhe umzusehen. Zunächst einmal guckte er sich kopfschüttelnd den unerhörten Sprung an, den er getan hatte. Im selben Augenblick aber wurde seine Aufmerksamkeit auf eine rohgezimmerte Brücke gelenkt, die etwas weiter aufwärts die Schlucht überspannte. Was sollte denn die hier? Kurzentschlossen nahm er sein Pferd beim Zügel und schritt darauf zu. Dabei stieß er abermals auf einen ausgetretenen Pfad, dem er ohne weiteres folgte. Es ging ziemlich steil bergauf, und die Kletterei fiel weder dem Reiter noch der nunmehr gänzlich ausgepumpten Stute leicht. Plötzlich, jenseits einer Biegung, weitete sich das Gelände zu einer Art kleinen Hochebene, die allerdings kaum fünfzig Meter lang sein mochte. Man genoß von hier aus eine wundervolle Fernsicht. Und zu welchem Zweck war jener verlorene Pfad angelegt worden? Tresler glaubte die Erklärung gefunden zu haben, als er unweit von seinem Stand eine kleine baufällige Hütte entdeckte, die sich an die schroffe Felswand anlehnte. Man hätte sie für die ehemalige Behausung eines Trappers halten können. Welch eine hervorragende Lage! Der einzige Zugang ließ sich mit Leichtigkeit sperren, zumal er auf weite Entfernung im Bereich der Feuerwaffe eines etwaigen Verteidigers lag. Einem ganzen Indianerstamm hätte man hier Trotz bieten können.
Tresler brachte seinen müden Gaul zu der Hütte. Die Tür war verschlossen, ebenso das einzige Fenster. Bei näherem Zusehen stellte es sich heraus, daß sich das Bauwerk in viel besserem Zustand befand, als es zuerst den Anschein erweckt hatte. Sieh da, von der Rückseite führte eine in den Stein gehauene Treppe zur dahinter liegenden Höhe empor. Nun, wer sie benutzte, mußte zum mindesten schwindelfrei sein, denn unmittelbar neben ihrem Anfang ging es über hundert Meter senkrecht in die Tiefe hinunter.
Blieb noch das Innere dieser merkwürdigen Behausung zu erkunden. John Tresler band sein Pferd an einen vorspringenden Pfosten und rüttelte am Türgriff, der fast sofort nachgab. Drinnen blieb es totenstill.
»Halloh …!«
Keine Antwort. Der Besucher trat ein. Zunächst mußten sich seine Augen an das im Innern herrschende Zwielicht gewöhnen, bevor er etwas zu unterscheiden vermochte. Die Wohnung machte einen schmutzigen Eindruck. Die Wände bestanden aus mit Lehm bestrichenem Balkenwerk. Eine große Kiste, die allerlei Haushaltgerät enthielt, diente offenbar als Schrank. Neben dem wackeligen Tisch lagen die Reste zweier Stühle, und die eine Schmalseite wurde von einer aus Brettern gefertigten Lagerstatt eingenommen. Ein bräunlicher Strohsack nebst einer schmutzig roten Decke bildeten den Inhalt.
Es roch, dumpfig im Raum. Von der Nähe eines Bewohners war nichts zu spüren. Vielleicht ließ Tresler das Verlangen, bald wieder nach Hause zurückzukehren, die Untersuchung etwas oberflächlich vornehmen, sonst hätte es ihm nicht entgehen können, daß verschiedene Anzeichen auf noch nicht weit zurückliegende Benutzung hindeuteten.
Er trat wieder ins Freie. Die Stute begrüßte ihn mit einem zufriedenen Schnauben. Ihren Zügel ergreifend, machte er sich an den Abstieg, der sich recht schwierig gestaltete. Drunten am Fuß der Berge angekommen, saß er auf. Die »Verbrecherin« benahm sich lammfromm, als sei sie daran gewöhnt, kleine Kinder spazierenzutragen.
Wären Treslers Gedanken nicht so ganz und gar von den Erinnerungen an die letzten Ereignisse auf der Ranch in Anspruch genommen worden, so hätte er sich vermutlich überlegt, wie die Hütte und wie die Brücke in diesen entlegenen Winkel des Gebirges gekommen sein mochten. Es mußten jedenfalls zahlreiche Hände am Werk gewesen sein.