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III

Bonsoir, Madame la Lune,
       Bonsoir!
C'est votre ami Pierrot qui vient vous voir …«

May singt richtig, aber der Aufgang des Abendgestirns hätte meinem Gefühl nach auch ohne die Begleitung dieser Montmartre-Serenade vor sich gehen können. Dieser Mond, der über dem Meer aufsteigt, ein roter, noch nicht ganz voller Mond im Nebel, ist derselbe, der jüngst als schmale Sichel zwischen zwei Wolken schwebte, in jener Nacht, da ich nicht schlafen konnte. Das leise Grauen ob der so schnell und leer dahinfliehenden Zeit läßt mich die Kälte dieser Stunde fröstelnd empfinden. Noch ist es Tag, aber das Licht zieht sich schon von den Baumgruppen und selbst von den staubigen Rändern der Straße zurück. Es hält sich nur mehr an den weißen Hausfassaden, verweilt auf der geschlängelten Straße, auf unseren bleichen Wangen. Dies ist der Augenblick, da man unter den Villen und ihren künstlichen Gärten die traurige und starre Trockenheit dieser felsigen Küste errät … Warum mußte May »Bonsoir, Madame la Lune …« singen?

Wir sind vier in dem Mietauto, das uns nach Nizza zurückführt, May und ich auf den Rücksitzen, Jean, ihr Geliebter, und Masseau uns gegenüber. Da ein scharfer Wind uns den Staub und den der vorüberfahrenden Wagen in die Augen bläst, sind wir alle vier durch Autobrillen halb maskiert. Der Gesang Mays hat mich aufgeweckt, und ich vergnüge mich nun damit, diese drei Halbgesichter zu studieren. Infolge der Dämmerung kann man die Augen hinter den schimmernden Gläsern nicht sehen, das Kinn, der Mund und die Nasenflügel aber wirken um so sprechender. Wenn ich nicht selbst maskiert wäre, würde es mich stören, meinen Gefährten im Gespräch nur auf die Lippen zu sehen … May verliert unter der Maske mit den ovalen Ausschnitten: man bemerkt, daß sie kaum eine Nase hat, aber wie beweglich und jung ist doch ihr etwas flacher Mund! Angesichts ihrer vollen Wangen, auf deren reichlichem Haarflaum der Puder so gut haftet, kränke ich mich über meine ein wenig dürre Schnauze … Ein Gähnen Jeans erweckt mit einem Male Interesse an diesem Männergesicht in mir. Ich habe niemals bemerkt, wie sehr dieser rasierte, trotzig geschwungene Mund mit den feinen Winkeln die Schwächen und Vorzüge eines Charakters verrät, noch daß das Kinn eigensinnig und weiblich zugleich ist und der niedere Kragen einen ziemlich breiten, aber anscheinend nicht muskulösen Hals sehen läßt … Wenn er seine Maske ablegt, muß ich mir seine Augen ansehen.

Masseau hat heute nacht Opium geraucht – selbstverständlich! Es genügt, ihn anzusehen: zwischen der großen Nase und dem altmodischen Spitzbart die blassen gequälten Lippen eines klugen, traurigen Mundes, die Wangen von grünlichgelber Farbe. Er schweigt und wartet … Er wartet auf Nizza, um dort wieder rauchen zu können. Er schnitt eine nervöse Grimasse, als May »Bonsoir, Madame la Lune« sang; auch schien mir – ganz sicher bin ich nicht –, daß gleichzeitig ein recht übelwollendes Lächeln über Jeans Lippen huschte.

Instinktiv schließe ich meinen Mund fester, in der berechtigten Sorge, daß man aus ihm – solange meine Augen nicht da sind, um zu lügen – die Müdigkeit lesen könnte, den Ekel über einen schlecht begonnenen, sinnlos verbrachten und nun in mißzufriedenem Schweigen endenden Tag …

Der Wagen, in dem wir fahren, ist nicht besonders gut, und auch die Straße ist mangelhaft; infolge ihrer zahlreichen Biegungen werden wir bald nach links, bald nach rechts geworfen; ich straffe mich, um nicht auf May zu fallen, May plumpst schlaff an meine Schulter. Unser Gedankenaustausch beschränkt sich auf Ausrufe, die lustig sein sollen oder den Zustand der Straße bemängeln. Das leuchtende Monte Carlo entlockt mir einen Seufzer: nur mehr fünfzig Minuten Fahrt.

