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Die Sonne senkt sich zu dem inselbesäten Meer hinab. Auf der mageren Wiese, die sich gegen den Strand hinunterzieht, ist kein Grummet gewachsen, und ein regenloser Herbst hat die Hecken versengt. Alle frischen Farben einer Landschaft – helles Grün, kräftiges Rosa, Blau und Lila – scheinen sich einzig und allein auf das Meer und auf den klaren Himmel zurückgezogen zu haben.
Eine wunderbare Müdigkeit hält mich seit dem Mittagessen auf der Terrasse fest. Der Landwind trägt mir den Duft der Wiesen und der Kartoffelfeuer zu. Jean wird bald zurückkommen. Er wird einige erlegte Strandvögel mitbringen, an den weichen Krallen aufgehängt, die zarten toten Hälse baumelnd. Trotz der zerkratzten Ledergamaschen und der oft gewaschenen Leinenjacke wird er wie ein hübscher Sonntagsjäger aussehen. Er wird mir zum Willkomm ein Lächeln schenken und mir dabei einen jener hastigen Blicke zuwerfen, mit denen er an mir und rings um mich etwas sucht, was zu tadeln wäre – zum Beispiel diesen kleinen Kaffeefleck auf meinem weißen Kleid oder diese Herbstzeitlosen, die, heute morgen gepflückt, auf einer Bank verwelken …
… Daß wir seit zwei Monaten wieder miteinander leben, ist ein Wunder, vor dem ich mich beuge, ohne nach Erklärungen zu suchen. Als ich ein Kind war, gab man mir einmal eine Reineclaude, die blau war statt grün, und als ich fragte: »Aber warum ist sie denn blau?«, antwortete man mir: »Das weiß man nicht, es ist ein Wunder …«
Er wollte nicht zu mir zurückkehren, und ich fühlte, wie ich langsam dahinschwand. Ich betrauerte mich schon. Ich sagte mir: »Wie schade! … Manches andere Menschenwesen wäre reif, zugrunde zu gehen … In mir ist noch soviel Kraft; – dieser Körper da, das Gehirn hinter dieser Stirn, all das ist noch gut, all das könnte glücklich und nützlich sein …«
Eines Tages aber verwandelte sich meine Traurigkeit in eine unüberwindliche Lust zu handeln; es war ein Drang, der nichts mit Vernunft zu schaffen hatte: Jean wiedersehen – alles tun, um Jean wiederzusehen –, zu beliebigen Mitteln greifen, jegliche Berechnung aufgeben und nur einen praktischen Plan fassen, der sich sofort ausführen läßt. Der Plan, den ich faßte, war naiv: fingierte Abreise, dann geduldiges Lauern und Rückkehr.
Fast hätte ein Telephonanruf alles verdorben. Als ich wußte, daß er in sein Haus zurückgekehrt war, gab ich der Sehnsucht nach, seine Stimme zu hören. In der Telephonzelle des Hotels hörte ich ihn rufen: »Hallo … nun? Wer ist am Telephon?« Ich schwieg und hielt den Atem an, als hätte mich die geringste Bewegung verraten können. Er muß wohl geahnt haben, daß ich es war, denn der Tonfall seiner Stimme änderte sich. Ich hörte ihn ein wenig leiser fragen: »Hallo, wer ist da, hallo …« dann etwas zögernd: »Ist vielleicht …« und dann hielt er inne. Ich hörte nur mehr das Geräusch eines Hörers, der vorsichtig aufgehängt wird …
Zu Mithelfern hatte ich nicht nur Masseau, sondern auch Victor, den Diener, diesen allerdings nicht ganz unentgeltlich. Ich erwartete Jean eines Abends in seiner Wohnung. An demselben Tage hatte ihm ein Brief von mir, den Brague aufgab, versichert, daß ich nach Le Havre gereist sei und meinen früheren Beruf wieder aufgenommen hätte.
Ich erwartete ihn bei abgedrehtem Licht in unserem Zimmer, das nur von den Gaslampen des Boulevards erhellt war. Ich hörte die Stunden verrinnen, unempfindlich gegen Müdigkeit und Furcht, ja selbst gegen das Bedenken, mich durch meinen romantischen Hinterhalt lächerlich zu machen. Kein Zweifel, wenn ich Jean geschrieben hätte: »Ich muß mit dir sprechen«, so hätte ich ihn am nächsten Tage gesehen, aber das wäre nicht der Jean gewesen, den ich wollte.
