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V

Darf man hinein?«

»Wer ist man?«

»Wir!«

Eine weiblich klingende Stimme fragt es, die ich jedoch nicht ganz als Mays schönen Mezzosopran erkenne – sie hat einen Klang in der Stimme, der alle ihre Worte vergoldet. – Ich öffne und befinde mich zwei Männern, Masseau und Jean, gegenüber. Es war Masseau, der im Falsett gesprochen hatte. Schon aufgestanden oder noch nicht schlafen gegangen, war er mit der ihm eigenen Miene eines galligen Magistratsbeamten am Strande einherspaziert, wo Jean ihn angetroffen hatte. Seine grauen Glacéhandschuhe, sein weicher Filzhut, seine unbestimmbare Krawatte, alles nimmt an ihm, ich weiß nicht warum, ein absonderliches Aussehen an. Diesmal ist er überdies mit einer zwei Hand breiten dicken Alge geschmückt, die er am Meer gefunden und sich um den Hals gelegt hat; Jean versichert mir, daß er, mit diesem Zierat versehen, soeben über die Promenade, die Straße und durch die Hotelhalle geschritten sei. Er ordnet das Meergebilde vor meinem Frisierspiegel zu einer Halskrause und murmelt dabei, als ob er zu sich selbst spräche:

»Colombine!«

»Masseau, sind Sie verrückt? Geben Sie das weg, es riecht nach lebendigen Muscheln.«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagt Masseau. »Entweder sind Sie Sklavin eines Vorurteils, das man mit dem Worte ›Mode‹ bezeichnet, dann will ich nichts mit Ihnen zu tun haben. Oder Sie fühlen in einem verborgenen Winkel Ihres Herzens für mich, was jede Frau mir bei meinem Anblick strahlend entgegenlächelt: ein wenig Liebe; dann sind Sie entzückt von dieser Laune eines heiteren Morgens. Oder auch … Aber dann hätte ich sagen müssen: Es gibt drei Möglichkeiten … Ich beginne also von neuem. Es gibt drei Möglichkeiten …«

»Jean, könnten Sie ihm das Ding nicht wegnehmen?«

»Nein, das kann ich nicht. Ich weiß nicht, wie er es anstellt, aber ich bin machtlos gegen ihn. Wenn wir auf der anderen Seite der Erde wohnten, dann wäre ich ein König und würde Masseau zum Heiligen erklären und nackt unter einen Baobab setzen.«

»Ich war ein Heiliger«, sagt Masseau kühl. »Aber man wird dieser Würde bald müde; die Diät eines Heiligen auf der anderen Hemisphäre ist erbärmlich. Zahllose Opfergaben der Gläubigen, als da sind: Früchte, Reis mit Safran, Hammel mit Reis, Reis mit Zucker: der Beruf wird einem durch Magenerweiterung vergällt.«

Ich habe im allgemeinen große Angst vor Irrsinnigen, doch unterliege ich gleich Jean dem Zauber dieses Narren. Die Grenze zwischen echter und vorgegebener Verrücktheit läßt sich bei ihm nicht feststellen. Jedenfalls leidet er, wie er mir anvertraut hat, unter einer Zwangsvorstellung: er sieht alles, was er spricht, geschrieben vor sich und muß während des Sprechens die Interpunktion seiner Sätze in die Luft zeichnen. Wenn er zuweilen – wie eben – zu einer raschen und knappen Ausdrucksweise ohne grammatikalische Schmarotzer zurückfindet, so handelt es sich allemal um kurze und jeder Wahrscheinlichkeit bare Schilderungen – und gerade diese dünken mich echt. May verabscheut Masseau; sie vermag ihn weder zu verführen noch zu durchschauen. Sie fühlt sich ihm gegenüber wie der Hund vor dem unbezwinglichen Igel.

»Kommt May Ihnen nach, Jean, oder holen wir sie im Vorübergehen ab?«

»Weder noch«, erwidert Jean, der mechanisch meine Silberbürsten zurechtrückt. »May ist krank, sie kommt nicht zum Mittagessen.«

»Ernstlich? Da will ich gleich …«

Er dreht sich lebhaft um:

»Das ist reizend von Ihnen, aber bemühen Sie sich nicht: sie will schlafen. Sie hat sich nur ein Ei und eine Suppe bestellt.«

Er versucht nicht im geringsten, mir die Sache glaubhaft zu machen, sondern sagt einfach und ohne Nachdruck, was der gute Ton verlangt. Er sieht gut aus, soweit ein brünetter Mann mit etwas grünlichem Teint gut aussehen kann. Mit gewohnheitsmäßiger Indiskretion entkorkt er eines meiner Flakons nach dem anderen. Ich dringe auch nicht weiter in ihn:

»Gut, dann werde ich mich nach dem Essen um Mays Befinden erkundigen. Gehen wir hinunter? Masseau! … Da sitzt er und erledigt seine Korrespondenz … Masseau!«

»Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung«, sagt Masseau. »Ihnen und …« er zeigt auf den Brief, den er schreibt – »… und ihr!«

Ich bin gereizt. Es ist mir nicht angenehm, daß er sich meines Tisches bedient, um zu schreiben, noch daß Jean meine Flaschen und meine Puderschachteln beschnüffelt. Ich mag es nicht, wenn man in mein unaufgeräumtes und ungelüftetes Zimmer eindringt, ich mag es nicht, wenn man mir durch eine leise Berührung mit dem Finger andeutet, daß mir eine Haarsträhne im Nacken herunterhängt, und einen Faden von meinem Rock zupft, der oberhalb des Knies daran haftet. Es hat sich eine begreifliche, aber keineswegs angenehme körperliche Unduldsamkeit in mir entwickelt, die ich nur mit Mühe unter einer gemachten Kameradschaftlichkeit verberge …

 

Glücklicherweise ist es schön. In diesem Lande hilft das schöne Wetter über vieles hinweg: es ersetzt Liebesglück und gibt jederzeit ein Gesprächsthema ab.

»Schön ist es, wie? Schade, daß May … In Paris soll es schneien … Wo ist Masseau?«

»Er legt seine Alge in der Garderobe ab. Nehmen Sie Horsd'œuvre?«

»Nein, heute mittag nicht. Was denken Sie, bei dieser Hitze!«

Ich drehe instinktiv mein Gesicht der Sonne zu, damit sie es wärme, wende es aber ebenso instinktiv sofort wieder ab … »Wenn ich einmal fünfunddreißig oder vierzig Jahre alt bin …« hat May gesagt … Und während sie das sagte, betrachtete ich mir ihre freie Stirn, ihre Schläfen, ihren jugendlichen Halsansatz … Ich neige den Kopf, um den Schatten meines Hutes über meine Wangen zu breiten, ich lege meine wohlgepflegten Hände, die nun nicht mehr durch Theaterschminke verdorben werden, auf das Tischtuch …

»Hübscher Diamant«, sagt Jean.

»Sie hätten wohl sagen können: Hübsche Hände, Sie Unhöflicher!«

»Ich hätte es in der Tat sagen können, aber ein Kompliment über Ihre Hände kann Ihnen jeder machen, während nur sehr wenige Menschen sich auf schöne Steine verstehen.«

Ich lache, während ich mir einer Tatsache bewußt werde: ich war schon oft allein mit May zusammen, nun aber läßt Mays Abwesenheit mich zum ersten Male mit Jean allein.

»Jean, ehe Masseau kommt, was ist mit May? Sind Sie schon wieder böse aufeinander? Diese Dramen wegen eines Rasierpinsels oder eines Schuhknöpflers sind wirklich lächerlich. Ehrlich gesagt, Sie sollten …«

Um zu erfahren, was er »sollte«, nimmt der Geliebte Mays eine merkwürdig freche Haltung an. Die Hände in den Taschen, pfeift er vor sich hin, lehnt den Kopf zurück und betrachtet mich durch seine Wimpern. Ich erröte, denn ich bin seit etlichen Jahren eine gewisse Art von männlicher Ungezogenheit nicht mehr gewohnt. May würde, auf die Gefahr hin, es nachher grausam zu bereuen, diese »eklige Visage« ohrfeigen. Fast immer ist der Ausdruck dieses Gesichtes jünger als seine Züge.