Die Lichter wecken May; sie nimmt ihre Brille ab und enthüllt ihre schönen blinzelnden Augen und ihre kleine Nase, die einen roten Streifen trägt: »Jean, Jean, wenn wir in Monte Carlo dinierten? So wie wir sind, ekelhaft und verstaubt? … Nein? Warum nicht? Ach, natürlich, wenn es darum geht, irgend etwas Lustiges zu unternehmen, dann ist keiner dabei! Jean, schau, dort ist die Stelle, wo du mir voriges Jahr eine Ohrfeige gegeben hast. Ja, meine Liebe, das hat er getan, das Scheusal. Jean, hast du die kleine Villa an der Ecke gesehen, die von den Gonzalez? Da kann man schön draufzahlen, wenn man sich einen solchen Kasten in Monte Carlo mietet …«

Auch ich grüße im Vorüberfahren meine Erinnerungen, aber ich sage nichts. Da ist die »Villa des Bananiers«, ein mittelmäßiges Hotel für bescheidene Börsen, wo Brague und ich inmitten von Künstlern, alten Spielerinnen in schwarzen Spitzenhäubchen und uneleganten Ausländern wohnten … Ganz nahe beim Théâtre des Beaux-Arts kenne ich ein finsteres, aber nettes englisches Lokal, in dem ich nach der täglichen Matinee eine heiße Zitronade oder einen süßen Grog trank. Gewöhnlich war dort um diese Tageszeit nur ein einziger Engländer, ein Mann mit dunkelrotem, alkoholglänzendem Gesicht, der sich gemächlich betrank und ein leises Liedchen vor sich hinsummte … Es scheint mir, als wäre es gestern gewesen – ich weiß noch genau, wie es in den Pavillons des Théâtre des Beaux-Arts, in denen wir uns an warmen Nachmittagen ankleideten, roch: nach sonnenbeschienener Leinwand und feuchter Erde, ein Geruch, der selbst den der Schminke übertäubte …

Vor dem Hôtel de Paris fährt das Automobil langsamer, zögert ein wenig, als ob es uns einlüde, auszusteigen.

»Jean, wir sollten hier abendessen.«

Der maskierte Mann schüttelt den Kopf, besinnt sich jedoch und wendet sein ausdrucksvolles halbes Antlitz gegen mich:

»Haben Sie Lust dazu?«

»Ach, was mich betrifft …«

Ich möchte lieber gleich nach Nizza zurückfahren, aber wenn ich das gestehe, werde ich May ärgern, und ich fürchte mich vor dreiviertel Stunden Schimpferei und Tränen.

»Was mich betrifft …«

»Gut«, sagt Jean entschlossen. »Chauffeur, fahren Sie weiter.«

»Ekelhafter Kerl«, schreit May in den Wind, »was hätte es dir schon geschadet, einmal liebenswürdig mit mir zu sein? Ich möchte wissen, warum du hier nicht zu Abend essen willst?«

»Weil ich keine Lust dazu habe«, erwidert Jean in aller Ruhe.

Ein heiseres Lachen folgt dieser Antwort: es ist das Lachen Masseaus, den man seit Stunden kein Wort hatte reden hören …

»Ah, du bist auch da!« wirft ihm May feindselig zu. »Mir scheint, es geht dir besser?«

Masseau nimmt seine Brille ab und zeigt im Lichte der vorüberfliehenden Lampen seine kleinen rotgeränderten Augen, die boshaft blinzeln wie die eines satanischen Bürokraten.

»Es geht mir besser, in der Tat, besser, als wenn es mir noch schlechter ginge. Wenn Sie sagen, es gehe mir besser, so nehmen Sie dabei offenbar an, daß es mir zu einem früheren Zeitpunkt, den Sie übrigens nicht genau bestimmen, weniger gut gegangen sei. Da ich aber im allgemeinen mit meinem Gesundheitszustand nicht zufrieden bin, kann ich Ihnen nur antworten: ›Es geht mir besser, besser, als wenn es mir noch schlechter ginge.‹«

Er hat die Stimme eines Greises und ein Gesicht ohne Alter. Er ist schwach, aber selten müde, bald vom Gift erregt, bald betäubt. May duzt ihn – aber sie duzt so viele Männer! Sie dürfte ihn nicht besser kennen als ich, die ich ihn in vierzehn Tagen vierzehn- oder fünfzehnmal gesehen habe. Über ihn befragt, antwortete sie mir: »Was weiß ich? So ein alter Kauz aus den Kolonien.«

Heute abend erwacht er nach langem und trübsinnigem Stillschweigen, durch die Nachtluft und das wirkende Gift belebt. Mit einer feinen gelblichen Hand streichelt er sein Bärtchen, das aus Heu zu sein scheint, und erklärt mir, indem er mich aus dem Augenwinkel anblickt:

»Die Geste des ›homme à femmes‹.«

Dann breitet er seinen Bart fächerförmig aus und verkündet:

