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Wenn Hamond noch lebte, würde er mein Geständnis anhören, dann würde er den Kopf schütteln und sagen:
»Das ist kein ehrbares Verhältnis!«
Ich höre seine Stimme; ich sehe sein langes Gesicht mit der großen, abenteuerlichen Nase – mit einem Worte, ich betrauere ihn genug, um mich von der Ansicht, die er gehabt hätte, betroffen zu fühlen, und ich verteidige mich, als ob er mir gegenüberstünde.
»Kein ehrbares Verhältnis! Und was ist ein ehrbares Verhältnis?«
Mein alter Freund hätte nicht ermangelt, mir mit jener zurückhaltenden Aufrichtigkeit zu antworten, mit der er all meinen Einwänden zu begegnen wußte:
»Das ist ganz einfach ein Verhältnis, durch das Sie sich im stillen oder öffentlich geehrt fühlen können.«
Ich bin böse über diese seine Antwort, die ich mir da erfunden habe, ebenso wie ich ihm böse war, als er eines Tages plötzlich starb. In den ersten Wochen nach seinem Tode empörte ich mich in wütendem und unduldsamem Schmerz: »Mir das anzutun! Mir! Mir! …«
Er fehlt mir immer noch. Egoistische Trauer befällt mich, sobald ich nicht gerade eines Rates, aber doch einer unparteiischen Meinung bedarf, eines klugen Gedankenaustausches, der mich von ermüdenden Selbstgesprächen ablenkt. Dann kommt es vor, daß ich, wie eben jetzt, meinen verstorbenen Freund heraufbeschwöre, daß ich mir einbilde, ihn sprechen zu hören; aber das hat nichts mit »Geisterbeschwörung« zu tun – ich lasse einfach nur Renée Nérés Gewissen mit der Stimme Hamonds sprechen.
Es gibt Tage, da ich, aus Jeans Armen kommend, zu Fuß die Festungswälle entlang wandere, auf denen das erste Grün zu sprießen beginnt, und mich im Gehen leise frage: »Ist das alles?« Ja, es ist alles. »Es ist reichlich genug«, antwortet der erschöpfte Körper. Wie weise ist dieser glückliche Körper, der auf müden Füßen dahinschreitet.
Kein ehrbares Verhältnis. – Warum mit nutzlosen Worten das schlecht vereinte, aber gut zusammenpassende Paar, das wir sind, schmähen? Warum gebe ich mich nicht gleich Jean der reizenden Unbesonnenheit hin, die ihn dazu treibt, uns, zwei einander Fremde, nur durch die Wollust miteinander Verbundene, unter einem Dach vereinigen zu wollen? … Ich bin gerührt, daß er mein »Nachtgepäck«, die kleine Handtasche, in der ein Nachthemd und ein Paar seidene Pantoffeln verborgen sind, nicht länger dulden will, noch mein Hinundherwandern zwischen dem Boulevard Berthier und dem Hôtel Meurice; ich bin gerührt, wenn er plötzlich vom Eßtisch aufsteht und mit einem Zollstab in der Hand in den ersten Stock hinaufsteigt. Wenn er von unserem »künftigen Zusammenleben« spricht, unterbreche ich ihn niemals, um zu sagen: »Du machst keineswegs Zukunftspläne; du befassest dich bloß mit Fragen der Wohnungseinrichtung.« Ich will ihm nicht sagen, daß er durch einen Entschluß, den er für ehrlich und unabänderlich hält, unsere gebrechliche, aber vielleicht dauerhafte Beziehung zu zerstören droht, diese Beziehung, deren unbequeme äußere Form mir taugt. Ich darf es ihm nicht sagen. Ich muß mich ebenso weit binden wie er, und das ist im Grunde nicht sehr weit: Jean räumt mir in seinem Hause einen Platz ein – nur in seinem Hause. Ich weiß bis heute noch nicht, ob der Bruch mit May eine vollendete Tatsache ist.