»Verzeihen Sie, ich mische mich in Angelegenheiten, die mich nichts angehen.«

»Erstens; und zweitens, was liegt Ihnen eigentlich an der Sache?«

»Was mir daranliegt? Sie sagen mir, daß May leidend ist; ich habe sie gestern morgen – ah, hier ist Masseau – gestern morgen mitten in ihrer Ausquartierung gesehen und …«

»Ach, also aus Freundschaft? … Masseau, wir haben nichts für Sie bestellt. Paßt Ihnen Entrecôte Béarnaise?«

»Wie angemessen.«

»Gut! Also Sie versuchen aus Freundschaft, uns wieder zu versöhnen?«

Mir ist alles zuwider in diesem Augenblick, der Tisch, der infolge von Mays Abwesenheit zu groß scheint, die Auseinandersetzung, die mir nicht erwünscht ist, die hochfahrende Art Jeans, der Masseau so kurz abgefertigt hat und mit der Knappheit und affektierten Zurückhaltung eines zornerfüllten Menschen spricht.

»Also aus Freundschaft? Wohl mehr aus Freundschaft für May als für mich, vermute ich? Aber Sie empfinden doch für May keine wirkliche Freundschaft!«

»Dumme Frage!«

Ich sollte böse werden, das wäre bequemer, als zu lügen. Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will. Hofft er, daß ich seiner Freundin etwas Schlechtes nachsagen werde? … Der Appetit vergeht mir, und durch eine peinliche Verdoppelung meines Selbst werde ich von dem Orte, an dem ich mich befinde, fortgetragen; die Leute, die dort essen, entfernen sich immer weiter und werden ganz klein, undeutlich und fremd, die Leute, die verräterische Sonne und der Mann, der mir gegenübersitzt und den Blick seiner hellgrauen Augen auf mich gerichtet hält.

»Dumm und verletzend … Jawohl, verletzend für mich und May. Da ist nichts zu lachen … Masseau, ich rufe Sie zum Richter an …«

Aber ich sehe von Masseau, der hinter einer Zeitung verborgen ist, nur eine dürre Hand, die er erhebt, um alle Verantwortung von sich abzuwehren … Ich werde schwach und frage Jean feige:

»Warum haben Sie das gesagt?«

»Um mir einen Spaß zu machen und auch, weil ich es glaube. May ist gewiß sehr nett, aber eine Frau wie Sie …«

Der abgebrochene Satz enthält, was mich mißtrauisch machen muß: ein Kompliment für mich und eine häßliche Beschimpfung seiner Geliebten. Zwar hat er sie vor mir schon als manierlose kleine Kokotte behandelt, oder gar als Komödiantin, doch sie in geheucheltem Mitleid »sehr nett« zu nennen, das ist noch weit schlimmer … Masseau taucht teuflisch und blinzelnd hinter seiner Zeitung auf, als ob er noch andere nicht wieder gutzumachende Worte erhoffte.

»Na, und? Eine Frau wie ich? Erstens bin ich keine Frau wie ich; ich bin ein Menschenwesen, das für die Güter dieser Erde sehr viel übrig hat und die Pommes soufflées gern heiß ißt.«

Masseau hat seine Füllfeder aus der Tasche gezogen und schreibt bedächtig auf seine riesigen kugelrunden Pommes soufflées: Erinnerungen an Tréport; Biarritz, die Königin der Strandbäder; Dieppe, Sommer 1912. Dann ordnet er sie rings um seinen Teller und ißt nicht. Da man ihm den Braten serviert, stöhnt er entsetzt: »Was für eine Tierleiche ist dies?«, so daß ich angeekelt auch kein Fleisch nehme, zur großen Freude Jeans, der in Lachen ausbricht. Sein Lachen ist nicht das eines fröhlichen Mannes, sondern mehr das eines schlimmen Kindes, aber es ist ansteckend.

»Wie schlecht muß man doch werden, wenn man in Ihrer Nähe lebt, Jean! Sie lachen stets nur über Katastrophen … Nein, nein, ich nehme nicht von diesem Fleisch. Lassen Sie uns alle Käsesorten bringen, die es gibt, und Sahne und Obst. Masseau, Ihnen wünsche ich, daß Ihre würdige Gefährtin heute abend sämtliche Pfeifen anbrennen läßt, die sie Ihnen zubereitet. Wann werden wir übrigens von hier weggehen? Das Mittagessen nimmt ja heute kein Ende!«

Jean beginnt an den Nachmittag zu denken, der ihm bevorsteht, an May, die ihn erwartet, und sein Gesicht verdüstert sich. Der sehr gute Kaffee mit Sahne und die Zigaretten versetzen uns alle drei in einen vorübergehenden, aber um so köstlicheren Optimismus. Mein Geruchssinn erfreut sich der geschälten Orange, des heißen Kaffees und des feinen Tabaks. Jean raucht mit Hingabe, und seine Miene wird wieder heiter. Sein Gesicht ist empfindsam und undurchdringlich, es drückt sich alles darin aus, aber nur als Licht und Schatten, ohne erhellende Übergänge.

Das geschorene Köpfchen eines Boys aus dem Impérial, eines Dreikäsehochs, taucht neben dem Tische auf und wendet sich an Jean:

»Ein Brief für den Herrn. Die gnädige Frau hat gesagt, ich soll ihn übergeben, sobald sie abgereist ist.«

»Abgereist? …«

Jean sieht uns fragend an, dann öffnet er den Brief. Er wirft nur einen kurzen Blick darauf und reicht ihn uns hin; es ist ein mit Bleistift geschriebener Zettel:

»Guten Appetit. Ich reise ab. Adieu.
May.«

»Was soll das heißen, Jean?«

Der kleine Boy, der gar nicht wirklich gelaufen ist, stellt sich atemlos, um seinen Diensteifer zu bekunden, und blinzelt mit seinen Kaninchenaugen. Jean schreit ihm so heftig: »Es ist gut, du kannst gehen« zu, daß er fast umfällt und eilig das Weite sucht.

»Aber, Jean, das ist ja unerhört! Soll ich nicht im Büro fragen? …«

»Wonach fragen? Ich bitte Sie, beste Freundin, setzen Sie sich, Sie sehen aus wie die Dame, die ihr Schoßhündchen verloren hat … Ihr Kaffee wird kalt.«

Er rückt etwas vom Tisch ab, schlägt die Beine übereinander und raucht weiter. Aber seine Nasenflügel zittern, und ich könnte an der hüpfenden Bewegung seines erhobenen Fußes die beschleunigten Schläge seines Herzens zählen. Wir sind fast allein im Speisesaal, und gern würde ich den geheimen Wunsch der Kellner erfüllen, die mit feindseliger Geschäftigkeit die Nachbartische abdecken und für den Nachmittagstee herrichten … Verstohlen mustere ich Jeans Gesicht: ich suche den heldenhaften und schmerzlichen Ausdruck darin, der Maxens Antlitz verzerrt haben mag, als er vor nun bald drei Jahren meinen Abschiedsbrief erhielt: »Max, mein Liebster, ich gehe …« Ich kann jedoch in Jeans Zügen nur den doppeldeutigen Ausdruck aufgeregter Erwartung entdecken; auch Unentschlossenheit malt sich in ihnen; es sieht aus, als ob er horche, und nicht, als ob er nachdächte; das gibt ihm ein ganz neues Gesicht, ein verliebtes, uns abgewandtes Gesicht, das aufs Meer hinausblickt, das schöne Gesicht eines Liebenden, das nicht in Tränen erzittert, sondern voll Hoffnung ist …

»Masseau? …«

Obwohl ich ganz leise gerufen und nur mit dem Kinn zum Ausgang gedeutet hatte, ist Jean aufmerksam geworden.