»Henri IV.«

Er nimmt seinen Filzhut ab, dreht sich über der Stirn einen steilen Haarschopf zusammen und sagt:

»Louis X le Hutin.«

Im Augenblick aber, da die Nacht, die nach den Lichtern von Monte Carlo um so schwärzer scheint, uns wieder einhüllt, verfällt er aufs neue in Stillschweigen und fröstelnde Unbeweglichkeit. Die Leuchttürme, die eben angezündet worden sind, öffnen einen strahlenden, von blassen, zitternden Regenbogenfarben umrahmten Lichtkreis vor unseren Augen. Die trockene Luft ist nun weniger kalt, ich atme sie in tiefen Zügen, stütze meinen Nacken gegen das niedergeschlagene Autodach und fühle mich entspannt in der Gewißheit, daß ich nun bis Nizza unsichtbar bleibe, durch die Nacht besser verborgen als durch die Maske mit den Augengläsern …

»Verzeihung«, sagt die Stimme Jeans, der eben mit seinen Knien die meinen berührte.

»Na, schön«, sagt May vorwurfsvoll, »jetzt fußle noch mit ihr, das ist die Höhe!«

»Wieso die Höhe? Du bist nicht höflich gegen Madame Renée Néré, May!«

»Was ist«, murmelt im Luftzug die Stimme Masseaus, »die Höhe des versäumten Diners in Monte Carlo? Antwort: Die Höhe des versäumten Diners in Monte Carlo ist, mit Madame Renée Néré zu fußeln.«

Ich fühle, wie May sich an meiner Seite in Verzweiflung windet.

»Herrgott, was seid ihr mir doch alle beide widerlich! Zu denken, daß ich einen Geliebten habe, der für gescheit gilt, und daß es Verblendete gibt, die Masseau für geistreich halten! Ich frage mich, was an euch, an dir und ihm, Besonderes ist. Hast du, gescheiter Liebhaber, je versucht, mir Freude zu bereiten oder Rücksicht auf mich zu nehmen?«

»Niemals«, antwortet der gescheite Liebhaber schlagfertig. »Du bist keine alte Dame, und es verknüpfen mich keinerlei Bande der Verwandtschaft mit dir. Infolgedessen …«

Wieder einmal staune ich über dieses Paar, bei dem die Frau nur im Bett als Frau behandelt wird.

In vertikaler Lage sieht sich May aller Vorrechte ihres Geschlechtes beraubt, und das Liebeseinverständnis schlägt in lausbübische Plänkelei um … Diese Leute sind etwas Neues für mich. Ich habe, als ich noch eine junge und törichte Ehefrau war, das Joch meines Gatten ertragen, und Maxime Dufferein-Chautel hätte mir gerne eine zärtliche, traditionell bürgerliche Autorität aufgezwungen. Ich habe Hamond, meinen alten Freund, unter die albernen Launen eines herrschsüchtigen Kindes gebeugt gesehen und hinter den Kulissen jene primitive Liebesglut beobachtet, durch die das Weibchen in die Macht eines Stammeshäuptlings gerät … Niemals aber ist mir etwas begegnet, was sich mit May und Jean vergleichen ließe.

Vom Gelde und von den Zärtlichkeiten – und wie sind die schon beschaffen! – abgesehen, zollt er ihr keinerlei männliche Huldigung.

»Und übrigens«, sagt May plötzlich, als ob sie eben dasselbe gedacht hätte wie ich, »nehme ich von morgen ab im Impérial ein Zimmer mit Bad für mich allein. Ich habe es satt, daß das erste Bad immer für dich eingelassen wird, ich habe es satt, deinen Rasierpinsel voll Seifenschaum auf meiner Zahnbürste zu finden. Meine Liebe« – May wendet mir ihr Gesichtchen zu, dessen blasses Oval ich kaum unterscheiden kann –, »ich weiß nicht, ob Sie so sind wie ich …«

»Nein«, sagt Jean.

»Was, nein?«

»Ich sage: nein, sie ist nicht wie du, sie findet keinen Rasierpinsel auf ihrer Zahnbürste und sie ist auch nicht meine Geliebte.«

»Sag, daß dir das leid tut, komm, sag es gleich.«

»Warum denn gleich? May, warum bist du immer so überstürzt? Immer diese Eile, die das Beste verdirbt. Gestern früh, um nur ein Beispiel zu erwähnen …«

»Gestern früh? Was habe ich gestern früh getan?«

»Soll ich es sagen?«

Masseau, der zu schlafen schien, beginnt Interesse zu zeigen. Im Scheine der Lichter von Beaulieu, durch das wir eben fahren, nimmt er, um zuzuhören, die träumerische Pose eines der sentimentalen Bilder an, die Disderi auszustellen pflegte: einen Finger am Mundwinkel, Auge und Ohr gespannt, verkündet er:

