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XI

Es ist bequemer«, hat Jean gesagt. Das ist ein Wort, das einen weit führen kann. Ohne Zweifel, es ist für mich bequemer, meinen Gepäckschein seinem Kammerdiener zu geben, damit er mein Gepäck ins Hôtel Meurice bringe. In sein Auto steigen und sofort auf dem glatten Pflaster davonrollen ist bequemer als auf ein Autotaxi warten. Es ist bequemer, sich gehen zu lassen, als sich in der Hand zu halten …

Und schließlich sind jetzt meine Koffer eben nur Koffer, und ich vertraue sie dem ersten besten an. Ich schleppe ja nicht mehr jenes kostbare abgenützte Ungetüm mit mir herum, das meine Bühnentoiletten enthielt, jenen Schatz, um den Brague und ich bei jeder Ankunft angstvoll zitterten.

»Siehst du, diese unglückselige Eisenbahngesellschaft hat schon wieder den Koffer verschickt.«

Er hatte über seinem geteerten Leinenbezug vorspringende Holzrippen, wie ein elender Droschkengaul; – seine Ecken, die wir auf gemeinsame Kosten hatten beschlagen lassen, spotteten der Unachtsamkeit der Gepäckträger und der Grobheit der Theaterdiener. Seine mit Hotelzetteln beklebten Seiten erregten Aufmerksamkeit; seinem geöffneten Innern entströmte ein Geruch von Naphthalin, von wiederholt gefärbten Stoffen und verschimmeltem Leder.

»Sie setzen mich bei mir ab, nicht wahr?« sagt Jean nebenbei. »Erstens ist es beinahe auf Ihrem Weg, und dann wollen wir nachsehen, ob May geschrieben oder telegraphiert hat … Wenn Sie durstig sind, trinken Sie einen Schluck, und dann können Sie bei mir Obst stibitzen, das ebenso gut ist wie das im Hotel …«

Da ich schweige, setzt er in leichtem Ton hinzu:

»Ich lade Sie heute abend nicht ein, meine kleine Bude zu besichtigen; sie ist bei Tage so unendlich viel hübscher!«

Er scheint außerordentlich guter Laune zu sein, er singt leise vor sich hin. Er neigt sich vor, richtet sich wieder auf, bekundet andauernd eine solche Freude über die Heimkehr, daß mir nichts anderes übrigbleibt, als mitzutun. Brague pflegte, sooft wir von einer Gastspielreise zurückkamen, um so zappeliger zu werden, je mehr wir uns Paris näherten: »Du alte Bestrickerin.« Sogar Fossette, wenn ich sie mitgenommen hatte, witterte niesend die Stadt und schüttelte von oben bis unten ihren nicht vorhandenen Pelz … Aber ich … Man kann wohl von mir nicht verlangen, daß ich beim Anblick des Hôtel Meurice die Rührung eines bretonischen Bauern empfinde, der den Kirchturm seines Heimatdorfes wiedersieht … Ich fühle zusammenzuckend einen kameradschaftlich ungenierten Schlag auf mein Knie; dann umfaßt eine behandschuhte Hand die meine, wie damals in Nizza.

»Was ist denn mit Ihnen?«

»Ich weiß nicht, ich bin vergnügt. Ich freue mich auf meine Wohnung, ich freue mich, mit Ihnen zusammen zurückzukommen.«

»Ich kenne Ihr Viertel. Ich hab' einmal da gewohnt … vor langer Zeit.«

»Wirklich!«

Der Ton belustigt mich – es liegt ein Tadel darin, und keine Frage. Der Wagen hält, und ich springe hinaus, ohne mich bitten zu lassen. Ich habe das Bedürfnis, mich zu bewegen, Atem zu schöpfen: ein unwillkürliches und deshalb um so bezeichnenderes Verlangen, die gemeinsame Reise noch weiter auszudehnen … Es ist stockdunkel, mild und feucht. Ich erkenne schon von weitem diesen nächtlichen Duft des Boulevard Berthier, auf dem die vorbeiziehenden Viehherden den warmen Moschusgeruch des Stalles und der Schafhürden hinterlassen …

Jean bewohnt eines der letzten kleinen Häuser des Boulevards. Ich muß es einmal angesehen haben, damals, als ich jung verheiratet war … Ja, das muß es wohl gewesen sein … Die schmale Stiege, links das Speisezimmer, rechts das Wohnzimmer … Aber jetzt sind helle Tapeten an den Wänden und eine Holzgalerie ist da, die nach Politur riecht.

»Wie komisch, es sieht hier gar nicht wie in der Wohnung eines Mannes aus!«

»Aber ich hab' trotzdem ein Junggesellenheim daraus gemacht. Als ich May anbot, ihr das Haus einzurichten, sagte sie, es sei eine Frechheit von mir, ihr so eine ›Kokottenbude‹ anzubieten. Die kleine Villa sei nicht mehr Mode …«

»Oh, ein Feuer! …«

Ein schönes Holzfeuer erhellt den Raum, den Jean mir öffnet. Mein Ausruf war so lebhaft und so entzückt, daß Jean mich fragend anblickt, mit seiner Art, die Augenbrauen hinaufzuziehen und das Kinn vorzuschieben, was seinem Erstaunen etwas Tadelndes verleiht.

