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Na und?«
»Und es hat bis drei Uhr früh gedauert. Um drei Uhr große Rauferei. Für sechshundert Francs Schildpatt lag zerbrochen auf dem Teppich!«
»Ah! … Und dann?«
»Und dann natürlich … Schläfrig bin ich.«
May lacht und rekelt sich. Sie ist eben zu mir heraufgekommen, nichts weiter als ein rumänisches Hemd unter ihrem Kimono, die nackten Füße in großen Männerpantoffeln. Sie strahlt in vergänglicher und ausdrucksloser Jugendfrische: nichts Charakteristisches in den Zügen, die sehr dichten Haare ungleichmäßig blond, hell im Nacken, silbrig an den Schläfen und sonst fast braun. Fünfundzwanzig Jahre! Oh, über die schöne vergeudete Jugend! Man möchte glauben, daß die ungestüme May geschworen habe, sich vor dem dreißigsten Jahr zugrunde zu richten: indische Schminke verfärbt die Spitzen der langen Wimpern, ein heißes Eisen verbrennt täglich die schönen Haare; May schläft nicht genug, vergißt das Frühstück, raucht, trinkt und schnupft Kokain. Aber was tut es? Das absonderliche kleine Geschöpf ist trotzdem erst fünfundzwanzig Jahre alt, hat die helle Haut einer Blondine und große kastanienbraune Augen und dazu eine blödsinnige und entzückende Art, an und für sich schon verrückte Moden noch zu übertreiben. Morgens – der Morgen dauert für sie von Mittag bis etwa vier Uhr – trägt sie einen breitgestreiften Rock, der ihre gefolterten kleinen Füße und auch die Knöchel und Waden sehen läßt; die Taille ist fast bis unter die Achselhöhlen hinaufgerückt, und das enge kleine Jäckchen sieht nicht so aus, als ob es für May gemacht wäre, und zeigt vorn ein kleines Bäuchlein, das eben Mode geworden ist. Ein riesiges weißes Jabot flutet zwischen ihren Brüsten, ein Strohhütchen verbirgt ihr rechtes Auge. Dies ist die Gewandung, die May als »schlichtes Straßenkleid« bezeichnet.
Ich kenne May seit einem Jahr – sie sagt: seit »einer Ewigkeit «. Ich traf sie eines Abends in einer Privatgesellschaft, bei der Brague und ich gegen Honorar tanzten. Sie saß beim Souper neben mir, betrug sich schlecht, um mir zu gefallen, tauchte ihre Haare in Champagner ein, entwickelte eine kindische Derbheit und einen negerhaften Zynismus, weinte entzückend und völlig grundlos, warf Goldstücke in das Mieder einer spanischen Tänzerin und verdarb das Ganze durch die schlichte Frage: »Bin ich nicht ein Original?«
Das »Original« geht vor meinem Frisiertisch auf und ab und verdunkelt mir durch den zappelnden Schatten ihrer großen Ärmel alle Augenblicke das Sonnenlicht, so daß ich mich, geblendet, nur auf gut Glück pudern kann. Wenn May die Pantoffeln ihres Geliebten angezogen hat, in denen ihre Füße wie die des Little Tich ausschauen, so ist das nicht aus Zerstreutheit noch aus Nachlässigkeit geschehen, sondern »um die Leute auf dem Gang zu verblüffen«.
»Bitte, sehn Sie sich das an«, sagt sie plötzlich und hält mir ihren zart beflaumten Arm unter die Nase. »Das wird morgen blau sein.«
Ich betrachte mit dem erforderlichen Interesse zwei dunkle Streifen, die wie ein Armband rings um Mays Handgelenke laufen.