Ich wartete und genoß dabei einen bis dahin nie gekannten Frieden, als wäre ich am Ende meines Lebens angelangt. Sitzend wartete ich in der Dunkelheit. Der Duft einer verwelkten Rose in meinem Gürtel stieg durch die regungslose Luft beharrlich bis zu meiner Nase herauf. Ich horchte auf das Rollen jedes Wagens und auf das Geräusch jedes Trittes. Und jedes Mal sagte ich mir in äußerster Ruhe: »Das ist nicht er.« Gegen Mitternacht hörte ich den langsamen Schritt eines gemächlichen Spaziergängers näherkommen, und meine schöne Ruhe verwandelte sich in eine Art Wahnsinn. Fliehen, schreien, hinunterlaufen und die Tür öffnen, mich ganz hoch oben auf dem Boden des Hauses verstecken, das alles wollte ich gleichzeitig. Und doch saß ich, als der langsame Schritt die Treppe heraufkam, immer noch auf demselben Fleck. Wie im Traum fiel mir ein, daß er, das Zimmer ahnungslos betretend, erschrecken könnte, und so sagte ich, ehe er noch die Tür öffnete, ziemlich laut: »Jean!«
Er hatte mich sicher gehört, aber er antwortete nicht. Er trat ein, schloß die Tür hinter sich, drehte das Licht an, und wir standen einander gegenüber, beide die Hand schützend vor den Augen.
»Da bist du also?« fragte er nach einem Augenblick.
»Da bin ich. Ich habe gerufen, damit du nicht zu sehr erstaunt seist, mich hier zu finden.«
»Das ist ja ein Überfall – ein richtiger Überfall.«
Er lachte leise und ich fing an zu verzweifeln, weil er ein so liebenswürdiges Gesicht zeigte, so ungezwungen war wie ein Gast … Er schien mir größer, schöner, aber weniger jung, als ich ihn in Erinnerung hatte. Wenn ich nicht irre, dachte ich auf drei verschiedenen Ebenen – zunächst: er ist da, vor mir. Und dann: vor dem Ende dieser Nacht werde ich mein Schicksal kennen. Und schließlich: seine Stirn zeigt schon zwei Falten. Er ist kein Kind und kein grausamer Jüngling mehr, er ist ein Mann, ist ein Geschöpf meiner Art und meines Alters, es muß doch Mittel geben, sich mit ihm zu verständigen, menschlich mit ihm zu unterhandeln …
Ich lächelte auch und sagte:
»Gewiß! Meine alte Vorliebe für theatralische Situationen hat sich wieder einmal geltend gemacht.«
Ein Schatten senkte sich von seiner Stirn über sein Gesicht herab, der Schatten jenes tierischen Ausdruckes, der einem Wutanfall vorangeht. Doch er beherrschte sich und forderte mich auf, mich zu setzen. Und da er dabei die Hand gegen mich ausstreckte, ergriff ich diese Hand und drückte sie fröhlich:
»Guten Tag, Jean.«
»Guten Tag …«
Ich las Ratlosigkeit auf seinem Gesicht, aber gleichzeitig auch Erleichterung darüber, mich heiter, ohne Tränen, ohne dramatischen Schrei, ohne Drohungen vor sich zu sehen. Meine Aufmerksamkeit war so gespannt auf das gerichtet, was ich zu tun hatte, daß mir schien, als liebte ich ihn kaum mehr. Ich hatte vollkommen aufgehört zu leiden. Er setzte sich und fuhr mit der Hand über die Stirn.
»Du siehst müde aus, Jean.«
»Ja, denk dir, ich arbeite jetzt. Mein Vater wird nie mehr ins Büro gehen können. Ich bin es nicht gewohnt, zu arbeiten, und finde auch keinen Geschmack daran … Ich erledige, was zu erledigen ist, wie eine Schulaufgabe … Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle; das interessiert dich ja nicht …«
Unter dem absichtlich oberflächlichen Ton lag schon, endlich! ein Vorwurf, der Vorwurf, der eine Szene zwischen zwei Liebenden einleitet … Ich verfehlte nicht, zu antworten:
»Doch, es interessiert mich wohl, es interessiert mich wie alles, was dich betrifft.«
Ich hatte meinem Satz zuviel Nachdruck gegeben, er merkte, wohin ich ihn haben wollte, und erwiderte nichts. Auf diese Ungeschicklichkeit folgte eine Viertelstunde der Gemeinplätze, der erzwungenen Liebenswürdigkeiten. Die nächtliche Stunde, das weitgeöffnete Fenster, durch das ein ungewohntes Licht auf einen welken Baum des Boulevards fiel, und besonders unsere Hintergedanken gaben diesem blödsinnigen Dialog zwischen einem Herrn im Frack und einer Dame im Straßenkleid eine tragische Note. Ich ermattete nicht. »Die Würde ist ein männlicher Fehler –«, und Jean ließ als erster Zeichen der Müdigkeit merken. Er gähnte nervös, und weit davon entfernt, mich zu beleidigen, beschwor dieses Gähnen einen Jean herauf, den kennenzulernen ich versäumt hatte: einen ernsten Jean, einen arbeitenden, den Nacken über ein dicht mit Ziffern beschriebenes Blatt gebeugt … diesen breiten Nacken … Eine wilde Sinnlichkeit stieg plötzlich aus meinem tiefsten Innern auf; das Blut, das die Kehle zuschnürt, das in den Ohren braust wie eine rollende Trommel, die unbezwingliche Bewegung des Tieres, das seinen Herrn ruft … Ich weiß, daß ich plötzlich aufsprang, daß die Heftigkeit meiner Bewegung den Stuhl umwarf und daß ich wütend fragte: »Also? …«
Auch er war aufgestanden, und da er mein Gesicht gesehen hatte, beobachtete er meine Hände.
