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X

Ja, ja, das wird Paris sein«, sagt Jean.

Er wischt die Fensterscheibe mit einem Zipfel des Vorhanges ab und bemüht sich zu erkennen, was draußen vorgeht. Die Nacht wirft ihm nur sein eigenes Spiegelbild zurück, und ich sehe die beiden Gesichter, ein dunkles und ein helles, Stirn an Stirn, wie zwei Widder, die miteinander kämpfen wollen.

Er verharrt in dieser Stellung, froh vielleicht, ausruhen zu können, die müden Augen nur der dunklen Nacht zu zeigen. Wir haben es satt, stundenlang einander gegenüber sitzend zu reisen.

Mit May war das weniger ermüdend; – ich erinnere mich an eine Fahrt, da Jean mit schiefgeneigtem Kopf und halb geöffnetem Mund in einer Ecke des Abteils schlief; ich zog meinen Schleier übers Kinn herunter und rührte mich nicht mehr, während May, wach wie eine Fledermaus, das rechte Auge unter der Krempe ihres Lederhutes verborgen, zwanzig Zigaretten rauchte, mit Zeitungen raschelte und uns neidisch betrachtete … Diesmal aber … Ehrlich gesagt, wir haben heute entzückende Stunden verlebt. Im Speisewagen zum Beispiel war es lustig, das Liebespaar zu spielen, gemeinsam auf der Weinkarte einen Wein auszusuchen, der uns über den Hammelbraten trösten sollte, und mit scheinheiligem Vorwurf Jean zuzuflüstern:

»Seien Sie doch nicht so liebenswürdig mit mir! Das geht nicht. Die Leute werden denken, daß wir einander eben draußen auf dem Gang kennengelernt haben!«

Wir sind allein; die Gegenwart einer Dame mit Zwicker und ihres kleinen Bulldoggs zählt nicht. Der kleine Kerl will sich durchaus nicht niederlegen. Er schläft im Stehen ein, die Nase in der Luft, wacht wieder auf und fängt von neuem zu schlafen an, wie Fossette, meine selige Fossette. Ich sage zu Jean:

»Wenn Sie Fossette gekannt hätten …«

Und ich erzähle ihm einige Züge aus dem Leben dieses Hundegenies. Sein Gesicht zeigt beim Anhören der kurzen Berichte aus meinem früheren Leben einen höflichen, geduldigen, ein wenig degoutierten Ausdruck. Also gut, ich werde schweigen. Ich werde mit entrüstetem Nachdruck schweigen! … Andererseits habe ich bemerkt, daß Jean eine ganz besondere Physiognomie bekommt, wenn er von seiner Familie oder von sich selbst spricht.

Er sagt: »Mein Vater … mein Onkel La Hourmette …« mit einer gewissen wichtigtuerischen Leichtigkeit; er sagt: »Das war im Todesjahr meiner armen Mutter, der guten Frau« in einem Ton liebenswürdiger Geringschätzung, und setzt scherzend hinzu: »Jeder tötet seine Mutter ein wenig durch den Kummer, den er ihr bereitet!«

Ich hätte ihm antworten können: »Ich nicht!«, nur um sein erstauntes Gesicht zu sehen, mit dem vorgestreckten Kinn und den hochgezogenen Augenbrauen: »Hat man denn beim Varieté überhaupt eine Familie? Was kann denn das schon Großartiges sein, du lieber Gott! …« Alle Anspielungen auf May jedoch werden eifrig und mit größter Ungeniertheit aufgenommen: »Wir essen selbstverständlich diese Woche einmal alle drei zusammen?«

Ich fand das selbstverständlich ein bißchen übertrieben und antwortete mit einem jener rätselhaften Blicke, von denen Jean tadelnd behauptet, daß zuviel hineingelegt sei. Er zollte mir nicht ohne Ironie Beifall:

»Ausgezeichnet! Es ist vielleicht nicht gerade ein Blick für die gute Gesellschaft, aber er ist ausgezeichnet.«

In zwölf Stunden Eisenbahnfahrt lernt man einander kennen, selbst wenn man wenig spricht. Die Verachtung für meinen früheren Beruf, die Jean zu zeigen nicht ermangelt, beweist, daß er sich in Gedanken nachdrücklich genug damit beschäftigt, um den Wunsch zu haben, diesen Teil meiner Vergangenheit auszulöschen – und daß seine verliebten Absichten ein wenig weiter gehen als bis zum Begehren der nächsten Nacht …

Zweimal sprang er plötzlich auf, als wollte er den Zug aufhalten und aussteigen; dann setzte er sich wieder ganz artig hin:

»Verzeihen Sie, bitte, Eisenbahnfahren macht mich entsetzlich nervös. Im Auto bin ich ganz liebenswürdig, aber in der Eisenbahn … dieses Eingesperrtsein, das …«

»… das nicht enden will …«

»Jawohl, das nicht enden will! Wir würden uns überall wohler fühlen als hier. Und Ihre Geduld könnte übrigens einen Heiligen zur Raserei bringen.«

»Die Gewohnheit des Reisens, müssen Sie wissen …«

»Ja, ich weiß, ich weiß! Fangen Sie nur nicht wieder das alte Lied von den Gastspielreisen an, oder es passiert ein Unglück!«

Ich lache, weil ich an Max denke und weil es mir schon Spaß macht, Jean über die Ursachen meiner Heiterkeit zu täuschen … Jedenfalls lerne ich in seiner Gesellschaft nicht der Tugend Geschmack abgewinnen.

Trotz allem fühle ich mich ganz wohl in diesem Abteil, in dem es nach Orangenschalen, Staub und frischen Zeitungen riecht. Nun aber haben wir beide genug davon. Die Gefühle, die wir füreinander hegen, gestatten uns weder langes Stillschweigen noch lange Gespräche oder fortgesetzte Unterhaltungen; unsere Bootfahrt machte mich ungeduldig, die Mahlzeiten schienen mir endlos, und er ist erschöpft nach diesen zwölf Stunden unausgesetzten Zusammenseins. Wenn er es wagte, er riefe: »Spielen wir etwas anderes!«

Du schwankende Gestalt, du »Unbekannter« meines Traumes, ich kenne das Spiel, das dir gefallen würde, und auch ich denke daran …


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