Allem Anschein nach und wenn mein Gefühl mich nicht trügt, ist er nicht mehr ihr Geliebter, aber er hat mir das nicht förmlich mitgeteilt. Worauf wartet er noch, um es zu tun? Auf das neue Bett und den neuen silbergrauen Teppich? … Die Wohnungseinrichtung …
Seit unserer Umarmung vor dem verglimmenden Feuer bildete ich mir ein, etwas in den Händen, in den Armen zu halten, was Max mir weder hätte geben können noch wollen: Liebe um der Liebe willen, die Freude an einem schönen Widerpart, der gut zu mir paßt, eine Leidenschaft, der man sich bewegt und überzeugt hingibt … Bisher haben die Vorbereitungen für unser Zusammensein einen Teil meiner künftig müßigen Tage ausgefüllt; und ich vergegenwärtige mir, wie schnell mir zwischen Erwartung, Besitz und genießerischem Erinnern die Zeit vergeht … Das ist sehr viel. Das ist genug. Ich habe anspruchsvolle junge Frauen erklären hören: »Für mich gibt es in der Liebe nur: alles oder nichts!« Nun, ein hübsches und gut dargebotenes »Nichts« ist doch schon etwas …
Jean verlangt mehr, und ich stimme zu, um ihm an Großmut nicht nachzustehen. Das Absonderliche an unserer Beziehung ist, daß wir einander von morgens bis abends an Rücksicht überbieten, ohne daß der Gegenstand es je wert wäre.
»Willst du ins Theater gehen?«
»Ja, gern.«
»Aber vielleicht hast du keine Lust?«
»Mir ist recht, was du willst …« Und so weiter.
Solange wir einander nicht duzten, machten wir weniger Umstände … Aber dafür: welche Freude, wenn unsere Körper sich wieder finden, welch echte Hingabe, wenn er seinen Mund auf den meinen preßt, wenn seine Hand mich liebkosend befragt. Ein Vertrauen, das man nicht vortäuschen kann, blüht in uns auf … Hier wenigstens eine wahre Vertrautheit … ansonsten … Ist das alles? Gewiß, das ist alles. Und wer würde sich damit nicht begnügen?
»Was willst du unternehmen? Kommst du nicht mit mir zu Levallois in die Karosseriefabrik? Der Wagen hat nämlich neulich etwas abgekriegt, mußt du wissen …«
Ich verziehe den Mund, und der Spiegel vor mir mahnt mich: Achtung! Diese Miene ist rasch zu unterdrücken!
»Nein … Die Karosseriefabrik lockt mich nicht …«
»Wohin aber gehst du?«
»Ich weiß nicht … Ein bißchen spazieren, vielleicht bis zum Hotel; die Wäscherin muß ein paar Blusen für mich gebracht haben.«
»Weshalb bleibst du nicht hier, wo du zu Hause bist?«
Ich biege eine Hutnadel zurecht und sehe Jean in alberner Verwunderung an. Wahrhaftig, weshalb bleibe ich nicht hier? Im Rauchzimmer unten sind Bücher, eine Chaiselongue, ganz leichte Zigaretten – die Sorte, die mir die liebste ist –, und Victor, der Diener, wird mich mit diskreter Fürsorge umgeben, welche besagt: »Nicht etwa, daß Sie mir sympathisch sind, aber die andere hing mir bereits zum Hals heraus.« – Denn selbst das Schweigen dieses Pariser Kindes hat den Akzent der Vorstadt …
»Nein … Weißt du, ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nicht ausgehe.«
»Dann mußt du ganz gewiß an die Luft.«
»Ich mache nur einen kleinen Spaziergang und komme bald wieder …«
Ich lüge. Ich werde ins Hôtel Meurice gehen.