»Du irrst«, sagte ich lakonisch. »Hab keine Angst. Ich wollte nur sagen: Also ist es aus? Ist es zwischen uns beiden aus?«
Er sah mich finster an. Er nahm es mir übel, daß ich ihn zu einer Antwort zwang …
»Was aus? Was soll aus sein? … Hast du noch nicht genug von diesem Leben? Fandest du es hübsch, unser Leben? Hättest du Lust, es wieder zu beginnen? …«
Endlich hatten wir die Rollen getauscht; nun war er derjenige, der spricht, der Beschwerde führt und anklagt; ich brauchte nur mehr zuzuhören, indes ich in meinem Inneren von ganzem Herzen antwortete: »Wieder beginnen, o ja, wieder beginnen, ganz gleichgültig, welch ein Leben, wenn es nur mit dir ist …«
Ich sagte nur immer wieder: »Aber Jean …« damit er fortsetze, damit er anschwelle wie ein Fluß gegen ein zu schwaches Wehr.
Er ging im Zimmer auf und ab.
»Dieses Leben wieder beginnen … Es tut mir leid, wenn ich dir Kummer bereitet habe«, sagte er mit giftigem Gesichtsausdruck. »Aber glaube mir, wir sind quitt.«
»Bist du mir böse, Jean?«
Er blieb stehen, als wollte er mich herausfordern:
»Ja, ich bin dir böse. Ich kann es nicht leugnen. Ich kann auch nicht sagen, ob ich damit recht oder unrecht habe, aber ich bin dir böse.«
»Mein Liebster …«
So leise ich es auch gemurmelt hatte, er hörte es … Aber ich wankte auch vor Dankbarkeit unter diesem Groll, der mich wieder zu der Seinen machte. Süße kriechende Dankbarkeit der gescholtenen Ehefrau! So blühte May nach Schlägen neu auf … Nun war es an ihm, mich aus einem Irrtum zu reißen; er sagte fein:
»Nein. Du bist frei. Aber wenn es deiner ›Frauenwürde‹, von der du in deinem Briefe sprichst, eine Genugtuung sein kann, so wisse, daß du die böseste Erinnerung aus meinem ganzen Liebesleben bist.«
Ich hatte mich wieder gesetzt, lehnte den Kopf an den wohlbekannten Seidenbezug des Lehnstuhls und wiederholte mit leiser Stimme:
»Ja … sprich nur … sprich …«
Er zuckte die Achseln.