»Sie wollen doch nicht fortgehen, wie? Aus Diskretion? Sie … Sie achten wohl meinen Schmerz? Ich wünsche das gar nicht von Ihnen beiden – besonders von Ihnen nicht, Renée.«

»Ist dies eine Verabschiedung, mein Herr?« fragt Masseau theatralisch, indem er einen nicht vorhandenen Mantel mit großer Geste über die linke Schulter wirft.

»Nein, mein Guter, gewiß nicht. Wir wollen es nicht tragisch nehmen, daß diese arme kleine May …«

»Ach, Jean, fangen Sie nicht wieder an, Schlechtes über May zu sagen!«

Ich lache und bin mir dabei klar bewußt, daß ich nicht sage, was ich sagen sollte, und daß jedes meiner Worte Jean recht gibt, der behauptet, ich sei nicht Mays Freundin.

»Ach nein«, seufzt er hinter dem Rauch seiner Zigarette. »Im Grunde war sie ein guter Kerl, die kleine May …«

Ich stürze mich erleichtert auf den Weg, den er mir weist:

»Nicht wahr, nicht wahr? … Ein sehr guter Kerl, und voll Kindlichkeit im Grunde, trotz ihrer angeblichen ›Lebenerfahrung‹ … Nicht wahr, Masseau? Wenn Sie sie ärgerten, wurde sie ganz rot vor Zorn und nahm es ernst …«

»Gewiß«, versichert Masseau mit verdächtigem Eifer. »Wenngleich wir nicht immer derselben Meinung waren, hat sie doch treffende Ansichten entwickelt – über die auswärtige Politik besonders und über vieles andere, zum Beispiel über die Rolle des religiösen Gefühls in der modernen Musik …«

Er reibt sich die dürren Hände, bösartig wie ein altes Weib.

»Das sind abgeschmackte Witze, Masseau. Sie gleichen dem Fuchs mit den Trauben – einem ältlichen Fuchs vor einer schönen blonden Traube. Und der andere da lacht … Oh, diese Männer! Fünfundzwanzig Jahre, goldiges Haar, leuchtende Zähne und strahlende Augen! … All das wird ihnen geschenkt und sie sind noch nicht zufrieden! … Was wollt ihr denn eigentlich?«

»Das möchte ich auch wissen«, murmelt Jean.

»Und sie liebte Sie, diese Kleine, Jean … Und Sie selbst …«

Ich tue, was ich kann, um mich immer mehr in Hitze zu reden, finde aber nicht den geringsten Widerhall:

»Ich höre noch, wie sie sich neulich über Sie beklagte, und ich bin sicher, daß sie Anlaß zur Beschwerde hatte!«

»Ja, Anlaß genug, Anlässe für drei- oder viertausend Louisdor im Monat, um mich in ihrer Redeweise auszudrücken … Aber nein, ich bin kein Rohling, ich mache nur Spaß … Arme kleine May … Und ich armer Verlassener …«

Welcher geheime Gedanke ist wohl hinter diesen grauen Augen verborgen? Seit der Brief angekommen ist, hat Jean keinen Augenblick die Selbstbeherrschung verloren: keine Träne ist ihm ins Auge gestiegen, er hat die Faust nicht geballt noch Lust gezeigt, auf den Tisch zu schlagen, er hat keinen wuterfüllten Aufschrei hören lassen, der, indem er sie leugnet, die verletzte Liebe verrät.

»Jean, was werden Sie tun? Sie ist nicht unauffindbar, die Kleine, die eben abgereist ist; in zwei, in zwölf Stunden spätestens sind Sie wieder bei ihr …«

»Ich!«

Da ist er, der Aufschrei – aber nicht der, den ich erwartet hatte, sondern ein empörter Ausruf, gefolgt von einem zornigen Lachen, das das glitzernde Wasser in den Karaffen zittern macht.

»Ich ihr nachfahren? Das sollte mir in dem Augenblicke einfallen, da das geschehen ist, was … was … ich kann das Wort nicht finden … das, was sozusagen in den Sternen geschrieben steht! … Ich sollte zu ihr zurückkehren, jetzt, da eben erst ein erstaunliches neues Gefühl in mir lebendig geworden ist, ein Gefühl, ich will nicht sagen, der Freiheit, das ist es nicht, sondern der … Verheißung. Ja, es scheint mir, als ob die Tatsache, daß ich nun allein bin, mir ein Anrecht auf die ganze Erde gäbe, mit all ihren Frauen, als ob man mir alle Frauen der Welt verspräche, als ob das Schicksal sich mir gegenüber verpflichtet hätte … Ich sage alle Frauen, aber ich meine eine, eine einzige, die, nach der es mich verlangt … Zu May fahren, wenn … wenn ich hier bin! …«

Eine kräftige warme Hand fällt auf meine nieder, umfaßt, umhüllt sie. Die Bewegung ist so plötzlich, der Druck so despotisch, daß ich wortlos bleibe, als hätte er mich heftig geschlagen. Ich blicke nur verblüfft zu ihm empor, während er leiser wiederholt:

»Ich zu May fahren! …«

»Sie haben nicht weit zu fahren«, sagt die alte Stimme Masseaus. »Sie ist oben in ihrem Zimmer. Und ich muß mich bei Ihnen beiden entschuldigen. Ein degenerierter Sprößling des Geschlechts jener läppischen Spaßvögel, welche ihre Nebenmenschen zu mystifizieren lieben, habe ich Jean ein Briefchen übergeben lassen, das ich in dürftiger Nachahmung von Mays Schrift verfaßte …«

Er blinzelt, reibt sich die dürren Hände, deren Finger knacken, und wartet, was von Mut oder Ahnungslosigkeit zeugt, denn das Blut ist Jean in die Wangen gestiegen. Meine Hand ist immer noch gefangen, und es scheint mir, als ob ich mich nicht rühren könnte, solange seine Hand die meine hält …

Endlich fühle ich mich befreit und höre Jeans etwas gezwungenes Lachen:

»Das ist ja zum Kugeln! Warum, zum Teufel, haben Sie das getan, Masseau?«

»Um zu sehen …«, antwortet Masseau geheimnisvoll.

Dann befällt ihn seine närrische Manie aufs neue, er setzt sich die zu einer Mütze gefaltete Serviette auf, senkt die Brauen, preßt die Lippen zu einem grausamen Mund zusammen und betitelt sich:

»Der Großinquisitor!«

 … Das Zimmer ist überheizt, aber durch das offene Fenster dringt eine Feuchtigkeit herein, die mir die Haare benetzt und Nase und Gaumen erquickt. Nach dem stickigen Zug, nach dem trockenen und von einer warmen Wintersonne vergoldeten Nizza, atme ich mit Entzücken diese nördlichere Luft, der Geruch des Regens, dem sich weder ein Geschmack von Jod und Salz noch der süßliche Duft der Mimosen beimengt. Der Wind trägt ihn mir vom grauen Genfer See her entgegen, über den das Gewölk tief herabhängt; dann und wann zeigt sich mir zwischen zwei Wolken, glitzernd und ganz nahe, der Montblanc.

Ich kenne dieses Zimmer, kenne diese rosafarbenen Wände mit ihrem lila Fries und ihren hellblauen Türen. Es ist ein anständiges Schweizer Hotel, wie es deren viele an den Ufern dieses Sees und anderswo in der Schweiz gibt. Nach Paris zog mich nichts, und es fiel mir ein, daß Genf Ende Februar zuweilen sehr milde ist, daß es von den Flügeln zahmer Möwen umfächelt wird, und daß Brague diese Woche dort sein alljährliches Gastspiel hält.