»Ich bin die Kaiserin Eugénie.«

Aber es wird ihm keine skandalöse Enthüllung zuteil, denn May bietet den spärlichen und friedfertigen Spaziergängern von Beaulieu das ungewöhnliche Schauspiel einer jungen Frau, die, aufrecht in einem roten Automobil stehend, den ihr gegenübersitzenden Herrn mit allem Nachdruck boxt und dazu schreit:

»Ich verbiete es dir! Ich verbiete dir zu erzählen, was gestern morgens war, oder ich erzähle von deinem Furunkel am Popo und die Geschichte von der Watte.«

Ein tüchtiger Puff wirft sie bei diesen Worten in den Hintergrund des Wagens zurück; ich schütze mich empört, so gut ich kann. Diese nächtliche Rückfahrt längs des von Blinkfeuern erhellten Meeres hätte entzückend sein können; es ist so schnell Nacht geworden, daß man das schwarze Wasser des Hafens, auf dem ein hell erleuchtetes Geschwader leise schaukelt, kaum mehr unterscheiden kann … Das Liebespaar, das erst raufte, verharrt nun in zweifelhafter Umschlingung, und ich wende mich ab, weniger aus Schamgefühl als infolge der gespannten Aufmerksamkeit Masseaus …

Endlich nähern wir uns Nizza. Jene leuchtende Girlande dort ist die Promenade des Anglais und auf dieser Promenade befindet sich mein vorübergehendes Zuhause, zwar nur ein Hotelzimmer, aber immerhin ein Raum, dessen Tür ich verriegeln kann und in dem ich mein eigenes Parfüm einatme …

»Wieviel Uhr ist es?«

Diese Frage ist mir wider Willen entschlüpft, als wir an dem Theaterchen vorüberfuhren, dessen Name in roten Perlen die letzten Bäume des Jardin Public beleuchtet. Welch ein winziges Theater! Wie war es da so behaglich voriges Jahr, während die Dezembergüsse auf das Pflaster klatschten und die Zweige der Mimosen wie naß gewordene Straußenfedern herabhingen …

»Strafe zahlen«, schreit May. »Sie hat schon wieder nach der Zeit gefragt. Unter einem Goldstück geht es nicht ab.«

»An wen zu bezahlen?« fragt Masseau.

Das Automobil hält vor dem Hôtel Impérial, May aber ist so verblüfft, daß sie nicht sofort aussteigen kann.

»An wen? An mich selbstverständlich. Wenn ich da bin, wird keinem anderen Geld ausbezahlt!«

Jean zuckt die Achseln und springt, ohne etwas zu sagen, aus dem Wagen. Weder scharfe Worte noch Züchtigungen vermöchten May von dem zutiefst in ihrem Charakter wurzelnden Fehler zu heilen; immer denkt sie an das Geld, bewertet alles nach Francs und nach Goldstücken; bei der Heimkehr von einem königlichen Souper erzählt sie nicht etwa: der Tisch bog sich unter Blumengewinden und Fruchtkörben, sondern berichtet: Pfirsiche waren da für fünf Francs das Stück, meine Herrschaften, und um fünfzig Louisdor Orchideen auf dem Tisch … May stibitzt nichts aus der Börse eines anderen, aber sie bedient sich ihrer als ein vornehmer Gast, der selbstverständlich von jeder Speise zuerst nimmt …

… Da wären wir also. Wieder einmal. Da stehen wir nun, in Pelze gehüllt und mit Brillen versehen wie Nordpolforscher, und haben nicht mehr als hundert Kilometer Chaussee befahren. Wir blinzeln in der hellbeleuchteten Halle unter den Blicken etlicher englischer Junggesellen mit kurzen Pfeifen und der Leute am Spieltisch – zwei Francs auf fünf, zwei Francs auf zehn und, hol's der Kuckuck, zwei Francs auf vierzig, das nie herauskommt – lauter pünktliche Gäste, die den Speisesaal schon verlassen haben. So wenig auserlesen dieses Publikum ist, findet es May doch notwendig, ihm zuliebe ihre Chinchillamütze abzunehmen und ihr Haar derartig zu schütteln, daß die Haarnadeln nach allen Seiten regnen – wie es sich eben für ein »Original« schickt –, worauf sie von Jean einen hinterlistigen harten Fußtritt in die Wade erhält. Masseau, der weder für Mode noch für gute Sitten etwas übrig hat, gähnt so stark, daß ihm Tränen in die Augen kommen; sein Bärtchen wird von dem sonderbaren hohen Kragen seines Lodenmantels hochgehoben.