»›Sprich!‹ Es wäre an der Zeit! Nach Monaten überlegenen Schweigens bist du es, die mir zu sagen wagt: ›Sprich‹ … Du, die du dich rühmst, mich denken zu hören, was hast du davon, wenn ich spreche?«
»O Jean, dich denken hören … Das mag ich im Spaß gesagt haben, aber …«
»Lüge nicht!« schrie er. »Du lügst. Du hörtest mich denken oder, besser gesagt, du unterschobst mir Gedanken, der falschen Vorstellung angepaßt, die du dir machst, nicht von mir, sondern vom Manne, vom Manne, deinem Widersacher, deinem Erbfeind.«
»Ja … sprich weiter …«
»Das Beste, was ich dir geschenkt habe – sinnliche Freude –, hat dir dazu gedient, mich besser beschimpfen zu können, du hast mir die Verdienste eines Zuhälters und die Geistigkeit eines Idioten zuerkannt … Du glaubst wohl, daß du allein den anderen denken gehört hast? …«
Er ging weg von mir, um sich ein Glas Wasser einzugießen, und ich hörte, wie der Hals der Flasche zitternd gegen den Rand des Glases schlug … Ich rührte mich nicht, ich öffnete die Augen nicht, so sehr fürchtete ich, ihn zu stören … Aber er war glücklicherweise noch nicht zu Ende:
»Und selbst wenn du in deiner eitlen Gedankenleserei nicht immer fehlgegriffen hättest, selbst wenn ich das minderwertige Individuum wäre, das du seinerzeit ein für allemal geheiratet hast, – mich denken zu hören, ist ein andauerndes Vergehen gegen meine Ruhe, meine Sicherheit als denkendes Wesen, gegen die heilige Unantastbarkeit, auf die ich ein Recht habe und die du nicht verletzen darfst!«
Ich öffnete die Augen nicht, ich nickte nur leise mit dem Kopf und sagte bei mir: »Gut. Sehr gut. Zumal er gesagt hat, ›du darfst‹ und nicht ›du durftest‹ …«
Er schwieg. Und ich bewunderte ihn, indes er, auf und ab gehend, in einem Groll bebte, auf den ich langsam stolz zu werden begann … »Ihn in sich aufnehmen, ihn in sich tragen, in solchem Maße, daß sein Licht, anstatt zu Ihnen zu dringen wie zu allen anderen …«
»Aber Jean, warum hast du dich nicht verteidigt – warum hast du dich nicht erklärt?«
Er wandte sich heftig zu mir, als wollte er mich schlagen: »Mich verteidigen! Mich erklären! Richterworte, da siehst du es, Richterworte, nach dem Schweigen eines Richters! … Und übrigens, warum ich eher als du?«
Dieses trotzige Kinderwort entzückte mich, und noch mehr entzückte mich das Bewußtsein, daß wir uns nun mitten in einer Auseinandersetzung zweier Liebender befanden und daß diese anscheinend noch lange dauern sollte …
»Du hast ganz recht«, sagte ich ehrlich.
Er hatte sich auf ein kleines Sofa gesetzt, und sein Gesicht verriet deutlich, wie müde er war. Seit er in das Zimmer getreten war, hatte er noch keine einzige sinnliche Regung gezeigt, hatte keinen jener rachsüchtigen Küsse versucht, die unsere einzige Sprache gewesen waren … Als ob er dasselbe dächte wie ich, warf er die mutlosen Worte hin:
»Es ist so einfach, miteinander zu schlafen …«
Es beleidigte mich nicht, daß er nun vor mir wieder zu einem unschuldigen Wesen geworden war, das nichts vom Weibe wünscht außer vielleicht weibliche Warme, Mütterlichkeit, zwei lebendige Arme, die Schutz und Ruhe gewähren … Aber ich wagte es nicht, die Arme mütterlich um ihn zu schlingen, ja, es schien mir, als ob ich es nie wieder wagen würde …
»Ist es wahr«, fragte er mit derselben müden Stimme, »ist es wahr, daß du zum Theater zurückkehrst? Zu deinem alten Beruf?«
Ich schüttelte den Kopf:
»Nein, Jean, es ist nicht wahr. Auch das ist eine Lüge. Ich habe keinen Beruf mehr.«
Und still für mich setzte ich melancholisch fort:
»Ich habe keinen mehr, und es gibt keinen mehr für mich. Ich habe ein Ziel, und das steht hier vor mir, es ist dieser Mann, der mich nicht begehrt und den ich liebe. Ihn zu erreichen, vor seiner Flucht zu zittern, ihn entfliehen zu sehen und geduldig darauf zu warten, daß er mir wiederkehrt, das ist von nun an mein Beruf, meine Mission. Dann wird mir alles, was ich vorher liebte, wiedergegeben sein – Licht, Musik, Rauschen der Bäume, schüchterner Ruf vertrauter Tiere, stolzes Schweigen leidender Menschen –, alles das wird mir wiedergeschenkt sein, aber nur durch ihn hindurch und unter der Bedingung, daß ich ihn besitze … Ich habe ihn so nahe an mir gesehen, so fest an mich gedrückt, daß ich glaubte, ich besäße ihn. Ganz töricht wollte ich über ihn hinweg – ich hielt die Grenzen meiner Welt für ein Hindernis. Ich glaube, daß viele Frauen anfänglich irren wie ich, ehe sie ihren Platz finden, der diesseits des Mannes ist …«
»Was willst du also tun?«
Ich versuchte meine ganze Antwort in einen Blick zu legen, aber seine Augen wichen den meinen aus. Als ob er spräche: »Nein, nein, es ist noch zu früh.« Er hatte dabei einen übermäßig strengen Ausdruck, als wollte er mich für immer entmutigen, aber ich mußte lächeln, denn er wußte ja nicht, daß ich ein ganzes Leben vor mir hatte, um auf ihn zu warten.