»So ein Vieh«, murmelt sie, nicht ohne Ehrfurcht. »Und mein Kleid, das um fünfzig Louisdor, hat er mir auch kaputt gemacht; und all das nur, weil ich wußte, daß ich Glück im Spiel haben würde, und darum nach Monte Carlo wollte. Er wird schon sehen, was es ihn noch kostet, dieses Kleid. Ich hab' ihm auch einen hübschen Streich gespielt, ehe ich zu Ihnen heraufgekommen bin.«
»May, keine Einzelheiten!«
»Aber nein, was Sie wieder glauben … Ich habe ihm, als er noch dalag und schlief, ein Härchen aus der Nase gerissen. Den Schrei hätten Sie hören sollen, meine Liebe! Ich habe gedacht, der Portier wird heraufkommen … Aber glauben Sie, daß er daraufhin aufgestanden ist? Keine Spur. Er schläft weiter. Wie ein Klotz liegt er auf dem Rücken in seinem violetten Kurtisanenhemd und sagt, er stehe nur auf, wenn Sie hinunterkommen und ihn an den Füßen ziehen.«
Kaum eine Einzelheit aus Mays intimem Leben bleibt mir erspart. Sie schildert mir ihren Geliebten so lebhaft und unumwunden, daß ich weiß, wie dieser Mann sich wäscht, wie er einschläft und wie er aufwacht. Und nicht nur das allein erfahre ich mit aller Genauigkeit … Heute habe ich besonders wenig Lust, ihre Geständnisse anzuhören:
»Na, und wie ist es also mit dem Essen?«
»Was für ein Essen?« fragt May gähnend und zeigt zwischen ihren glänzenden Zähnen eine kleine, zu trockene und weiße Zunge …
»Unser gemeinsames Mittagessen! Sie wollten doch, daß wir miteinander essen. Nun ist es dreiviertel eins, und Sie sind noch in den Pantoffeln Ihres Herrn und Gebieters … Um wieviel Uhr werden wir also essen?«
May stellt sich x-förmig vor dem Fenster auf, Arme und Beine gespreizt; ihr duftiges Haar sieht im Sonnenlicht aus, als ob es dampfe.
»Um wieviel Uhr? Was weiß ich? Sie redet von nichts anderem, diese Frau, als davon, wieviel Uhr es ist, wieviel Uhr es sein wird und wieviel Uhr es sein sollte. Man ißt, wann man will, man schläft, wann man will, und die Zeit ist überhaupt nur eine Einrichtung für Bediente und Bahnbeamte! Ich habe gesprochen. O Gott, was für ein Gesicht sie macht! Also hören Sie, weil Sie es sind, stürze ich mich jetzt hinauf zu den anderen; wenn sie ihren Giftrausch haben, dann lass' ich sie in Ruh', stürze im Galopp wieder hinunter und wecke meinen Alten, indem ich ihm ganz leise ein Glas kaltes Wasser auf die heikelsten Stellen seines Körpers schütte … Dann bin ich in fünfunddreißig Minuten fertig. Herrje, was ich mit euch allen für Sorgen habe! … Soll ich Ihnen vielleicht inzwischen das Horsd'œuvre heraufschicken lassen? …«
Darauf ist sie in ihren großen Pantoffeln schlürfend abgezogen, nicht ohne vorher mit ihren großen japanischen Ärmeln am Schlüssel hängenzubleiben, und überhaupt darauf bedacht, ihren Abgang recht »originell« zu gestalten.