Außer Genf hätten mich eine Anzahl kleiner Orte im Süden gelockt – warme Stranddörfer zwischen roten Felsen, italienische Nester, provenzalische Marktflecken, in denen Veilchen und Narzissen zu Parfüm verarbeitet werden –, aber ich weiß zu gut, daß diese Paradiese von dem Augenblick an, da ihr einziger Schmuck, das Licht, entschwindet, traurige Gefängnisse werden, und daß dem Fremden endlose Abende drohen, die sich mühsam dahinschleppen zwischen der Terrasse und dem verstimmten Flügel, zwischen dem Lesezimmer, in dem bebrillte angelsächsische Gespenster lauern, und dem Salon, der Zufluchtsstätte junger und alter Mädchen, die sich derartig langweilen, daß sie am liebsten schrien und bissen …

Ich fühle mich hier wohl. Die kühle Milde der Luft, die grauen Wasserfluten, die so glatt sind nach dem Regen, daß die Spur eines Dampfers sich scharf darauf abzeichnet, als ob er ein langes Seil hinter sich herzöge – alles entfernt mich von Nizza und von May und Jean. Selbst die steife und dürftige Anmut eines Buketts aus kaum aufgeblühten Winterblütenzweigen verjüngt mich und befreit mich von der Erinnerung an die Riviera und an die Szene, die meinem Aufenthalt dort ein Ende setzte.

Ich habe noch achtundvierzig Stunden lang die Gesellschaft des Liebespaares ertragen. May war wieder munter und verliebt und trug ein Siegeslächeln zur Schau – wie immer, wenn sie sich hinter verschlossenen Türen gedemütigt hat. Jean versäumte es, mir durch eine moralische Geste Achtung abzuzwingen; er entschloß sich weise, wieder das zu werden, was er am Vortag gewesen war.

Am Abend vor meiner Abreise, als meine Koffer insgeheim schon gepackt waren, erklärte ich mich dazu bereit, eine halbe Nacht in Masseaus Opiumhöhle, seinem Zimmer, auf den weißen Matten und den kühlen, glatten Seidenkissen zu verbringen. Ich, die ich nicht Opium rauche, habe mir diesen Abend als ein etwas ungehöriges Vergnügen gestattet, und auch »um zu sehen«, wie Masseau sagen würde.

May stürzte sich gierig auf das Opium, nicht so sehr um der Lust willen als in dem Verlangen, ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen. Sie erging sich in Fachausdrücken, sprach von dem »Präparat« und dem »Bambus« und lobte die Süße des Giftes mit Kennermiene, ganz als wäre sie ein opiumdurchseuchter alter Chinese.

Jean rauchte ohne Überzeugung und ohne Genuß, hastig, als ob er den köstlichen Augenblick nicht erwarten könne, da man den Kopf schwindelig und benebelt auf die Kissen sinken läßt. Als er seine letzte Pfeife weglegte, streckte er sich aus und wandte den Blick zu mir herüber: keinerlei Verlangen, keinerlei Unruhe war darin zu lesen, sondern eine Sicherheit, so ruhig wie der Tod.

Ich hatte mich nicht so lang hingestreckt wie die anderen alle; May, die zwischen Jean und mir lag, war unruhig und schien von Kopf- und Magenschmerzen gequält. Das durch rote Seide gedämpfte Licht der Laterne war mir angenehm, ebenso die stille Geschäftigkeit des Geschöpfes, das Masseau seine »Congaï« nennt, ein häßliches Menschenwesen mit schönen demütigen Augen. Ich begriff nicht recht, warum die anderen – außer Masseau – Opium rauchten. Immerhin fand ich es verzeihlich, daß Jean binnen kurzem schwer trunken dalag, wie einer, der sich absichtlich berauscht hat, um eine Krankheit zu verscheuchen.

Immer wieder zog die kleine mandelförmige Flamme unter der Glasglocke meinen Blick an und ich studierte den auf der weißen Matte kaum sichtbaren Schatten eines Buddha aus Bergkristall, der vor der Lampe stand. Auf der anderen Seite Jeans sah ich die kleinen dürren Hände Masseaus, hell im Halbdunkel, sich langsam bewegend, mit der Genauigkeit und hellsehenden Vorsicht, die die Hände von Blinden lenkt …

Nach jenem Abend gab es nur eine einzige peinliche Stunde: die vor meinem Abgang zum Bahnhof. Ich mußte in Jeans Anwesenheit hundert Fragen der verblüfften May über mich ergehen lassen:

»Aber warum denn? … Aber was fällt Ihnen denn ein? Jean, ist sie nicht verrückt? Ich wette zehn Louisdor, daß sie binnen vierzehn Tagen wieder hier ist … Der Tourneeswahnsinn hat sie wieder einmal. Im Grunde ist sie ebenso originell wie ich! …«

Sie redete, erging sich in Ausrufen, die bald an mich, bald an Jean gerichtet waren, und ich fürchtete, sie könnte auf unseren Gesichtern dieselbe Entschlossenheit, zu schweigen und zu lügen, lesen. Ich habe jedoch mit ihrem Geliebten kein einziges Wort der Verständigung gewechselt, und er hat durch nichts versucht, mich zurückzuhalten.

Ich fühle mich wohl. Ich bin froh, daß ich mich von diesen Leuten leichten Herzens und in anständiger Form getrennt habe, ohne dramatische Szene und ohne unwürdigen Flirt. Die keusche Schweiz flößt mir bereits den Wunsch nach einsiedlerischer Zurückgezogenheit ein, nach einer heilsamen Beschäftigung mit der Literatur; vor mir häufen sich dicke Stöße geistiger Nahrung: die Grande Revue, die Revue des Revues, die Revue de Paris, der Mercure de France und manches andere, weniger Bedeutende. Es reicht für die Nacht, für den Tag, für die ganze Woche. Noch ehe die Hefte aufgeschnitten sind, geben sie mir Anlaß, verächtlich auf die Leute herabzublicken, die ich verlassen habe, Masseau, den Närrischen, Gebildeten und Geheimnisvollen, ausgenommen. Ich rücke von ihnen ab und staune in Selbstgefälligkeit darüber, daß ich drei Wochen mit ihnen zusammen leben und mich mit den immer gleichen fünfhundert Worten begnügen konnte, die ihren Wortschatz ausmachen.

Zweihundert Worte, um Speise und Trank zu verlangen; hundert und einige Zahlen, um die vorübergehende Frau und deren Kleidung abzuschätzen; hundert, um schlüpfrige Anekdoten zu erzählen; und noch einmal hundert – sie genügen reichlich – für Themen der »seelischen Erhebung«, Moral, Literatur und Kunst. Man könnte in dieser Wüste geradezu seine Muttersprache vergessen! Bragues Argot, die Kulissensprache der Music-Hall, alles ist noch besser als die Konversation Mays und Jeans, mit der ich mich, weiß der Himmel warum, drei Wochen lang begnügte.

Dunkle Wolken, die über den Himmel ziehen und alsbald einen Platzregen auf die Stadt ergießen werden, verhüllen den Montblanc, der unter einem fernen Sonnenstrahl in blendendem Weiß erglänzt war. Auf dem tief herniederhängenden dunklen Himmel sehen die umherwirbelnden Möwen wie Schneeflocken aus … Ich entnehme dem Stoß Zeitschriften ein dickes orangerotes Heft, doch meine Lust zu lesen ist geschwunden …

… Ja, ich habe mich mit diesen Leuten begnügt. Ich habe mich aus nachlässigem Hochmut mit ihnen begnügt, dem Hochmut eines ehemaligen Blaustrumpfes, der ironisch und mitleidig lächelte, wenn May Schnitzer machte und Jean seine Sätze nicht zu Ende sprach … Es war die stillschweigende Verachtung einer armen Lehrerin … Zwei Tage von dreien fesselte mich das an sie. Und am dritten hatte ich wahrscheinlich die Ausrede, daß ich ihnen eine angenehme Gefährtin sei, eine fröhliche Tischgenossin, die alles liebt, was gut und teuer ist, das gute Essen, das Auto, den blumengeschmückten Tisch, die genießerische Lebensweise leichtfertiger Frauen und reicher Männer …

Ich begnügte mich nicht nur mit diesen Leuten, ich versuchte sogar, sie zu verführen. Für wen, wenn nicht für sie, habe ich meine Reize spielen lassen, diese Reize, die mit jedem Jahr geringer oder doch anders werden? Mein Schmuck war die Heiterkeit der Frauen, die nicht mehr ganz jung sind und gerne lachen wollen; bewußt entfaltete ich eine fröhliche Laune und einen gesunden Appetit – darin war ich May mit ihren strahlenden fünfundzwanzig Jahren überlegen … Fünfundzwanzig Jahre, das ist nicht das Alter der Seelenruhe; die Jugend ist noch zu nahe, die exaltierte Jugend, leicht bereit zum Selbstmord, leicht bereit zu übertriebenen Hoffnungen … Die fünfundzwanzigjährige May vergeudet Zeit mit Tränen und Streit, mit kleinen Krankheiten und trüben Gedanken. Die sechsunddreißigjährige Renée Néré verlangt nichts und scheint durch ihr bloßes Vorhandensein alles zu bieten.

