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Nein … ich bin nicht deiner Meinung.«
Ich habe nichts weiter gesagt. Er schweigt höflich, und ich blicke auf das von kleinen Inseln besäte Meer hinaus. Wir haben uns nicht gestritten – wir hatten gar keinen Stoff zu einem Streit, nicht einmal zu einer Diskussion. Ich habe nichts weiter gesagt, aber der kurze Satz hat genügt, um in uns beiden ein Gefühl zu erwecken, als hätten wir uns eben voneinander getrennt …
Zu unseren Füßen liegt, feucht noch, ein schmaler hellgelber Strand, zwischen Felsen, die die Wogen zerklüftet haben; kleine blaue Muscheln sind darüber hingestreut. Weiter entfernt sieht man das Meer, das zu dieser Stunde abebbt und kahle, spitzige Felsen freilegt. So weit das Auge reicht, findet es nichts, was das Bild dieser bretonischen Landschaft störte oder entstellte – kein Gewitter am Himmel, kein Streifen von Seegras oder Moos am Rande der zurückweichenden Fluten, kein Haus an der Küste außer einem, dem Jeans. Grau und niedrig liegt es zwischen einem lichten Wäldchen, einem Beet roter Geranien und einer Wiese, die, von spärlichem Grase, Heckenrosen, kleinen duftenden Nelken und Ginster bestanden, sich zum Strande hinunterzieht. Der Wind pfeift über sie hin.
Es ist ein unvergleichlicher Ort, ganz am Rande der Erde, die er zu fliehen scheint, um sich dem Meer in die Arme zu werfen, dessen Launen er ausgeliefert ist. Die Flut verkleinert den Streifen Landes zu einer schmalen Kante aus Sand, Felsen und Grün; zurückströmend, gibt sie ein ungewisses Gebiet von Sandbänken frei, von ewig nassen Klippen und winzigen Seen, deren salziges Wasser ununterbrochen zittert, bewegt von den Scheren der Krabben und Hummern, von den Schwanzschlägen der Meerkrebse und Fischchen, die es bevölkern.
Wir sind vorige Woche in der Stunde der Abenddämmerung hierher gekommen, deren rosiges Glühen der sinkenden Sonne, ihrem Spiegelbild im Meere und dem früh heraufgestiegenen Mond entstammte, der blaß und leicht am Himmel stand. Wir konnten jenem Rausch der Seeluft nicht entgehen, der in den ersten Nächten den Schlaf stört, den Pulsschlag beschleunigt und im fieberhaften Blau des Vollmonds die Stunden der Liebe verlängert …
Alles war mir neu oder schien mir unbekannt: der Salzgeschmack auf den Lippen Jeans und auf den meinen, der Geruch des Westwindes zu Mittag, der über halb geöffnete Muscheln hingestrichen ist, und der der Landbrise, die nach warmem Heu duftet; die Alge, die wilde Auster mit ihren schön gezackten Schalen, der perlmutterschillernde Aal, die zornige Krabbe; das steigende Wasser, das wie zwei eisige schwere Bänder sich um die Knöchel, dann um die Knie schlingt; und schließlich Jean selbst, der stolz war ob meines Staunens, fröhlich und halbnackt wie ein Faun … Jeden Tag stieg er, von meinem entzückten Blick begleitet, zum Meer hinunter, und indem er dahinschritt, spielten Schatten auf seinem Körper, bewegte sich oberhalb seiner Lenden das prachtvolle Muskeldreieck, das schöne Statuen zeigen …
Nun aber wird er des täglichen Spiels schon müde, müde des Sandes, der sich gleich einem warmen Laken über die nasse Haut legt, müde der schweigsamen und fast gedankenlosen Ruhestunde zu Mittag unter dem Leinendach, das im Winde leise rattert … Schon sind wir wieder nur einer mit dem andern beschäftigt, und er scheint den Satz, den ich eben aussprach, erwartet zu haben:
»Nein … ich bin nicht deiner Meinung.«
Ich weiß nicht, ob mein Tonfall dem Worte besonderen Nachdruck gab oder ob es die Miene, mit der Jean es aufnahm, zur Sentenz gemacht hat.