Er erblickt sich in einem Spiegel, verzieht die Mundwinkel zu einem gekünstelten Lächeln, beugt sich gegen mich und murmelt mir zu:

»Henri III.«

Ich finde, daß der Fahrstuhl auf sich warten läßt … Ich schäme mich ein wenig unter den neugierigen Blicken dieser Fremden, die unsere Gruppe nach ihrem Gutdünken aufteilen und sich wohl fragen: Mit welchem der beiden Männer wird die jüngere Frau hinauffahren?

Schließlich entführt uns der Lift alle vier auf einmal; damit endigt ein Augenblick des allgemeinen Unbehagens und einer falschen Vertraulichkeit, die fast schon in Abneigung umgeschlagen ist. Wir sagen uns in einem kalten und harten Ton »auf Wiedersehen«, als ob wir uns auf immer zu trennen gedächten.

»Ach, diese Leute, diese Leute! …« Ich weiß nichts hinzuzufügen und so beginne ich von neuem: »Diese Leute, oh, ich habe genug von ihnen …«

Der Zimmerkellner, der mir ein mit Tee und Früchten beladenes Tablett gebracht hat, nimmt ein Briefchen für May mit, in dem ich mich kurz entschuldige:

»Ich muß mich erkältet haben, liebe Freundin; ich lege mich ohne Abendbrot zu Bett, denn ich fühle mich recht elend. Entschuldigen Sie mich. Auf morgen.«

Nun kann ich bei doppelt verschlossener Tür weiter auf und ab gehen, wobei sich meine üble Laune noch steigert: »Ich habe genug von diesen Leuten!« Ein heißes aromatisches Bad, das meiner wartet, strömt einen herben Geruch aus. Ich schlürfe in alten Pantoffeln umher, mein offener Schlafrock läßt ein zerknittertes Hemd sehen, dessen Stickerei keine Bänder aufweist: wie man merkt, nehme ich die Verheerungen, die die Hotelwäschereien anrichten, ruhig hin … Zur Zeit, da ich mir selbst meinen Lebensunterhalt verdiente, fehlte es meiner bescheidenen Wäsche weder an Bändern noch an Knöpfen … Diese unentschuldbare Nachlässigkeit verdoppelt meine Wut. »Oh, wie habe ich diese Leute satt!« Aber ich nenne niemanden bei Namen aus Angst davor, ich könnte mich selber beschimpfen.

Was hat mir schließlich Masseau getan, der gebildete Bibliomane, der dem Opium verfallen ist? Warum May mehr als Jean die Schuld dafür zuschieben, daß der Müßiggang der beiden sich zu meinem gesellt? Sie ist nicht bösartig, er ist angenehm, er lacht gern und spricht wenig. Beziehe ich in die Zahl »dieser Leute«, die ich so sehr satt habe, auch den »einzelnen Herrn« mit ein, den Ärmsten, und das Personal des Hotels und die Spaziergänger auf der Promenade? Ja, es ist mir lieber so. Es ist besser und weniger ungerecht. Arme May, die mir gar nichts getan hat … Eben ißt sie wohl mit Jean in der Bonne Hôtesse oder im Casino zu Abend, oder das Zimmer Nummer 82 ertönt unter den Schreien und Schlägen einer neuen großen Rauferei … Ich dehne und strecke mich im heißen Wasser meines Bades und lache ohne Wohlwollen bei der Vorstellung, daß May, verprügelt und geschäftstüchtig, morgen früh bei mir erscheinen wird: »Meine Liebe, schaun Sie sich das an, er hat mir für fünfzig Goldstücke blaue Flecke geschlagen …«

Ja, ich habe genug von diesen Leuten, es ist wahr. Und ich beginne nicht nur mich selbst besser zu kennen, sondern auch die Vor- und Nachteile dieses sonderbaren Landes, in dem die Vormittage entzücken und die Abende, selbst wenn die Sterne funkeln, vom fröstelnden Unbehagen eines zwitterhaften Klimas erfüllt sind. Ist die Nacht hier kalt, so wirkt sie doch nicht erfrischend, und ist sie warm, so zittert mehr Fieber durch sie als Wollust. Habe ich mir in den wenigen Tagen meines Hierseins die Launen des mittelländischen Winters zu eigen gemacht? Oder war ich vielleicht schon vorher so unausgeglichen wie das hiesige Klima? Die Sonne könnte hier im Januar die Trauben zur Reife bringen, wenn nicht ein Windhauch, ein Zipfelchen eisigen Schattens genügten, um alles zu vernichten … Max, in deinen Armen lag ich geborgen wie im Grab, und doch habe ich mich erhoben, um zu fliehen …

Nein, ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum ich mit »diesen Leuten« noch länger beisammenbleiben sollte. Einzig und allein Müßiggang bindet uns aneinander. Voriges Jahr hatte May einen anderen Geliebten, weniger verführerisch, aber bequemer als der jetzige. Ich habe diesen ein wenig verlegen und zurückhaltend zur Kenntnis genommen, während May sich mit einer Unbefangenheit, einer organisatorischen Emsigkeit in dem neuen Verhältnis einrichtete, wie sie andere Leute nur bei der Ausstattung einer neuen Villa entfalten.

