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Jean! … ah, du bist da …«
»Freilich bin ich da! Was hast du denn?«
»Nichts … Denk dir … Der Regen hat mich überrascht, und so bin ich zurückgekommen, anstatt mich umzukleiden; es ist zu dumm.«
»Es ist nie dumm, hieher zurückzukommen.«
»Aber ich wollte mich doch schön machen … Und da bin ich wieder genau so, wie du mich verlassen hast.«
»Das hoffe ich! Du ähnelst sehr der Reisenden, die sich eines Nachts hier auf dem Fußboden niederließ … Du gefällst mir.«
»Ebenso gut wie sie?«
Ich erhole mich langsam. Ich verberge, indem ich spreche, indem ich kleine Nichtigkeiten vorbringe, die Sorge, die mich befiel, als ich May verließ, und die unterwegs zu sinnloser Angst emporwuchs: Jean ist fort … Ich fühle, daß er fort ist, ich weiß es bestimmt …
Mays Worte verfolgten mich den ganzen Weg wie ein böser Fluch. »Er macht sich aus dem Staub, und man erwischt ihn nie wieder …« Ich sah das schmale Haus mit geschlossenen Fensterläden vor mir, wähnte es völlig leer und rief »Jean« mit einer Stimme, wie man sie in bösen Träumen hat …
Da sitzt er, frisch und munter, zwischen dem Kaminfeuer, das er mir zuliebe eben geschürt hat, und der Lampe mit dem kleinen Schirm, der aussieht wie das Dach einer Pagode. In den geschweiften Beinen der Fauteuils spiegelt sich das Feuer, und die seidenen Vorhänge schimmern in sattem, pompösem Rot …
»Was hast du nur? … Du sagtest, du wollest einen kleinen Spaziergang machen, und nun kommst du in einem Taxi angefahren und siehst aus, als wärst du, weiß Gott wo, gewesen …«
»Ich glaube, ich habe mich erkältet … bei dir ist es behaglich …«
»Es gibt heute Wachteln zum Diner und eine Wiener Torte, eine große schwere Torte …«
»Ja? Wie schön! … Und was hat der Karosseriefabrikant gesagt?«
»Als er den Sprung in der Tür sah, meinte er: ›Die Tür ist gesprungen.‹«
»Dem kann man aber auch nichts verbergen!«
Er geht im Zimmer auf und ab, rückt einen Lehnstuhl zurecht, zieht die Vorhänge zu, spielt mit der Liebenswürdigkeit eines gastfreien Junggesellen den Hausherrn. Im Vorübergehen streichelt er mein Knie, faßt mich an den Ohren wie an zwei Henkeln, um mich besser küssen zu können … Seine Hände, sein Körper, seine glatten Wangen, alles ist fest und warm, alles ist unsagbar köstlich lebendig. Ich betrachte, ich bewundere ihn … da ist er, ganz nah, ganz unbefangen, vielleicht ganz mein eigen, vielleicht mir schon verloren …
»Und – wie lange wird er brauchen?«
»Wer?«
»Der Karosseriefabrikant!«
An Jeans Erstaunen kann ich die Zeit ermessen, die zwischen seiner letzten Antwort und meiner banalen Frage verflossen sein muß … eine lange Spanne Zeit zweifellos, in der ich ihn betrachtete, bitter stolz, ihn so unberührt zu sehen, so wenig angekränkelt vom Leben, so wohl imstande, zu verwunden – hätte ich gestern gesagt –, mich zu verwunden, sage ich heute …
»Hilf mir, Renée! Schau, wie diese Rosen die Köpfe hängen lassen, weil sie zu fest zusammengebunden sind!«
»Das lohnt sich kaum … Diese Rivierarosen halten sich ja doch nur zwei Stunden im geheizten Zimmer.«
»Findest du, daß zwei Stunden Schönheit nichts sind?«
Ich erröte im Dunkeln und werfe ihm einen bösen Blick zu, aber er hat den Satz in aller Unschuld gesprochen …
»So! … Nun ist es gut, nicht?«
»Sehr gut. Aber ich hab' dich erst darum bitten müssen. Ich bin immer erstaunt … komm auf meine Knie … erstaunt, daß du so wenig weibliche Gesten hast.«
»Also, vielleicht willst du behaupten, daß ich …«
»Du ordnest nicht die Blumen in den Vasen, du ziehst nicht das Tischtuch gerade, wenn es schief liegt, du schüttelst nicht die Kissen auf dem Sofa zurecht … du setzt dich hin und schlägst die Beine übereinander …«
»Du übertreibst! …«
»… Kurz, du spielst Dame zu Besuch, und das stört mich.«
»Mich auch.«
»Bist du denn nicht meine Freundin? Hast du denn nicht den Wunsch, mir anzugehören, so wie ich dir angehöre? Mitunter beleidigst du mich geradezu durch die Eile, mit der du dich ›vorher‹ aus- und ›nachher‹ wieder anziehst … Man könnte manchmal wirklich meinen, daß du mich nicht liebst, sondern nur … sondern dich meiner nur bedienst.«
Ich höre ihn ruhig an, ohne den geringsten Widerspruch. Auf seinem Knie sitzend, betrachte ich ihn aus nächster Nähe; ich atme den Duft seiner Haare, die das Brenneisen täglich versengt, – mit einem Wort: ich habe ihn. Ich habe ihn: oh, wäre das doch weiter nichts als ein wollüstiges Empfinden, und kein Gedanke, kein angstvoll in die Zukunft gerichteter Wunsch – oh, wäre es doch weiter nichts als Freude an dieser Stunde, die nach künftigen nicht fragt! …
Er schmollt mit mehr Anmut als Überzeugung, aber er ist nicht recht zufrieden. Er würde sogar in Wut geraten, wenn ich es darauf anlegte.