»Sie verstehen das nicht … Nein, bitte, drehen Sie das elektrische Licht nicht an; so sieht man das Feuer besser … Sie können nicht verstehen, daß … wir haben doch jetzt schon beinahe März, nicht wahr? Nun, ich hab' seit einem Jahr kein Holzfeuer mehr gesehen.«

»Nicht möglich!«

»Wo hätte ich ein Holzfeuer sehen sollen? In den Zimmern ›besserer Hotels‹ gibt es ja keine Kamine mehr. Also …«

Ich sage nichts weiter aus Faulheit, aus Wohlbehagen, und wärme meine Hände an den Flammen. Es ist ein so schönes, verschwenderisches Feuer, das Feuer eines Junggesellen, dessen Diener sich nicht um die Kosten kümmert. Es macht im Kamin ein herrliches, abwechslungsreiches Geräusch; ein glimmendes Holzstück springt ab und zu auf den Marmor heraus und verkohlt wie eine Räucherkerze, wobei ein dünner Rauchfaden aufsteigt, der nach Kreosot und Sandelholz duftet.

Ich habe mich mit gekreuzten Beinen auf den Teppich gesetzt, nachdem Jean das Zimmer verlassen hat. Ist das eigentlich ein Salon? Ja, oder ein Rauchzimmer. Ich erkenne beim Schein der Flammen das polierte Holz, die geschwungenen Füße einiger hübscher antiker Möbelstücke, das dunkle Grün eines Gobelins, der an der Wand hängt, die bauchige Rundung einer blauen Vase.

Die Müdigkeit, die bebende Verwegenheit einer Frau, die fallen wird und sich fallen sieht, fühlt sich bei diesem Feuer geborgen, zu dem ich mich geflüchtet habe …

»Wollen Sie nicht ein Kissen haben? Ich muß Sie bedienen, Victor ist noch nicht von der Bahn zurück.«

Jean hat ein Tablett mit Orangen und Trauben neben mich gestellt.

»Winterfrüchte; ein dürftiges Abendbrot, nicht? In dieser Flasche ist noch irgendein Dessertwein, und da ist frisches Wasser …«

»Ach, das macht gar nichts; übrigens muß ich gleich gehen …«

Ich werfe ihm von unten her einen Blick zu, der recht erbärmlich sein muß, aber er scheint ihn nicht zu bemerken und setzt sich, ebenso wie ich, auf den Teppich, nachdem er vorher sorgfältig die Hosen über die Knie hinaufgezogen hat. Das rote, zuckende Licht verleiht seinem Gesicht das Aussehen einer gebrannten Tonstatue mit silbernen Augen. Er saugt die Traubenbeeren aus und wirft mit kindlichem Ernst die leeren Balge ins Feuer, während ich den Saft einer Orange schlürfe. Dann gießt er sich ein großes Glas Wasser ein, wäscht sich die Finger ab und sagt: »Ah!« in einem Ton, der etwa bedeutet: »Wir werden uns wohl zu irgend etwas entschließen müssen!«

Ich werde mir plötzlich bewußt, daß vielleicht auch er schüchtern und unentschlossen sein mag, daß seine Zurückhaltung seit dem Kuß, den er mir gegeben hat, vielleicht mehr eine Hemmung als diplomatische Taktik ist … genau in dem Augenblick, in dem mich der Schein der Kaltblütigkeit zu verlassen drohte, hat eine schlaue Vorsehung ihn mir wieder zurückgegeben. Ich wiederhole »Ah!« in demselben Ton wie er und füge hinzu:

»Das ist der Übergang, den ich gesucht habe. Er führt uns auf ganz natürliche Weise zu einem andern Wort, nämlich zu: Oh! Was in allen Sprachen bedeutet: ›Wie, schon halb eins?‹«

Das Feuer versinkt zu Glut; im wachsenden Schatten sehe ich die silbernen Augen in fast negerhafter Wildheit glänzen, und schon fange ich an, die Schüchternheit und Furcht meines Gastfreundes niedriger einzuschätzen … Um mich zu stärken und auch um Jean im Geiste zu schmähen, rufe ich die Erinnerung an Max zu Hilfe, der trotz seiner Kraft so ergeben war und so loyal selbst im Angriff, daß ich niemals vor ihm gezittert habe … Aber ich weise diese Erscheinung in plötzlich aufwallendem Undank gleich wieder von mir: »Ach! Nein, laß mich in Ruh', ich habe genug mit diesem da zu tun …«

»Dieser da« hat sich in seiner ganzen Länge auf den Boden gelegt, mit aufgestützten Ellbogen, den Kopf an meinen Knien. Er blickt nach der Tür und murmelt, als ob er mich nicht gehört hätte:

»Das ist Victor mit dem Gepäck.«

»Daher …«

»Daher rühren Sie sich nicht. Was kümmert Sie das, wenn Victor mit dem Gepäck zurückkehrt? Hier kommt niemand herein, wenn ich nicht geklingelt habe. Sie dürfen nur weggehen, wenn Sie wirklich Lust dazu haben.«