Ich wußte im Grunde ganz gut, daß in den Augen der Zuschauer gerade meine Schwächen wirken mußten, denn eine Frau ist immer nur vergleichsweise schön. Hinterlistig spielte ich an der Seite Mays eine heitere Ruhe, eine harmonische Unbeweglichkeit, auf daß sie den Eindruck einer halbreifen Frucht mache, die vom Winde am Zweige geschüttelt wird.

Auf solche Weise rückte ich mich ins beste Licht, und die Unlauterkeit meines Beginnens blieb nicht unbemerkt: noch klingt mir Jeans Frage in den Ohren: »Im Grunde empfinden Sie doch keine Freundschaft für May?« Diesen Satz hatte ich verdient. Ich hatte ihn geradezu herausgefordert. Es war die gerechte, erniedrigende Strafe für meine boshaften Reden …

Gott sei Dank, ich habe mich von diesen Leuten noch rechtzeitig getrennt; ich hatte bis dahin hauptsächlich nur durch Unachtsamkeit gesündigt, das heißt, ich hatte zu wenig an Jean gedacht. Seiner Bewegung von neulich messe ich keine Bedeutung bei; es geschieht vielen empfindlichen Liebhabern, daß sie im Augenblick, da ihre Geliebte sie verläßt, einer anderen zurufen: »Gerade dich wollte ich, das trifft sich gut! …« Es war unvorsichtig, daß ich mich zu so häufigem Zusammensein mit May und Jean verleiten ließ. Der tiefwurzelnde und normale polygame Trieb mußte in Jean erwachen. Lebt einer zwischen zwei Frauen, so läßt die Begierde nicht lange auf sich warten … Man ist ein Mann, man ist der Freund einer Frau ohne Liebhaber, man lädt sie ein, man sucht ihre Gesellschaft, weil sie weder dumm noch schwerfällig ist, man vertraut ihr die Geliebte an, die sich langweilt, und eines Abends breitet man zwei nervöse Arme aus, und die zwei Arme umschlingen den Hals zweier Frauen, und dann ist alles verdorben, oder es kommt alles in Ordnung …

Ich habe alles aufs beste geordnet. Nichts ist zerbrochen, und ich kann nach Belieben … Was kann ich eigentlich? Die tollsten Möglichkeiten Genfs stehen mir offen: soll ich die zahmen Möwen füttern oder mit einem Boot nach Nyon fahren und das kleine Gasthaus aufsuchen, in dem Brague und ich lauwarmen Tee und nach Himbeeren schmeckenden Wein bekamen?

Es gibt auch noch Kinos … »Kurz, eine Orgie«, würde May sagen. Nachher wird es Zeit sein, Abendbrot zu essen und einige Brücken zu überschreiten, um Brague im »Eden« aufzusuchen und sich an seiner Überraschung zu weiden …

 

… Ich wollte eigentlich auf den See hinausfahren, aber die Möwen fesseln mich. Beim ersten Brotstückchen ist es eine, dann sind es zwei, fünf, dann hundert, ohne daß man sehen kann, woher sie eigentlich kommen. Sie schnappen die Bissen im Fluge, steigen hoch, schweben, schreien; sie haben die Geschicklichkeit dressierter Tauben, die harten Köpfchen wilder Vögel und böse lauernde Augen. Sie kreischen, sie raufen miteinander, sie stürzen, den Kopf nach unten, gleichzeitig mit dem Brotstückchen aufs Wasser. Eine von ihnen ist frecher als alle anderen, sie hält sich in der Höhe meines Gesichts mit schlagenden Flügeln in der Luft und zeigt mir das verführerische Weiß ihres Bäuchleins und ihre Füßchen mit den ausgespreizten Krallen. Streckte ich den Arm aus, so könnte ich sie berühren– wenn sie es wollte, aber sie will es nicht. Sie betrachtet mich streng und gierig, und niemals verfehlt ihr Schnabel das Brotstückchen.

Unten auf dem durchsichtigen Wasser, das die wiedererschienene Sonne durchleuchtet, wiegen sich große weiße und schwarze Schwäne und verschlucken gierig, was den Möwen entfallen ist. Kleine schwarze Wasservögel, die mir ihren Namen nicht genannt haben, tauchen, und durch das klare Wasser hindurch kann der Blick diesen geschickten Fischern bis zum Grunde des Sees folgen. Das Köpfchen gleicht einem Pfeil, die Flügel sind an die Flanken gedrückt, die zarten Schwimmhäute der Füßchen geschlossen und unbeweglich …

Die Zeit vergeht, und ich schlafe fast auf der Bank der Landungsbrücke ein, betäubt von dem Geflatter der Möwen, von den Spiegelungen des Wassers, von dem Schaukeln der Schwäne. Ich möchte eines dieser lebendigen Tiere berühren und festhalten; sie müssen unter den Federn, von denen das Wasser in runden Perlen abtropft, ganz warm sein – ich möchte einem von ihnen die Finger auf das klopfende Herz legen und die Lippen auf das glatte Köpfchen … Oder ich möchte mein Verlangen stillen, indem ich sie malte, wenn ich malen könnte, sie modellierte, wenn ich ein Bildhauer wäre; da meine Hände nicht kneten können, nichts zu schaffen vermögen, suche ich vergebens nach Worten, um den blauen Reflex des Wassers in der Höhlung eines der ausgebreiteten weißen Flügel zu schildern: ganz neue Worte möchte ich finden, um die Geschmeidigkeit und seidige Weichheit dieses Gefieders zu beschreiben, dem die Wellen und der Regen nichts anhaben können …

Dieser plötzliche Hunger nach Berührung, dieses nervöse Zärtlichkeitsgefühl beim Anblick eines anmutigen Tieres ist, ich weiß es wohl, nichts anderes als ungenützte Liebeskraft, die überquillt; und ich glaube, daß solche Regungen in niemandem so heftig sind wie in einem alternden Mädchen oder in einer kinderlosen Frau.

 

»Die Ratte! Die goldene Ratte!«

»Berühmter Mime!«

»Küß mich, liebe Ratte!«

»Ich denke nicht daran! Wisch dir erst die Pfoten ab und dann die Schnauze – so! … Und nun verlange ich Bedenkzeit bis nach der Vorstellung.«

Ich schreie, übertreibe meine Abwehrbewegungen und meine entsetzte Miene, um meine Rührung zu verbergen. Wie könnte ich auch den Gefährten, mit dem ich sechs Jahre lang zusammengearbeitet habe, je kalten Herzens wiedersehen, und noch dazu in dieser wohlvertrauten Umgebung, in dieser dürftigen Garderobe, die mit ihren rohen Bretterwänden einer Baracke gleicht? Das »Eden« ist ein alter Zirkus, der schon längst den sympathischen Geruch von Pferdemist und warmer Streu verloren hat. Nun dient er Kino- und Tingeltangel-Darbietungen und wandernden Schauspielertruppen, aber keine Direktion hat sich die Mühe genommen, ihn zu verschönern oder behaglicher zu machen. Heute abend gibt Brague zwischen zwei Filmen »Die Behexung«, was nichts anderes ist als unser altes Stück »Verführung«, gewürzt durch einige obszöne Tänze, die zahme Vorführung einer Satansmesse und neue Dekorationen. Mademoiselle la Carmencita, meine Nachfolgerin, zeigt sich in schwarzen Schlangenlinien auf den orangefarbenen Plakaten, immer noch denselben, die Renée Néré hatte, aber das Publikum sieht nicht so genau hin … Was mich nicht daran gehindert hat, über dem Eingang des »Eden« meinen Namen in glänzenden Lettern zu suchen, und von einem leisen Schauer, von der eifersüchtigen Bewegtheit einer betrogenen Geliebten durchrieselt, habe ich die Garderobe Bragues betreten …

Denn er gastiert jetzt ohne mich, er, der mein Meister war, mein ehrlicher und rauher Freund. Nun gastiert er mit einer anderen … Vermißt er mich? Ist es eine Träne oder ein violetter Schminkstrich, was seine dunklen Augen erglänzen läßt? Er wird es mir nicht verraten, und unsere ersten Worte waren von fast boshafter Ironie. Er nannte mich wegen meiner Erbschaft »goldene« Ratte, und ich betitelte ihn »Berühmter Mime«, womit ich auf eine seinerzeit von ihm selbst verfaßte Zeitungsnotiz anspielte … Aber unsere ehrliche Freude äußert sich in Gelächter, in spaßhaften Lauten, die uns früher geläufig waren – ein kleines »Haha«, wie von einem englischen Clown, worauf das Schnurren eines verliebten Katers zu antworten hat, und in freundschaftlichem Geplänkel, das meine Eifersucht aufs neue entfacht.