May? … Ich kann auf sie verzichten, ebenso wie auf Jean. In einem Jahr sind wir einander nicht nähergekommen. Wir haben über Liebe, Hygiene, Kleider, Hüte, Schönheitsmittel und Kochkunst gesprochen, ohne deshalb füreinander mehr Zuneigung oder Achtung zu gewinnen. Zehnmal habe ich mich ohne Bedauern von May getrennt – zehnmal hat sie mit einem flüchtigen Händedruck Abschied von mir genommen, und zehnmal ist sie mir, allein oder in Begleitung, wieder in den Weg gelaufen, hat meine Pläne, meinen Entschluß, das weise und geregelte Leben einer gereiften Frau zu führen, über den Haufen geworfen und allemal gerufen: »Ich bin doch ein Original, nicht wahr?« Im Augenblicke, da sie auftritt, schließt sich das geöffnete Buch, der bilderreiche Quell der Träumerei versiegt, und der Geist, der in den Höhen zu schweben versuchte, kehrt zur Erde zurück. Die Worte selbst entfliehen mir, es bleiben nur zwei- bis dreihundert alltägliche Vokabeln übrig, etliche Argot-Ausdrücke und die Wendungen, deren man bedarf, um nach dem Weg zu fragen, Speise und Trank zu verlangen und der Liebe zu pflegen – kurz das, was in den kleinen Handbüchern fremder Sprachen steht … Aber ich wehre mich nicht, ich schließe das Buch und ziehe ein Abendkleid an, um May oder May und Jean in irgendein Nachtlokal zu folgen …

Ich weiß sehr gut, daß May keineswegs einen stärkeren Willen besitzt als ich, wohl aber weit mehr Beweglichkeit; es ist eine sprudelnde Kraft in ihr, die kein Gedanke hemmt. Sie hat mich gelehrt, daß man ohne Hunger essen, ohne etwas zu sagen sprechen, aus Gewohnheit lachen und, weil es so Sitte ist, trinken kann, daß man in Knechtschaft neben einem Manne leben und sich doch den Anschein fanatischer Unabhängigkeit geben kann. Sie hat wohl auch Nervenkrisen und Anfälle von Lebensüberdruß, aber sie kennt zwei große Ärzte für ihre Seele: die Maniküre und den Friseur; darüber hinaus gibt es nur noch Opium und Kokain. Wenn May blaß und mit umringten Augen sich von Stuhl zu Stuhl schleppt, gähnt, friert, wegen eines Wortes zu weinen beginnt und sich vergebens von einer leeren Vergangenheit und einer ebenso leeren Zukunft abwenden will, dann ruft sie plötzlich leidenschaftlich: »Man schicke mir die Maniküre« oder: »Ich werde mir die Haare waschen lassen.« Beruhigt und getröstet überläßt sie ihre kleinen Pfoten, ihre goldblonden Haare den geschickten Händen, die massieren, polieren, bürsten, ondulieren können, beginnt unter dieser wohltätigen Behandlung zu lächeln, leiht Tratschgeschichten und nichtssagenden Schmeicheleien ein williges Ohr, verfällt in den Dämmerschlaf eines Rekonvaleszenten.

Ist sie heiter? Die Männer finden es. Ich finde es nicht. Die Natur hat zwar in ihr rundes Kindergesicht einen nach oben geschwungenen Mundbogen gezeichnet, verschmitzte Augenwinkel und ein kurzes, bewegliches Näschen, also die Züge des Lachens selbst. Aber Heiterkeit ist nicht unstet flackernde Erregung, nicht ewiges Geplapper und Wortgeplänkel, nicht Sucht nach taumelndem Vergnügen … Heiterkeit ist etwas Ruhiges, wie mir scheint, etwas Gesünderes und Ernsteres …

Vielleicht ist Jean im Grunde heiterer als May. Man hört ihn wenig, er ist ebenso leicht bereit zu drohen wie zu lächeln, aber man kann ihm die Munterkeit der Leute, die einen guten Magen besitzen, nicht absprechen. Während May im Streite mit ihm sofort außer sich gerät und mit Augen und Händen nach einer Schere oder einer Hutnadel sucht, schlägt Jean sie einfach mit der flachen Hand, ohne Perversität, in einer Art turnerischer Fröhlichkeit …