Dieser direkte Appell an meine Aufrichtigkeit macht mich dumm und stumm. Ich möchte gern die Wahrheit sagen, aber sie ist so verworren in mir wie ein Heubündel, das der Fluß hinweggeschwemmt hat. Die Wahrheit … Welche soll ich wählen? Soll ich ihm gestehen, daß das geringste Wort von ihm mich hier zurückhalten kann? Und daß gleichzeitig ein Gefühl von Kälte und süßer Mattigkeit in mir ist, daß meine Sinne eingeschlafen sind, daß ich ganz anders bin als gestern abend? All das ist wahr, aber unmöglich auszusprechen …

Er errät es vielleicht, während er durch den seidenen Strumpf meinen Knöchel streichelt. Man kann es kaum eine Liebkosung nennen; es gleicht mehr der mechanischen Fingerbewegung, mit der man das Muster eines Stoffes oder einer Tapete nachzeichnet.

»Sagen Sie«, wiederholt er, »sagen Sie, ob Sie Lust haben, wegzugehen.«

Er ist noch ein bißchen näher gekrochen, so nahe, daß ich sein Kinn an meinen gekreuzten Beinen fühle … Ich schaue ihm tief in die Augen und antworte in traurigem Ton:

»Nein.«

Eine einzige zuckende Flamme züngelt noch in einem Winkel des Kamins. Auch sie versinkt in der roten Glut, und es hat den Anschein, daß sie nicht mehr aufleben wird; doch sie flackert noch einmal empor und erlischt … Das ist gerade die richtige Beleuchtung, um aus nächster Nähe dieses beinahe fremde Männerantlitz zu betrachten, eine Beleuchtung, die es abwechselnd verhüllt und scharf modelliert. Der traurige Ton meines Geständnisses hat ihn am Aufspringen verhindert; er hat den Ton warmer Zärtlichkeit gesucht und gefunden, um mich zu überreden.

»Sie bleiben also?«

Mit einer bekümmerten Bewegung weise ich auf das Zimmer, das fremde Haus ringsumher, – mein Reisekostüm, den Hut, den ich seit Stunden nicht vom Kopf genommen habe, und ich versuche zu scherzen:

»Schauen Sie, Jean, Sie müssen begreifen, daß ich selbst mit der allerbesten Unmoral …«

Ich verstumme plötzlich und nehme alle meine Kräfte zusammen, um mich zu wehren, denn er ist im Begriff, mich zu überfallen, von hinten um mich herumzukriechen, während er meine beiden Arme festhält. Er macht sich absichtlich schwer, hängt sich an mich wie ein tückisches Schlinggewächs. Ich kann nicht aufstehen, nicht einmal meine gekreuzten Beine ausstrecken; ich kämpfe ehrlich, halb liegend, auf einem Arm aufgestützt, und murmele ganz leise:

»Aber das ist zu dumm … nein, nein, es ist zu dumm! …«

… Bis meine sentimentale weibliche Einfalt sich in dem empörten Ausruf Luft macht:

»Sie lieben mich ja nicht einmal!«

Ohne meine Arme loszulassen, hebt Jean seinen Oberkörper empor und sieht mit forschendem Blick auf mich herab:

»Und Sie mich etwa?«

Dann beugt er sich nieder und küßt mich zart auf den Mund. Das ist so süß nach diesen zwei Minuten des Kampfes, daß ich mich dem Genuß hingebe wie einer kurzen Rast und den Kopf auf den Teppich sinken lasse. Wie weich ist dieser nackte Mund, diese vollen Lippen, die den Kuß schwellend empfangen, die man zusammenpressen muß, um zu den Zähnen zu gelangen … Ich möchte so liegenbleiben auf dem Boden und mein Herz fühlen, das bis zum Halse herauf schlägt, während meine Wangen im Feuerschein glühen und das Leuchten der glimmenden Scheite sich über mir in zwei silbergrauen Augen widerspiegelt … Wie ist der Augenblick süß, in dem man sich so weit verliert, daß man fühlt: »Nun bin ich der Sorge des Denkens überhoben. Küsse mich, du Mund, für den ich nur Mund bin …« Aber dieser Mund ist der Mund eines Feindes, den der Kuß wild macht, der mich bezwungen weiß und der mir nichts ersparen wird.

Stolz, im Vertrauen auf den siegreichen Ausgang, zeigt er eine barbarische Verachtung der Mittel. Er durchwühlt und verknüllt mir Haare, Kleider und Wäsche, als hätte er keine Zeit, mich zu entkleiden … Ich bin es, die schamhaft murmelt: »Warte«; ich bin es, die die Brosche abnimmt, an der er sich verletzt hat, die die Bänder und Schließen löst; ich bin es, die rücklings auf dem Teppich liegend ihm das schwellende Kissen ihres schmerzlich gedrückten Leibes bietet; und ich bin nachher – als er, ausruhend, mit geschlossenen Augen, mit halboffenem Munde, mit wirrem Haar seine Stirn auf meine Schulter bettet –, ich bin von uns beiden die Glücklichere …


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