Die Maschinen unter unseren Füßen dröhnen und spenden uns nicht nur eine unerträgliche Hitze, sondern auch den Geruch von Kohle und geöltem Eisen; es herrscht hier die Temperatur und der Geruch eines Kesselraumes – ich öffne meinen Mantel.

»Oh, oh, die Ratte ist als Dame herausgeputzt«, bemerkt Brague.

»Ich konnte doch in Nizza, woher ich eben komme, nicht gut in meinem Kostüm aus der ›Verführung‹ herumlaufen, mein Alter.«

»Warum nicht? Das wäre eine ausgezeichnete Reklame!«

Im Grunde mißbilligt er meine Toilette als ein »Phantasiekostüm«. Er würde mich lieber in meiner regelrechten Uniform von seinerzeit sehen, in Rock und Jacke, dem schlichten Schneiderkleid, das heute nur mehr Gouvernanten in sittenstrengen Häusern und Fürstinnen aus Herrscherfamilien tragen.

Nun betrachte ich ihn meinerseits:

»Brague, ist's möglich, hör mal! Du trägst noch dieselbe Lederhose, mit der du deine Rolle in der ›Verführung‹ kreiert hast?«

»Ich werde darin sterben«, erklärt Brague einfach.

Er beendet seine Schminkarbeit mit kleinen Pinselstrichen aus geheimnisvollen Farbtöpfchen. Ich lache vor Freude beim Anblick seines Tischchens, auf dem die wohlbekannte Schar kleiner brauner Flaschen, gelb gefleckter Lappen und Pinsel zu sehen sind … Es sieht durchaus nicht wie ein Schminktisch aus, man könnte weit eher glauben, Brague sei im Begriffe, Möbel anzustreichen, Kupfer zu polieren oder Stiefel zu putzen …

»Und – du bist zufrieden, Brague?«

»Ja, ganz zufrieden … Ich gebrauche meine Ellbogen – wie die anderen auch. Es wird immer schwieriger.«

»So?«

Vor mir steht, von Kopf bis zu Füßen, vom schwarzen Schnurrbart angefangen bis zu den roten Ledermokassins fürchterlich, ein wilder Moldau-Walache in rumänischem Hemd und montenegrinischem Gürtel, in dem eine lange griechische Pistole steckt. Wahrlich, wenn dieser »Schrecken des Balkans« einem versichert, daß er sich zur Wehr setzt, so glaubt man ihm aufs Wort …

»Ja. Mit den Gastspielen, weißt du, heißt's nicht mehr viel. So filme ich jetzt gelegentlich zur Abwechslung, vor allem aber habe ich vor kurzem eine glänzende Sache angefangen.«

»Ah?«

»Ja. Ich erteile Weibern und jungen Mädchen der Gesellschaft Anstandsunterricht. Einige orientalische Feste mit lebenden Bildern und ein paar Pantomimen, die ich im Laufe des Winters bei Schuhkönigen und Konservenfürsten veranstaltete, haben mir einen Namen gemacht. Die Damen reißen sich um mich.«

»So, so!«

»Du weißt, jede Frau, die nichts zu tun hat, ist von der fixen Idee besessen, etwas lernen zu müssen, was zu nichts nützt und sehr teuer ist … na also, da lehre ich sie eben, wie man sich gut benimmt. Ich habe einige feine Tricks. Vor allem bestell' ich sie mir um acht oder neun Uhr in der Früh ins Atelier Cernuschi; wenn sie so zeitig aus den Federn müssen, bilden sie sich schon ein, daß sie arbeiten. Einmal im Atelier, stelle ich mich an das eine Ende, die Damen an das andere, und rufe: ›Kommen Sie in ganz ungezwungener Haltung auf mich zu.‹ Du kannst dir die Wirkung vorstellen. Sie schreiten vorwärts, als ob sie auf einem gespannten Seil gingen, und man kann froh sein, wenn sie sich unterwegs nicht den Hals brechen. Das ist ein ausgezeichneter Anfang.«

»Aber nein! …«

»Und sogar die, die bald den Mut verlieren oder lieber in irgendeinen anderen Betrieb gehen, um Tango zu lernen – na, die Frivolen, meine ich –, auch die werden nicht von mir entlassen, ohne drei unentbehrliche Dinge gelernt zu haben: sich mit einem sechs Meter langen Schal zu drapieren – den Schal stelle natürlich nicht ich – eine Treppe hinunterzuschreiten, ohne sich dabei auf die Fußspitzen zu schauen und den Sockel einer Erosstatue mit Rosengirlanden zu bekränzen. Wenn sie damit nicht für das Leben ausgerüstet sind! …«

Brague strahlt vor Freude darüber, daß er seine brav zahlenden Kunden übers Ohr zu hauen versteht und außerdem »die Ratte« verblüfft, die Ratte, die andächtig lauschend auf einem Strohhocker sitzt, wie eine Dame zu Besuch …

»Aber abgesehen davon – bist du mit ›den Städten‹ zufrieden?«

»Mit den Städten schon, aber die Direktoren sind keinen Pfifferling wert … Habe ich dir die Geschichte von Bordeaux erzählt?«

Er nähert sich mir, die Hand auf dem Griff seiner griechischen Pistole:

»Wahrhaftig! Du kennst ja die Geschichte von Bordeaux nicht! Am dritten Tag, den wir da waren, macht sich der Direktor – wenn ich ihn so nenne, so ist das sehr höflich! – mit der Kasse aus dem Staub! Du siehst die Lage vor dir: zweiundzwanzig Nummern auf der Straße, die Sängerin kriegt eine Nervenkrise, das Riesenweib beginnt wüst zu schimpfen, dieser und jener droht mit Gendarmen und Staatsanwalt – als ob das je schon was genützt hätte! Also, was glaubst du, was ich gemacht habe? Ich habe alle Leute versammelt und …«

Ich höre zu, zwar nicht so aufmerksam, wie es den Anschein hat, aber ich höre immerhin zu. Ich ziehe die Brauen zum Zeichen des Staunens hoch, ich nicke mit dem Kopf, und wenn ich mir auch auf den Schenkel klopfe, um anzudeuten, wie unerhört mich der Fall dünkt, so bin ich doch überzeugt, daß sich die Geschichte von Bordeaux zum Ruhm des umsichtigen und weisen Brague in Wohlgefallen auflösen wird … Und indessen sage ich mir: »Er hat mich noch nicht gefragt, ob ich zufrieden bin, er hat mich noch nicht gefragt, was ich in den sechs Monaten getrieben habe, noch was ich künftig zu tun beabsichtige … Das interessiert ihn nicht, weil ich die Theaterlaufbahn verlassen habe, weil ich nicht mehr arbeite, weil ich erledigt bin … Ich existiere nicht mehr, ich tauge nur noch dazu, fünf Francs am Schalter zu bezahlen und mir die Vorstellung anzusehen … Na – das will ich denn auch tun …«

»Wo rennst du hin, liebste Ratte? Das ist erst die Zwischenaktsklingel, die du da hörst, wir haben noch gute zehn Minuten Zeit …«

Brague deutet mir mit der Hand, daß ich mich wieder setzen möge, und ich sehe, daß er auf der gelblichbraunen Schminkschicht, die den Handrücken bedeckt, die geschlängelten Adern nachgezeichnet hat, was ganz gewiß niemand im Zuschauerraum bemerken kann. Dieser kleine Beweis von Gewissenhaftigkeit rührt mich, und ich bleibe, um so mehr, als ich gerne wissen möchte …

»Sag mir, Brague, bist du … ich meine, bist du mit … meiner Nachfolgerin zufrieden?«

Sein Gesicht beginnt zu strahlen, soweit sein angeklebter Schnurrbart ihm das gestattet.