Trennen wir uns also, jawohl, trennen wir uns von diesen Leuten. Ob ich es nun will oder nicht, sie nehmen zu viel Platz, zu viel Zeit in meinem Leben ein. Zwar gleicht es kargem Boden, dieses Dasein, May aber, die mich immer wieder heimsucht, hinterläßt trippelnd Fußspuren darin, auf denen nichts mehr wächst. Warum noch zögern? Immer wieder sage ich mir: »Schließlich kenne ich diese Leute ja gar nicht …« Heute abend aber wird mir mit jeder Minute klarer, daß ich sie nur zu gut kenne.

Und was man über unser Trio schon alles gemunkelt haben mag! Eine einzelne Frau innig befreundet mit einem leichtfertigen Liebespaar … Wie mir das doch ähnlich sieht! Bei dem bloßen Gedanken, daß jemand eine schlechte Meinung von mir haben könnte, von mir, der Unbekannten und fortan zurückgezogen Lebenden, ist mir zumute, als ob Paris, die Provinz und die Höfe des Auslandes den Blick tadelnd auf mich gerichtet hielten. Und tugendhafte Empörung erhitzt mein eben noch so kühles Bett, dessen Laken vom häufigen Plätten übermäßig glatt sind und einen keuschen Chlorgeruch verbreiten, den mein Parfüm nicht völlig zu übertäuben vermag.

Ich schlief schon fast; da kehrt mein Zimmernachbar heim und schlägt die Tür mit gleichgültiger Roheit hinter sich zu. Dann poltern zwei Stiefel zu Boden, als ob sie von einem Ende des Zimmers zum anderen geschleudert würden; sie fallen so hart auf, daß man glauben könnte, der Mann trage Holzschuhe … Nun geht er auf Socken, aber der geworfene Parkettboden kracht unter dem Teppich, und ich unterscheide genau, daß der Hotelgast vom Frisiertisch zum Nachttisch und dann vom Nachttisch in das Waschkabinett geht. In diesem Waschkabinett, das an meines stößt, ertönt das Geklimper mit dem Mundglase, der harte Fall irgendeines Silber- oder Nickelgegenstandes, das Rauschen des Wassers, das in die Badewanne rinnt … Ach, es ist mir unmöglich, irgend etwas zu überhören, was der verspätete Reisende tut … Ich warte in geekelter Ergebenheit, daß der Schlaf den unbekannten Gast für einige Stunden in das Nichts zurückwerfe; ich wünsche dem verhaßten Fremdling eine Ohnmacht, wenn nicht den Tod … Ich warte, daß er endlich aufhöre, umherzutappen, wie ein Löwe zu gähnen, zu husten und zu spucken und seine Baritonstimme durch ein Räuspern zu klären, das die Gläser auf meinem Nachttisch erklirren läßt …

Über meinem Kopfe zittert die Decke unter gedämpften Schritten. Im anderen Nebenzimmer werden trippelnde Schritte laut und die grelle Stimme einer keifenden Frau. Sie spricht mit jemandem, dessen geflüsterte Entgegnungen ich nicht höre. Es ist, als ob sie telephonisch einen Streit austrüge. Ich warte. Bei all dem Lärm verharre ich unbeweglich wie ein Einbrecher. Ich wage kaum zu atmen, gleichsam um den anderen das Beispiel des Stilleseins zu geben …

Die Klingel am Gang ertönt zweimal, dreimal, zehnmal unter dem Druck eines nervösen Fingers. Der Fahrstuhl bleibt mit einem elastischen »Bum«, das den Flur erschüttert, stehen, und seine eiserne Gittertür wird heftig zugeschlagen. Das ist die Hotelnacht, und ich, die ich von Hotel zu Hotel wandere, kann die schlaflosen Nächte nicht mehr zählen, in denen zu Boden fallende Stiefel, zugeschlagene Türen, Hustenanfälle, all die Geräusche des Menschenstalles die langsam verrinnende Zeit wie Stundenschlag begleiten. Zum dumpfen Baß der Schnarchtöne sind mir zuweilen auch schon heftige Themen erklungen: der Revolver des Wahnsinnigen, der abscheuliche Schrei der hysterischen Dame, der röchelnde Alptraum des Spielers aus Monte Carlo … Oft haben die dünnen Wände auch sanfte Klagen, die Seufzer einer stürmischen Liebesumarmung zu mir dringen lassen; dann störte ich meine Nachbarn roh durch gewaltsames Husten oder einen Faustschlag an die Mauer, denn ich bin recht streng gegen die Wollust anderer geworden …