Wir schweigen, und er senkt die Lider, denn eine sonderbare Art von Würde zwingt ihn, nicht wie ich das zurückflutende Meer und die roten Klippen zu betrachten; eine Lichtbahn, die die Sonne zwischen zwei Wolken bis zum Rande des Horizontes erschlossen hat, ist der Weg, auf dem ich entweiche. Meinem Blick folgen, hieße für Jean beinahe so viel wie nachgeben, zustimmen … Er wird nicht so bald nachgeben.
Ich habe ihn schwer beleidigt, da ich nicht seiner Meinung bin …
»Jean … bist du böse? … Findest du, daß ich unrecht habe?«
Er widerspricht, ohne den Blick zu heben:
»Nicht im geringsten! … Ich beuge mich …«
Wirklich? … Vielleicht um mich zu zermalmen? …
Lebwohl, lebwohl, ich bin nicht deiner Meinung. Wieder einmal sind wir getrennt, sind einander sehr fern … Wenn ich die Hand ausstreckte, könnte ich seine Haare berühren, auf denen das Salzwasser, das sie eben bespülte, langsam trocknet. Eben … eben tauchten unsere Köpfe nebeneinander schwarz und triefend aus den Wellen, und nun sind wir so fern voneinander … Lebwohl, lebwohl! Ist es zum letzten Male?
Denn ich fühle, daß er an mir verzweifelt. Wegen eines Wortes ist ihm unser Zusammenleben unerträglich geworden; er verzichtet auf die geplante Reise, auf die lockende Nacht, die uns erwartet. Nicht etwa, daß er mich haßte, nein; er schüttelt mich von sich ab.
Ich spreche nicht. Ich bediene mich der aufreizenden Waffe der Schwachen und Berechnenden: der Geduld. Ich stelle mich, als ob ich Jean vergessen hätte. Aber er läßt sich nicht völlig täuschen. Während unserer ersten Krise glaubte er mir die gutgespielte Ungezwungenheit eines Tieres, das sich allein weiß. Bald aber begriff er, daß ich ihn nur beleidigen wollte – und nun ist er beleidigt. Mit perverser Sorgfalt sage und verschweige ich gerade genug, um – alles zu verderben. Anstatt ein völliges Ineinander-Aufgehen zu erstreben, möchte ich, daß unsere Vereinigung aus einer Katastrophe entstehe, aus einem unvermeidlichen Zusammenbruch, und so häufe ich ohne Unterlaß Wolken über unsere Häupter. Mein armer Liebster, wie soll ich dir über all das hinweg, was ein falscher Stolz auftürmt, um uns zu trennen, ein Zeichen geben? Welche Möglichkeit bleibt noch, daß du mich wiedererkennst? …
Du entschuldigst alles an mir, was dir mehr oder minder ähnelt. Du verzeihst mir die Lüge, den Zorn, eine gewisse Trivialität, die sich in Ausbrüchen von Heiterkeit äußert, denn im Übermaß – sei es des Schmerzes oder der Freude – hänge ich von dir ab. Was aber kannst du heute tun? »Ich bin nicht deiner Meinung.«
Ich habe das gesagt. Ich habe, wie ich glaube, einen gewissen theatralisch zögernden Ton in den Satz gelegt, etwas wie endgültige Gewißheit, um zu zeigen, daß er mehr als ein Ausweichen, daß er eine Umkehr bedeute, eine Flucht zu jenen, die Jean zuweilen »die Meinen« nennt.
»Die Meinen« ist ein Wort, dessen er sich bedient, um das Unbekannte in meinem Leben zu bezeichnen. Er sagt »die Meinen«, als ob es sich um einen feindlichen Stamm handelte, den er instinktiv haßt; »die Meinen«, das sind jene, an die er voll tiefsten Mißtrauens denkt, in den Augenblicken, da seine Augen mich deutlich fragen: »Woher kommst du? Wer bist du? …«; in den Augenblicken, da er in meinem Schatten den unerkennbaren und blasseren Schatten entschwundener Gestalten sucht, den Schatten so vieler Fremder, die mich nach ihrem Bilde geformt haben … Auch sie sind nicht seiner Meinung. Ist es um ihretwillen, daß Jean in Augenblicken gleich dem jetzigen an mir verzweifelt?