»O die, sag' ich dir!«

»Was ist mir ihr? …«

»Liebe Ratte, du weißt, daß ich mich nicht leicht verblüffen lasse. Die aber, sag' ich dir, verblüfft mich. Sie würde Gott Vater und den Senator Béranger bestricken, wenn diese beiden ehrenwerten Persönlichkeiten ein Café-Concert besuchten! Irgendwas muß sie haben in der Haut, in den Augen, in den Hüften … In dem Augenblick, weißt du, wo ich ihr das Kleid herunterreiße und den Dolch zücke, neigt sie den Kopf, schiebt die Zungenspitze zwischen die Zähne und schmeißt die Augen! Also das wirkt dir derartig auf das Publikum, ich kann dir's gar nicht sagen … Ich kann's mir nicht anders erklären, als daß sie nebst anderen Eigenschaften auch noch ein ganz besonderes Verständnis für die Rolle hat. Eigentlich stellt sie mich ein wenig in den Schatten … Warte, ich werde dir das Exemplar zeigen! Heda, Kindchen!«

Er klopft mit der Faust auf die Bretterwand, hinter der eine hohe Stimme »ja« antwortet, und das Exemplar erscheint alsbald auf der Bildfläche.

Es ist eine kleine brünette Person, deren Herkunft aus Bordeaux den spanischen Namen genügend rechtfertigt; sie hat dichtes krauses Haar, derartig glänzende Augen, daß man sie unbedingt als ausdrucksvoll gelten lassen muß, fehlerlose kleine Zähne und eine rot geschminkte Zunge. Das Hinterteil ist gewölbt, die Beine sind etwas zu kurz – ein recht kräftiges Pony, mehr feurig als rassig.

»Madame …«

»Madame, sehr erfreut …«

»Brague sagt mir, daß Sie sehr viel Erfolg haben …«

»Ja, ich bin nicht unzufrieden … Allerdings bedeutet die ›Behexung‹ nicht so viel für mich wie ein ganz neues Stück, die Rolle ist nicht von mir kreiert worden, aber ich habe mich bemüht, sie zu variieren und meinen Mitteln anzupassen.«

Sie zupft sich die Haare zurecht, in denen eine Granatblüte steckt, und betrachtet sich im Spiegel, um mich nicht ansehen zu müssen. Ich fühle, daß sie arrogant ist und der Schöpferin ihrer Rolle, die ihr zweihundert Aufführungen des Stückes weggeschnappt hat, kein Wohlwollen entgegenbringt. Ich beschimpfe sie im stillen, messe sie vom Kopf bis zu den Füßen, nenne sie insgeheim »Stöpsel, Tabakstopf, Schmierenkomödiantin« … Wir benehmen uns würdig, zurückhaltend, wechseln völlig lächerliche Spießbürgerhöflichkeiten, und mich packt die Lust, Brague zu prügeln, der sich eitel wie ein Hahn, um den zwei Hennen streiten, seinen falschen Schnurrbart streicht.

»Diesmal gilt das Läuten uns. Gehst du in den Zuschauerraum, liebe Ratte? Soll ich dir einen Platz anweisen lassen?«

»Aber keine Spur! Ich gehöre jetzt zu den ›zahlenden Schweinen‹. Es liegt mir daran, meine fünf Francs anzubringen.«

»Das ist wahr, ich vergesse immer, daß sie jetzt im Golde schwimmt, diese Ratte! Sie will uns Eindruck machen mit ihrem Reichtum, verstehst du, Kindchen? Also möge sie zahlen.«

Ich verlasse sie lachend, aber tief gekränkt. Er hat »uns« gesagt, als ob er mir absichtlich bedeuten wollte, daß ich aus dem Königreich verbannt sei, das einst mein war … Nun, da die erste Rührung vorüber ist, hat er alles Vergangene vergessen, und selbstgefälliger Egoismus erfüllt ihn … Er hat nicht nur eine zufriedenstellende Partnerin gefunden, sondern auch eine bequeme Freundin, die ihm die Freuden der Liebe schenkt … Er hat mir die Geschichte von Bordeaux erzählt und mir die von Brüssel versprochen, doch »meine Geschichten« über Nizza oder anderswo sind nicht wert, daß man danach fragt … Nichts kann mir fortan in Bragues Augen mein verlorenes Prestige wiedergeben. Wenn ich ihm sagte: »Ich heirate einen Milliardär« oder: »Ich werde Nonne«, so würde er antworten:

»Gut, wenn's dich freut. Aber hör einmal, ich muß dir die Geschichte vom Chef der Claque in Lyon erzählen, du wirst dich wälzen …«

»Nicht hier, Gnädigste! Diese Tür ist für das Theaterpersonal bestimmt, die Treppe rechts, wenn ich bitten darf.«

Ich wende mich nach rechts, folgsam, wie es einem gewöhnlichen Theaterbesucher ziemt. Gar nicht nötig, mir erst noch zu sagen, daß ich in diesem Etablissement nichts mehr gelte … Vor einem Jahr noch hätte ich dem Genfer Regisseur auf gut pariserisch geantwortet, und meine Rede wäre nicht allzu höflich gewesen … Doch ich habe die Unverschämtheit, die dem Theatervölkchen eigen ist, sehr schnell verloren. Übrigens eine recht harmlose Unverschämtheit, eine kindliche Anmaßung, die sich Freiheiten herausnimmt, wie etwa in eleganten Restaurants abends im Straßenkleid zu sitzen, während des Essens die Zeitung zu lesen und Untergebene in schüchterner Familiarität zu duzen … Ich wage dergleichen nicht mehr. Ich folge der Aufforderung des Regisseurs, steige die Treppe rechts hinunter, die ich ebenso gut kenne wie er, und setze mich auf meinen Platz zu fünf Francs zwischen zwei dicken Männern, die nach Bier und Tabak riechen, die ich atmen höre und deren Arme und Knie ich trotz aller Vorsicht immer wieder streife. Diese keuschen Genfer würden mir, wenn ich sie fragte, recht nachdrücklich sagen, was sie vom »Theatervolk« halten …

Als ich nach der »Behexung« heimgehe, ist mein Herz von Kummer und Eifersucht erfüllt. Anonym in der Menge, lasse ich mich zum Ausgang treiben, auf den regennassen Platz, und eines der letzten Worte meiner Stiefschwester Margot klingt mir im Ohr: »Du wirst ein würdiges Dasein führen können, und würdig nenne ich das Dasein einer Frau, wenn sie unbemerkt von den meisten Menschen durchs Leben geht …«

Unbemerkt! Sie kann zufrieden sein, die gute Margot; unbemerkt! … War ich es jemals mehr als hier, als heute abend? Vergessen, entrechtet … Zwischen Brague und der Carmencita ist ebensowenig Platz für mich wie zwischen den beiden Liebesleuten in Nizza …

Wenn ich in Nizza wäre, dann säße ich zu dieser Stunde im erleuchteten Speisesaal der Bonne Hôtesse, freute mich der Musik, die die Gedanken verscheucht, und des Weines aus der runden strohumflochtenen Flasche, lauschte dem Geschwätz Mays und lächelte ob der Narreteien Masseaus. Und noch eines würde mir zuteil, eines würde all meinen Gebärden, meinen Blicken und meinen Worten Sinn und Wert verleihen: die Begierde eines Mannes. Diese Begierde würde mich um all das bereichern, was ich nicht gewähre.