Welch ein wunderbarer Rivieratag vor mir da unten! Ebenso wie gestern schenkt uns diese Mittagsstunde alles, was sie zu schenken vermag: einen Sonnenschein, der Gedanken und Taten hemmt, und eine sommerliche Brise. Draußen auf dem Meere sieht man zwei schräg geneigte Segel, und in der Ferne schwebt ein Flugzeug, das die Spaziergänger kaum beachten. Das dunkle Band der frisch besprengten Fahrstraße bietet den Augen Erholung, längliche Automobile schießen wie Fische darüber hin, dann und wann kommt eine langsame Droschke, deren Kutscher an einem Mimosenzweiglein kaut. Neben dem Fahrdamm blendet die weiße Promenade, auf der Bummler ihre Hunde an der Leine spazierenführen. Es sind fast keine Kinder unter der Menge; man könnte ohne Mühe die nackten Beinchen zählen, die da unten umherlaufen, und die stolpernden ganz kleinen Dingerchen, die gleich dem Baby von gestern in schneeweißen Batist und in Spitzen gehüllt sind … Nizza ist eine Stadt der Erwachsenen …
Mein Blick bleibt an farbigen Hüten hängen, an dem grell stechenden Grün eines Kleides. Ich sehe Toiletten aus heller, leichter, viel zu leichter Seide und denke an jene Schmetterlinge, die, von den ersten Frühlingssonnenstrahlen irregeführt, den Tod finden … Daneben erblicke ich schwere Pelze, und auf den Bänken sitzen vorsichtige Leute, die mit einem grünen Sonnenschirm und einem Wollschal ausgerüstet sind … Dabei fallen mir jene Restaurants ein, in denen einem der Oberkellner einen Fächer reicht, während ein Boy einem eine Wärmkruke unter die Füße schiebt.
Vor dem Hotel vollführen Mandolinen und italienische Sänger ein melodisches Gesumme, das der Wind mir stoßweise zuträgt; ich bilde mir ein, daß der Duft der Veilchen und roten Nelken aus den Körben der Blumenverkäuferinnen bis zu mir heraufsteigt, und mein ausgehungerter Magen verspürt eine leise Übelkeit …
Wann werden wir essen? … Unten am Wasser ist ein Foxterrier, der so unentwegt bellt, daß man sein Gekläffe nicht mehr hört, seit weiß Gott wie langer Zeit hartnäckig damit beschäftigt, einen zu großen Stein als Stranderinnerung mit sich zu schleppen … Zum fünften Male geht dieser rote Hut mit grünem Band und violetter Touffe vorüber; und wie oft habe ich jene beiden jungen Frauen – May ähnlich, doch etwas weniger elegant – schon wiederkehren sehen, die eine grün, die andere gelb, in kurzen Röcken, auf lächerlich hohen Absätzen schmerzvoll trippelnd? Sie gehen nicht weit; man könnte überhaupt glauben, daß sich ungefähr fünfhundert Meter von hier entfernt ein unsichtbares Hindernis befinde, eine eingebildete Schranke, die fast alle Spaziergänger zum Kehrtmachen zwingt. Und dahinter liegt doch eine so schöne, verführerische Strecke Weges, auf der man besser ausschreiten und das Rauschen des Meeres hören kann!
Nun fällt mein Blick auf ein helles, kleines Restaurant am Rand der Promenade, das da gleich einem Boot verankert ist. Seinerzeit pflegten Brague und ich dort zu Mittag zu essen, schweigsam, zufrieden und vom Sonnenlichte ein wenig dösig … Ich bin hungrig. Meine Freunde brauchen gewiß noch eine Stunde. Die beiden von oben erwarte ich gar nicht. Die von unten werden streitend ankommen, sie mit einem so starken Parfüm, daß sie fast nach Apotheke riecht, er schön geschniegelt, die Haare feucht und die Hand noch warm vom Bade. Sie werden sich beschimpfen oder Küsse austauschen, die nach Mundwasser schmecken … Ihre Streitereien und Zärtlichkeiten, für die sie weder Dunkelheit noch Stille brauchen, werden bis zum Essen andauern – denn schließlich werden wir ja essen, gewiß, in einem fast leeren Speisesaal, der nach Fisch, Zwiebeln und Mandarinen riechen wird; wir werden essen – trotz der Zigeuner, denen keine Ruhe gegönnt ist, und trotz der widersprechenden Befehle, die May dem Oberkellner erteilen wird.
Wenn wir beim Kaffee angelangt sein werden, wird die untergehende Sonne rötlich über dem Meer stehen, und in einer violetten, eiskalten Dämmerung wird uns ein Automobil auf einen »kleinen Gesundheitsausflug« führen. Gegen sieben Uhr wird eine übellaunige und frierende May am Cap Martin Tee verlangen, und so werde ich noch einen schönen Tag vertrödeln, nutzlos vertan, verpfuscht haben …