Ich werde meine Wäsche zählen und sie mit Parfüm besprengen, um den Geruch von Chlor und Plätteisen zu verscheuchen; ich werde die Zeitungen, die man mir morgens bringt, öffnen und sie, in einem bequemen Lehnstuhl sitzend, die Füße auf dem Tisch, rasch durchblättern. Ich werde herumtrödeln, meine Nägel polieren und den vertrauten Geräuschen lauschen, die vom Hof heraufdringen, dem Klappern der Teller und Gläser, die zum Diner bereitgestellt werden, dem fernen Klang der Geigen unter dem Glasdach der Halle. Dann wird es Zeit sein, mich umzukleiden, und ich werde mit einem frisch zurechtgemachten Gesicht hierher zurückkommen, mit einem Gesicht, dem ein paar Stunden lang nichts fehlen wird, das ich vielleicht sogar ein bißchen zu schön hergerichtet haben werde. Kurz, ich werde weder etwas Böses noch etwas Gutes tun; – aber ich werde ins Hôtel Meurice gehen. Das ist mein Recht, meine Gewohnheit, ein mir notwendiges grämliches Intermezzo. Und heute abend wieder dahin zurückkehren, denn ich schlafe nicht am Boulevard Berthier – noch nicht …
Wir kennen gemeinsam nur den Schlaf am Tage, der einen plötzlich befällt und alsbald ebenso plötzlich entschwindet. Eine ganze Nacht, die Überraschungen des Erwachens, die Entdeckungen am hellen Morgen – nicht daß ich bei dem Gedanken etwa für Jean etwas fürchtete …
Oft schlafen wir am Nachmittage bei Sonnenschein und Frühlingsregen. Sobald es an der Haustür klingelt, taucht Victors glattgeschorener Kopf durch ein Souterrainfenster in Straßenhöhe auf – und er schützt uns vor einem möglichen Besuche Mays …
May … Ein Name, den wir vor zehn Tagen jeden Augenblick nannten und nun allmählich aus unserem Wörterbuch streichen; ein Name, um den sich eine etwas zweideutige Ungewißheit immer stärker verdichtet … Ich habe nicht an May geschrieben; unsere Beziehung war stets zu oberflächlich, als daß wir Briefe gewechselt hätten. Wenn ich es jedoch über mich gebracht hätte, Jean zu sagen: »Behalte May, nimm ihr nur die heimlichen Stunden, die mir gehören«, so würde mir dieser unehrliche Ausweg ehrliche Befriedigung gewährt haben, das weiß ich … Was würden sie wohl von mir denken, die Damen mit dem Wahlspruch »alles oder nichts«, diese strengen Frauenrechtlerinnen der Liebe? … Aber ich spreche nicht von Liebe im allgemeinen, ich verteidige nur meine Art von … mein … mit einem Worte, ich will nur, daß man mir das läßt, was ich habe, was mir so neu ist, so leicht, was meine Seele beruhigt und meinen Körper neu aufblühen läßt … Ich kenne die große Leidenschaft, den großen Schmerz; ich habe sie erlebt wie alle anderen auch, damals, als ich eine unerfahrene junge Frau war … Jetzt würde ich gerne alle Menschen zufrieden wissen – auch May …
Plötzlich steht sie neben mir, im selben Augenblick, da ich im Geiste ihren Namen nannte, so daß mein erster Gedanke ein Selbstvorwurf ist: »Das geschieht dir recht, warum hast du sie gerufen?«
Sie hat mich eingeholt, während ich die Tuilerien entlangging; sie springt aus einem orangefarbenen Auto, einem komischen kleinen Wagen mit einem nackten runden Hinterteil – er erinnert mich an gewisse kranke Hennen, die die Federn verlieren. Ich laufe nicht davon, doch während May mit trippelnden Schrittchen auf mich zueilt, denke ich, wie wohlbeschützt ich nun in Jeans Rauchzimmer auf der Chaiselongue liegen könnte … Ich seufze und ergebe mich in die Szene, die kommen wird.