Es wird am besten sein, wenn ich Genf wieder verlasse. Wozu sollte ich Brague noch einmal wiedersehen? Ich habe genug an der Erfahrung des heutigen Abends. Mein Stolz als Freundin und Künstlerin fordert in Anwesenheit Mademoiselle Carmencitas zu laut den ersten Platz in Bragues Herzen sowohl wie auf den Anschlagezetteln; ich möchte nicht böse, ungerecht, klein werden. Das neue Kursbuch, das ich in Nizza gekauft habe, bietet mir freundliche Hilfe, und mein offenes Fenster umrahmt ein Stück des nächtlichen Himmels, klar nach dem Regen über dem dunklen See, in dem sich die Lichter der Brücken und Kais in langen Streifen spiegeln.

Wieder abreisen? … Es ist doch merkwürdig, daß ich, ein freier und alleinstehender Mensch, immer wieder fliehe, immer wieder verjagt werde. Neben Leuten, die mich stören, ist niemals genug Platz für mich. Nizza ist mir wegen May und Jean unbewohnbar, und Genf wird mir zu klein, weil die Carmencita hier mit Brague auftritt … Ich bin reif für einen Aufenthalt in Paris und noch dazu für einen sparsamen Aufenthalt. Eine goldene Ratte lebt mit zweitausend Francs monatlich recht üppig, doch darf sie nicht den größten Teil ihres Einkommens verschiedenen Eisenbahngesellschaften opfern.

Ich habe bereits viel zu viel Geld ausgegeben, und nur in Paris kann ich das wieder wettmachen. Also muß Paris mein Ziel sein und nicht etwa irgendein im Frühlingsregen schon grünendes Eckchen Frankreichs in der Bretagne oder der Normandie; Paris, weil ich weder die Kraft noch die Lust habe, mir eine andere Zufluchtsstätte zu suchen, und hauptsächlich, weil … weil … – ich muß wohl endlich eine Wahrheit aussprechen, die mir seit einem Jahre bekannt ist – … weil ich nicht zu reisen verstehe.

Nein, wirklich, ich verstehe es nicht, zu reisen. Jahrelange Gastspieltournees haben mich zwar gelehrt, einen Koffer zu packen, ein Kursbuch zu lesen und ohne Jammern und Stöhnen zwischen Mitternacht und sechs Uhr früh aufzustehen, doch so viel kann jeder Geschäftsreisende. Ist meine Sehnsucht nach unbekannten Landschaften und neuen Städten echte Wanderlust oder das Unbehagen eines Menschen ohne Heim und ohne Familie, der sich immer wieder einzureden versucht, »dort werde ich mich besser fühlen als hier, dort werde ich finden, was mir fehlt«? Die Antwort auf diese Frage ist mir nur zu klar …

Wie oft habe ich doch klagend die völlige Freiheit gepriesen, zur Zeit, da ich an einer Leine im Kreise lief. Wie oft habe ich sie besungen, die uneingeschränkte Freiheit, erfüllt vom lyrischen Schwung der einsam Lebenden, die ihr Schicksal in Monologen darzustellen pflegen, in witzigen Strophen, die recht hübsch wären, wenn sie nicht etwas Unnatürliches an sich hätten …

Ich klagte beruhigt, denn ich sah alles mögliche voraus, nur eines nicht: daß die Leine zerreißen würde.

Trotzdem war der Rausch, der folgte, ganz echt. Allerdings dauerte er nicht lange: eine seltsame Art von Bürokratenheimweh störte ihn. Dieses Leiden äußerte sich in plötzlichem Zusammenschrecken und in einer pedantischen Manie, »Wieviel Uhr ist es?« zu fragen. Es wird mir immer noch schwer, mich diesem quälenden Zwang zu entziehen, der mich dazu treibt, sonntags früher und schneller zu Mittag zu essen und während des Essens meine kleine Schweizer Uhr gut sichtbar neben meinem Teller liegen zu haben …

Ich habe abscheuliche Wochen durchlebt, in denen mir jeder Ort unerträglich schien, bloß weil ich mich nicht mehr gleich nach meiner Ankunft um die Straße zu erkundigen hatte, in der das geliebte Varieté lag, noch um die Stunden der Proben und der Aufführungen …

Damals – und nicht während meiner Künstlerlaufbahn – war ich wirklich nahe daran, Miss Herculea, der Athletin, zuzustimmen, die mit trauriger Stimme zu sagen pflegte:

»Alle Orte sind gleich: überall gibt es ein ›Lokal‹, in dem man arbeitet, ein schlechtes Hotel, in dem man schläft, und eine Münchener Bierstube, in der man sein Sauerkraut verschlingt …«

Ich kämpfte mit mir, ich durchforschte meine Seele: wie, auch ich sollte ohne das Theater nicht mehr leben können? Dahin sollte auch ich gelangen? Ich? … Und dieses stolze Ich bedeutete: »Ich, die ich für die Schönheit einer Landschaft empfänglich bin, für einen bunten Schal, den ich im Vorübergehen erblicke, für das zerfallene rötliche Gemäuer einer mächtigen Ruine, ich, die Empfindsame, Kultivierte.«

 

Die Ruhe kommt wieder, sie kommt immer wieder. Ich habe niemanden zu Hilfe gerufen, außer im Geiste Maxime Dufferein-Chautel – ich mußte das in mir heraufbeschwören, was ich am meisten auf der Welt vermisse –, ja, Maxime und Brague, Brague, meinen Freund, meinen rauhen Gefährten, meine dornige Stütze. Dieser aber durchreist die Welt und schlägt sich durch, und jener nahm sich eine Frau …

Die Ruhe kommt immer wieder, jedoch unter der Bedingung, daß ich einen Preis dafür zahle. Immer bin ich diejenige, die zahlt oder nachgibt. Ein kleiner Spaziergang durch die Stadt, und dann, sowie ich eine Stunde der Schalheit und Beklemmung erlebe, Lust, wieder abzureisen. Das ist schon fast eine Gewohnheit geworden, ein hygienischer Grundsatz, an den ich mich blindlings halte. Jean und May streiten sich, Masseau erschwert die Lage: ich reise ab. Brague fordert mich auf, in Genf zu bleiben, Mademoiselle Carmencita ist darüber wenig erfreut, mir selbst fällt die Anwesenheit dieser Dame auf die Nerven: also werde ich abreisen. Das ist sehr bequem – besonders für die anderen, die bleiben können, wo sie sind.

 

… Gewiß, ich urteile sehr vernünftig über diesen oder jenen und über mich selbst, es fehlt mir nicht an gesundem Menschenverstand. Aber es fehlt mir an Leichtigkeit, ich nehme alles ernst wie eine alte Jungfer. Die Aufmerksamkeit des einzelnen Herrn stört mich, aus der Gleichgültigkeit Bragues mache ich ein Drama, und der Teufel soll mich holen, wenn mich nicht eine unwillige und ein wenig sinnliche Bewegung einen Augenblick lang glauben ließ, Jean werde mir sein Leben zu Füßen legen.

Drei weiße Schwäne ruhen dicht an der Mauer des Kais – sie schlafen nicht, ich sehe, wie ihre Hälse sich aufrecken und niederbeugen, und die Ruderbewegung ihrer Füße zieht goldig schimmernde Wellenkreise um sie. Wann schlafen sie wohl? … Das Bild des dunklen Sees und der Lichter an seinem Ufer heimelt mich an, weil es schon Geschautes, beinahe Vertrautes enthält. Nun werde ich fortziehen, einen anderen mir bereits bekannten Ort aufsuchen. Vielleicht wird eine Kirchturmspitze, die Silhouette eines Berges, oder auch nur eine lärmende Straße oder das freundliche Gesicht eines Gastwirtes, der mich mit meinem Namen anspricht, mich eine kleine Weile glauben lassen, ich sei – nicht angekommen, sondern heimgekehrt.


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