Die Liebe – die allein uns vereint – hat sich in einen dunklen Schlupfwinkel zurückgezogen und ruht – und wir stehen einander gegenüber, weder befreundet noch verwandt … Alles – Schmähungen, ungeschickte Worte, vielleicht sogar Trennung – wäre besser als dieses unselige Spiel, das trotz der Gereiztheit Jeans vielleicht niemals ein Ende finden wird: wenn er die Dogge ist, so bin ich die Katze hoch auf dem Baum …
Jean, mein schlecht geliebter … noch einmal gehen wir entgegengesetzte Wege. Ich blicke voll Bitterkeit auf die Zeit zurück, da ich ihn mein kurzes Abenteuer nannte, den Vorübergehenden … Und er denkt wohl an die Tage meiner anfänglichen Vollkommenheit, durchlebt, um sie nachträglich mit einem Glorienscheine zu umgeben, noch einmal die ersten Wochen unserer Liebe, da er plötzlich an mich zu glauben begann, an mich, an meine Dauer, an meine vollkommene Unterwerfung; – er wiederholt sich wohl die Worte, die er damals fand, um meine Schwächen zu bemänteln: mein undurchdringliches Schweigen wurde da zur »weisen Träumerei«, und meine Lässigkeit, die er heute als die Trägheit einer erschöpften Vagabundin empfindet, nannte er königlich …
Geduldig sitzen wir vor dem mit Inseln übersäten Meere. Noch einmal warten wir verwirrt darauf, daß der Zufall, der uns vorhin entzweite, uns wieder zusammenführe – oder es wird uns die trübe Flut der Wollust, die heimlich anschwillt, noch einmal fortreißen, um uns noch einmal an einem freudlosen Ufer stranden zu lassen … Wie weit bist du wohl? Bist du zu Ende mit deinen Beschuldigungen? Vergrößere nur meine Fehler! Und wenn du mich zu einem Ungeheuer gemacht hast, schwarz und böse, unheilvoller als eine Hagelwolke, was wird dir damit schon gewonnen sein? …
Ich für meinen Teil bin eben bei der bedeutungsvollen Pause auf unserer Reise hierher, bin bei unserem schönen Tage in den Bergen. Hoch oben auf der rötlichen Ruine stehend, trankst du die blaue Luft, die über die Lavendelstauden hinwegblies; deine Begeisterung, aufrichtig, wenn auch durch Gelesenes beeinflußt, pries in lauten Tönen den freien Raum, die Städte, die Täler, die Form und die deutlich erkennbaren Grenzen einer Provinz, die von Bergen und Hängen umrahmt ist. Du betrachtetest sie vom Standpunkte der Geschichte aus, du suchtest auf ihren Gefilden die Fußspuren der Eroberer …
Ich stand an dich gelehnt, und der Druck deiner starken Hand skandierte deine Worte auf meinem Arme … Unaufmerksam stand ich da, abgelenkt durch eine Eidechse, die aufgetaucht und wie durch Zauberei wieder verschwunden war, durch einen Halm wilden Majorans, der unter der Last einer pelzigen Hummel schwankte, durch den Ruf eines unsichtbaren Hirten … Ich betrachtete die Berge auf andere Art, auf die engherzige, kleinliche – manchmal aber sehr feine – Art der Kurzsichtigen und der Frauen.
Als du das bemerktest, verstummte deine Begeisterung, und während du mich ohne Freimut ansahst, fühlte ich mich – fern, aber trotzdem an dich gekettet – klein genug, um von dir in die Lüfte emporgetragen zu werden, und schwer genug, um deinen mächtigen Flug zu hemmen …
Denkst du zu gleicher Zeit wie ich an jenen Tag in den Bergen? Zählst du seit jenem Tage die Stunden, da wir verblendet geglaubt haben, uns einander entreißen zu können? …
Ich weiß es nicht. Aber dein Schweigen verzweifelt an mir. Unter deiner empörten Unbeweglichkeit kostest du einen Schmerz aus, der dich einem ohnmächtigen Gotte vergleichbar macht, den wütenden Schmerz, mich nicht geschaffen zu haben …