»Finde ich Sie endlich, Sie Auskneiferin!«
Auskneiferin? … Also keineswegs eine Szene, keine Vorwürfe, sondern ein Herzenserguß. Sie weiß … alles – alles – außer, daß ich diejenige bin? …
»Kommen Sie hier herein, ich habe Ihnen sehr ernste Dinge mitzuteilen.«
Sie zieht mich in den kahlen Park, in dem kein Grashalm und kein grünes Blatt zu sehen ist. Ich gebe nur die nötigsten Antworten – um keine Pausen des Schweigens eintreten zu lassen.
»Also, wirklich wahr … Sie tauchen immer so unerwartet auf wie ein Komet … Woher kommen Sie?«
Hoffentlich fragt sie nicht noch weiter. Mays Parfüm, ihr Arm, den sie unter meinen geschoben hat, ihre Anwesenheit an sich, der plötzliche Kontakt mit der Mätresse Jeans regen mich in außerordentlich peinlicher und unerwarteter Weise auf, – besonders dieser runde Arm unter dem meinen ist unerträglich, der Arm von Jeans Mätresse …
»Sehr ernste Dinge, sage ich Ihnen. Sie sehen prächtig aus. Aber ich bin blaß, nicht wahr?«
Sie ist rosig wie eine blühende Azalee, aber unter diesem Rosa verbirgt sich ohne Zweifel echte Blässe. Ich finde sie sehr hübsch. Ich finde sie hübscher denn je. Ein breites Band um den Strohhut geknotet, der Hals bloß über der knapp anliegenden und dabei tief ausgeschnittenen Bluse, ein Büschel hell leuchtender Haare auf der Schläfe, einer Goldborte gleich – niemals noch, nein wirklich niemals haben ihre fünfundzwanzig Jahre in so glücklicher Weise die Verirrungen einer blödsinnigen Mode verschönt. Ich denke nur das. Ich muß mich zusammennehmen, um mich in die Wirklichkeit zu versetzen, um mir zu sagen: »Dieser jungen Frau da hast du ihren Geliebten gestohlen. Anstatt des geschlossenen Regenschirmes könnte ihre Hand eine Waffe zücken …« Kein Schauder – höchstens der eines leichten Widerwillens, wenn May im Gespräch meinen Arm stärker drückt oder ihre bloße Hand auf die meine legt …
»Wissen Sie, was geschehen ist?«
»Was denn?«
»Nach Ihrer Abreise von Nizza.«
»Nein …«
»Jean hat mich verlassen.«
»So …«
»Sie haben es gewußt? Masseau hat es Ihnen wohl gesagt? Nach meiner Rückkehr hierher – ich übergehe die Einzelheiten, nicht wahr? – ist Jean noch zweimal bei mir gewesen und war sehr nett …«
»Ach …«
»Ich mache ihm kein Kompliment, indem ich das sage, denn wenn er besonders nett wird, ist das immer ein schlechtes Zeichen … Ich bin ihm nicht auf den Leim gegangen. Und vor fünf Tagen hab' ich den Brief bekommen.«
»Welchen Brief?«
»Na, den Brief. Den Brief, worin steht, daß alles aus ist.«
»Ach! Und Sie haben nichts unternommen?«
Ein scharfer Wind fegt über die Terrasse und jagt uns stechenden Staub ins Gesicht. May hält den Rand ihres Hutes fest; mir treibt es die Tränen in die Augen. Aber es fällt uns nicht ein, fortzugehen.