»Was ich tun will? … Das wird ein wenig von dir abhängen, Jean, und wenn ich ›ein wenig‹ sage … Aber vor allem werde ich dich jetzt schlafen gehen lassen, weil es spät ist und du arbeitest …«
Ich hielt die Frucht aus Jade in meiner Hand und streichelte sie, während ich rings um mich im Zimmer nach anderen Spuren meines Weilens hier suchte … Ich streichelte die kalte, glatte Frucht und steckte sie in meine Tasche.
»Sagst du mir gar nichts, Jean?«
Er folgte meinen Händen mit den Augen und verstand wohl die symbolische Bewegung des Abschiednehmens.
»Leb wohl, mein Schweigsamer.«
Da ich aufstand, fühlte ich, wie meine Zuversicht, meine Hartnäckigkeit gleich meinem Körper ohnmächtig zu werden drohten. Ich setzte meinen Hut zurecht, um fortzugehen, und sagte mir: »Er wird mich fortgehen lassen … Aber ich bin noch nicht fortgegangen … Ich werde mich an irgend etwas klammern, was es auch sei. Ich bin noch nicht fortgegangen.« Auch er war aufgestanden und überragte mich um einen, Kopf. Ich hob die Augen zu ihm empor, und es erfüllte mich ein merkwürdiges Gefühl der Hochachtung für mich, für jene, die ich noch vor kurzem gewesen war, für die Renée des vorigen Jahres, für die Frau, die diesen Mann besessen hatte.
»Mein Schweigsamer, du sprichst nicht, und du schreibst noch weniger. In welchem Stillschweigen hast du mich gelassen!«
Er beugte die Stirn und wendete den Blick ab, wodurch er weniger schön wurde.
»Was willst du … Antworten, schreiben, noch mehr Szenen, noch einen weiteren Austausch von fürchterlichen Worten, die man nicht vergißt … Wo wir einer vom anderen nichts mehr ertragen konnten, noch weiter Gift zwischen uns streuen?«
»Es ist wahr«, gab ich demütig zu.
Und ich dachte:
»Ich weiß wohl, daß er nicht vollkommen ist. Wenn das Schicksal ihn mir wieder gibt, werde ich noch oft an ihm dieses Lächeln eines feigen Tieres sehen, dieses Ausweichen vor der peinlichen Wahrheit, vor der ehrlichen Anstrengung. Ich weiß wohl, daß er alles von mir verlangen wird, ehe er selbst ein weniges gibt, und sich, mit Grazie, bei mir entschuldigen wird, daß er nicht noch mehr verlangt. Aber da er mir, wie man im Volke sagt, so wie er ist, ›reichlich gut taugt‹, und da ich weder Lust noch das Recht habe, einem Helden anzugehören, so will ich Unvollkommene den unvollkommenen Jean und keinen anderen …«
»Also auf Wiedersehen, Jean.«
Ich reichte ihm die Hand und während er sich über sie beugte, um sie zu küssen, sah ich, wie seine beweglichen Nasenflügel zitterten, wie seine schön geschwungene Oberlippe zuckte. Ich zögerte nur einen Augenblick: ihn wieder haben – ganz gleichgültig wie. Zeit gewinnen. Mich mit ihm zu Boden werfen, nicht mehr, um uns einer am andern zu erschöpfen, sondern in dem Bemühen, aus der dunklen Lust eine Liebe erstehen zu lassen, deren wir würdig werden sollen, so wie aus einem schweren, moschusduftenden Gefäß das schlanke Schilfrohr, die edle Schwertlilie erblüht.
Mit leisen Fingerspitzen begann ich sein zartes Ohr zu streicheln. Er zitterte und wendete sich ab wie eine verführte Frau …
»Mein Liebster …«
Er deutete »Nein, nein« mit dem Kopf und warnte mich leise:
»Hüte dich! Es ist noch einmal nichts als Begierde.«
Er umwarb mit den Blicken das, was er an mir am liebsten hat, meine Schultern, meinen Hals, meine Hände, die ich faltete, um ihn nicht zu streicheln …
»Ich sage dir, hörst du, es ist nichts als Begierde.«
»Ja, ja«, antwortete ich mit dem Kopf.
Die Hand meines Herrn fiel hart auf mich.
»Das genügt dir? Das genügt dir? Ist das alles, was du von mir willst? Ist das alles, was du mir zu bringen hast?«
Nicht stark genug, um zu lügen, legte ich mich in seine Arme und schloß die Augen, damit er nicht sehe, daß es meine Seele war, die ich ihm schenkte.