Nichts zwingt mich dazu, noch länger die Unzahl abgeschmackter kleiner Folterqualen zu ertragen, die das Hotelleben einem bereitet. Wenn es mir beliebt, kann ich morgen eine friedliche Villa beziehen oder eine bequeme Wohnung in Paris, denn der Tod meiner Stiefschwester Margot hat mich ja zur Rentnerin gemacht. Fünfundzwanzigtausend Francs Renten bedeuten für eine Frau wie mich geradezu Reichtum. Aber – ich will nicht, ich kann nicht. Ein Hund, der lange an der Leine war, ergeht sich, wenn man ihn losläßt, nicht sogleich in munteren Sprüngen; er läuft in gleichmäßigem Schritt weiter, und sein Instinkt berechnet immer noch die Länge dar nicht mehr vorhandenen Leine. Ich setze mein Hotelleben fort – warum auch nicht? Der unterbrochene, gestörte Schlaf, die unregelmäßigen Mahlzeiten, der Zichorienkaffee und die bläuliche Milch – das alles gehört zu meinem Los.

Zudem habe ich, seit ich meinen Beruf aufgab, eine egoistische und perverse Freude daran, am Morgen, wenn andere Leute arbeiten, noch zu schlafen. Ich muß gestehen, daß es mir süß ist, zu einer Stunde, da der junge Tag bläulich durch die Jalousien schimmert, das harte Klopfen des Hausdieners an der Nachbartür zu hören und mir vorzustellen, wie da jemand neben mir erschreckt aufwacht, in fröstelndem Unbehagen gähnt, sich beeilt, in den Morgenregen hinaus muß und womöglich den Zug versäumt … Voll häßlicher Schadenfreude rekle ich mich im warmen Bett und habe gerade Zeit, leise vor mich hin zu murmeln: »Jetzt sind andere an der Reihe«, ehe ich mich dem Morgenschlafe hingebe, einem leichten Schlummer, reich an Träumen, fast bewußt, von innen her erhellt durch die seltsamen Gestirne des Traumes und von außen durch das Licht des Tages, das meine halb geschlossenen Lider vollends öffnen will …

Es muß spät sein – die elektrische Wanduhr schlägt keine Stunden, sondern läßt nur alle sechzig Sekunden ein fast unmerkliches Knarren hören. May und Jean dürften nun wohl aufgehört haben, zu streiten, vielleicht ist auch die Versöhnung bereits vorüber … Im Nachbarzimmer ertönt ein breites und majestätisches Schnarchen, das von Zeit zu Zeit durch ein hartes »Klok« komisch und unheimlich unterbrochen wird. Diese Art Schnarchen ist mir nicht unbekannt. Ich ziehe es dem fortschreitenden Schnarchen vor, das leise beginnt, stärker wird und schließlich in einem Hustenanfall endet. Auch durch Masseaus Nase erschallt nun wahrscheinlich ein dumpfes Getöse, wenn nicht etwa die Opiumlampe noch brennt, eine kurze Flamme, die unter einem Tropfen Saftes zuweilen knisternd aufflackert …

Ich schlafe nicht – aber ich werde nicht ungeduldig. Diese Nacht wird nicht länger und auch nicht kürzer sein als andere ähnliche Nächte. Jede Nacht nimmt ein Ende – das bedenken Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, in der Regel zu wenig; man muß ihnen verzeihen, denn sie sind zumeist krank. Ich bin nicht krank; und ich bin an schlaflose Nächte gewöhnt. Ich zünde die Lampe nicht an, ich öffne kein Buch: die besten Mittel, den Schlummer völlig zu verscheuchen und die Augen zu übermüden. Ich warte. Widerlich sind sie, die hinter diesen Wänden, oberhalb dieser Decke ruhen und wie trunkene Barbaren schlafen; widerlich sind sie, aber … sie sind da. Wer weiß, ob ich nicht, anstatt ihre Nähe zu fliehen, sie gerade suche? Vielleicht irrte ich, als ich an dem Tage, da ich meine Wohnung verließ und auf jede bequeme häusliche Bedienung verzichtete, mich der Einsamkeit zu nähern glaubte … Von so vielen verhaßten Hütern umgeben, als ein Zimmer Wände hat, wiederhole ich, als wollte ich mir ihre Anwesenheit bestätigen: »Widerlich sind sie«; umringt und beschützt erwarte ich den Sonnenaufgang über dem Meere, das Höherrauschen der Wogen im Morgenwind und jenes unbestimmte blasse Licht, das durch alle Ritzen quillt, bis an mein Bett dringt, bis zu meiner Stirn, bis zu meinen fortan geschlossenen und unempfindlichen Augen …


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