»Wie? Was soll ich unternommen haben? Ach! Sie meinen wohl, ob ich irgend so ein Zeug, so ein Betäubungsmittel … Wo denken Sie hin! Wegen eines Jungen wie Jean! …«
»Ist denn etwas Besonderes an ihm?«
May wendet der gelben Seine den Rücken zu und lehnt sich an die Balustrade. Den Hut krampfhaft festhaltend, den Rock über Leib und Knie gespannt, sieht sie aus, als stünde sie bei starkem Wind auf einer Segeljacht …
»Gar nichts Besonderes, wenn Sie so wollen, und andererseits wieder sehr viel … Er ist eben ein Mann. Je mehr Männer man kennenlernt, desto mehr findet man, daß sie im täglichen Leben einander alle gleichen. Doch wenn dann irgend etwas passiert, wenn es ein Zerwürfnis gibt oder sonst ein Ereignis, steht man da und schaut sie an, als ob man sie noch nie gesehen hätte. Finden Sie nicht, daß ich recht habe?«
»Es ist schon etwas Wahres daran.«
»Ich habe diese Empfindung bei Jean noch stärker gehabt als bei den anderen … Ein bißchen habe ich sie ihm gegenüber sogar immer gehabt …«
»Das konnte man aber nicht merken …«
May lächelt verstohlen, ihre blonde Haarsträhne über dem Auge; sie hat meine trockene Erwiderung für ein Kompliment gehalten.
»Es war aber doch so. Er ist ein Mensch … man weiß nie, wie man's ihm recht machen soll. Vor allem ist er über alle Maßen eingebildet.«
»So?«
»Na, und ob … Wenn er sich irrt, versuchen Sie einmal, ihn mit der Nase draufzustoßen – da werden Sie hübsche Dinge erleben. Er versteht alles, er weiß alles. Weil er mit Automobilen spekuliert und da und dort Geld verloren hat, weil er einmal in die Politik hineingeschmeckt hat – er war ganz kurz Departementchef von Ille-et-Vilaine –, weil er dies und das probiert hat, ist er unfehlbarer als der Papst.«
»Hm.«
»Und ein Heimlichtuer ist er, meine Liebe! Wenn man glaubt, daß er keinen Pfennig hat, dann schwimmt er im Geld; und wenn er das Geld zum Fenster hinauswirft, dann sitzt er auf dem trockenen … Immer ist er voll Hochmut. Seine Art, mitunter gar nichts zu antworten, wenn ich ihm eine ordentliche Schimpfrede hielt … seine Art zu rauchen, ohne ein Wort zu sprechen, die Zigarette zwischen den Zähnen und das Kinn vorgestreckt …«
Es gibt keinen Ort, glaube ich, an dem ich mich übler fühlen könnte als hier. Der Wind, Mays Worte, die Scham, sie anzuhören – all das zusammengenommen versetzt mich in einen Zustand, der an Migräne, Seekrankheit und Magenkrämpfe erinnert. Daß diese Frau leidet, kann ich nicht bezweifeln. Sie leidet eben, wie sie zu leiden vermag, ihrem Wesen entsprechend …
»… Und dabei zu lächeln, wissen Sie, als ob er etwas sehen würde durch die Wand hindurch, was der andere nicht sehen kann; ›die Jungfrau von Orleans und ihre Visionen‹ nannte ich das …«
… Aber ich habe kein Recht, die Art ihres Leidens zu bewerten. Wie kann ich nur diese demütigenden Bekenntnisse anhören? Jede meiner Fragen, meine Ausrufe, die immer neue Antworten herausfordern, Mays Rede verlängern, sind nicht besser, als an Türen horchen oder fremde Briefe öffnen.
Das einzige anständige Wort, den mutigen Ausruf: »Sprechen Sie nicht weiter, Jean gehört mir«, bringe ich nicht über die Lippen …
»Gehen wir ein bißchen, hier ist es unerträglich … Übrigens sind das alles keine Verbrechen, die Dinge, die ich Ihnen da von Jean erzähle. Auch er ist eben ein Original … Wenn eine Frau ihrem Liebhaber nachsagt, daß er hochmütig und eingebildet ist, hinterhältig und nicht allzu freigebig, so braucht er deswegen noch lange kein schlechter Kerl zu sein. Aber Jean hat noch schlimmere Eigenschaften …«
»Welche denn?«
Die Mauer der Orangerie schützt uns. Beeilen wir uns während dieser Windpause, lauschen wir dem letzten bösen Gezischel, dem Trumpf, den sich die kleine verlassene Geliebte bis zum Schluß aufgehoben hat … Ach, wie ich friere! …
»Das Ärgste ist seine Art, sich plötzlich aus dem Staub zu machen.«
»So?«
»Er macht sich aus dem Staub wie kein anderer, und man erwischt ihn nie wieder. Ich spreche ganz ruhig darüber, jetzt, wo der erste Schreck vorüber ist, Gott sei Dank. Schließlich hat Jean mir nicht mehr und nicht weniger angetan als Marthe Byse, der Operettensängerin, oder Madame … ach, zum Kuckuck, mein Namensgedächtnis … der hübschen blonden Witwe – Na, es ist ja egal. Er macht sich plötzlich aus dem Staub, das ist das Schreckliche. Wenn man eine Frau verläßt, so tut man das gewöhnlich nach einer Szene, nicht wahr? Oder es ist eine allmähliche Entfremdung. Er aber, meine Liebe, er verschwindet mitten in einem Satz, macht die Tür hinter sich zu, und weg ist er, oder er geht sich Zigaretten kaufen, und man sieht nichts mehr von ihm als einen sehr gut geschriebenen, sehr verblüffenden Abschiedsbrief … Ich weiß nicht, ob Sie auch so sind wie ich, aber mir macht das einen viel stärkeren Eindruck als die sonst übliche große Abschiedsszene: ›Da wir uns trennen müssen …‹ Jeans Art zu verduften ist die allerärgste. Er macht es, müssen Sie wissen, nicht etwa so wie einer, der einem das Portemonnaie wegnimmt und dann sofort spurlos verschwunden ist. O nein! Man schreibt ihm, man bittet ihn um eine Unterredung, und es erscheint jemand, der Jean heißt und eine Krawatte und einen Anzug trägt, die man kennt. Man erkennt den Spazierstock, die Manschettenknöpfe, sogar den Ton der Stimme. Der Herr selbst aber … der ist nicht mehr da … Man schaut ihn an, man reißt die Augen auf und fragt sich: Also habe ich eigentlich mit diesem Mann in einem Bett gelegen, oder nicht? Wissen Sie, ich bin nicht boshaft, aber ich möchte das Gesicht meiner glücklichen Nachfolgerin sehen, wenn Jean ihr auf und davon geht … So, jetzt fängt's zu regnen an, das hat uns noch gefehlt. Kommen Sie, ich bringe Sie in meinem Wagen nach Hause – ein gelber Wagen, die Farbe ist die richtige für meine Stimmung, glaube ich. Der Wagen und der, der drin sitzt, sind ein Versuch, ein schwacher Versuch …«
»Ich kann nicht, ich habe eine Besorgung zu machen, hier nebenan unter den Arkaden …«
»Also laufen wir! Kommen Sie unter meinen Schirm.«
»Nein, nein, laufen Sie nur voraus, ich habe nichts an, was den Regen nicht vertragen könnte … Laufen Sie nur! … Ja, gut, ich werde Ihnen telephonieren …«
Sie läuft mit kleinen Schritten, den Rock wie ein Höschen über die Knie hinaufgezogen. Da läuft sie hin, erleichtert um das, was sie mir hinterlassen hat. Ha! Jetzt möchte ich sprechen, gestehen, herausschreien, was ich vorhin unterdrückte …
»May! …«
Zum Glück hört sie nicht … Ich rufe einem Taxi, das eben vorüberfährt, die Adresse Boulevard Berthier zu: »Und schnell …« Wenn Jean sich in meiner Abwesenheit »aus dem Staub gemacht hätte«?