Ich streichle ihn in zunehmender Traurigkeit, mir ahnt, daß alle seine Metamorphosen nicht viel mehr über mich vermögen. Ob er ein zorniger Jean ist oder ein verächtlicher, ein spöttischer oder ein scheinheiliger – ein bißchen duckmäuserisch ist er immer, wenn er den Sanften spielt –, was tut's, wenn er nur Jean ist? O Wunder der Anwesenheit, unerklärliche Sicherheit aller Sinne.
»Versteh mich recht!« sagt er voll Ungeduld. »Nur der Liebhaber in mir ist dir wichtig, nicht aber der Mensch!«
»Und du?«
Er senkt die Augenbrauen, seine ganze Stirn scheint tiefer zu gleiten, und an der Bewegung des Knies, das mich trägt, kann ich fühlen, daß er Lust hat, mich zu Boden zu werfen.
»Ich … Du weißt ganz genau, daß ich …«
»Sag es doch!«
»Ich hab' es schon gesagt! Ich habe es als erster gesagt!«
»Das kann auch bloß ein Reflex gewesen sein … Es gibt Augenblicke, in denen das Wort ›ich liebe dich‹ nicht mehr Bedeutung hat als ein Zehenkrampf …«
Wir lachen, beide ein wenig böse. Ich empfinde nicht die geringsten Skrupel, ihm zu widersprechen, selbst wenn ich dabei die Wahrheit verdrehe. Was immer der heutige Abend ergeben mag – geheuchelte Verlegenheit, zornige Gebärden, allzu zärtliche Blicke – es ist mir recht … Habe ich nicht seinerzeit zu Maxime ganz ähnliche Worte gesprochen wie eben jetzt? Es ist ein entferntes Echo, das verklingt, sobald ich hinhöre, es ist eine so schwache Erinnerung, daß sie keinen Schatten auf die Gegenwart wirft.
Nichts aus meiner Vergangenheit wagt es, den Fuß in mein jetziges Leben zu setzen. Weshalb? Welche aufreizende Immunität umgibt ihn, diesen ganz neuen Jean, der noch verschlossen ist und oft spröde wie ein verspäteter Eichenschößling? Aufreizend, weil sie ihn nicht nur beschützt, sondern noch mehr bewirkt: sie beschwört anstatt eines getreuen Abbildes ein Zerrbild des einstigen Freundes herauf, einen beinahe grotesken, linkisch steifen Max, dessen Gesichtszüge geometrisch in ein Rechteck eingezeichnet sind, wie die Karikaturen von Sadi Carnot …
Weder schöner noch besser als Max, leidet Jean niemals unter dem Vergleich mit ihm, und ich finde keine andere Begründung für diese Tatsache als die geheimnisvolle, vieldeutige, echt weibliche Redensart: »Es ist eben nicht dasselbe.«
Ich halte ihn umschlungen. In wortlosem Stolz drücke ich ihn an mich und fühle das Gewicht seines Körpers, der vertrauensvoll ruht. Schon haben wir gelernt, daß wir uns umarmen und schweigen müssen, sobald unser Geist erwacht oder unser Gewissen: die Umarmung gibt uns das Gefühl, vereint zu sein, und das Schweigen läßt uns an Frieden glauben.
»Ich möchte wissen«, seufzt er, »was du Böses über mich denkst …«
»Du hast wohl ein schlechtes Gewissen?«
»Nein, aber ich höre dich denken. Dein Atem geht unregelmäßig, er stockt, sobald du an einen Kreuzungspunkt deiner Gedanken kommst, und als du den Kopf auf dem Kissen herumgedreht hattest, merkte ich, daß deine Augenwimpern die Seide in hastigen kleinen Schlägen berührten.«
»Nicht übel, nicht übel!«
»Nicht wahr? Ich bin klüger, als du meinst. Dich quält irgend etwas.«
»Ja – du. Du willst wissen, woran ich dachte? Ich dachte, daß ich nicht den Mut haben werde, heute abend ins Hotel zurückzukehren …«
Er schließt die Arme ein klein wenig fester um mich und hebt nicht einmal den Blick, aber ich sehe ein Lächeln der Befriedigung über sein Gesicht gleiten. Er reckt sich und wird schwerer, als ob ihn Schlaf überkommen wollte … Ich bedaure meine Worte nicht. Früher oder später hätte mich die Probe einer langen Nacht, eines gemeinsamen Erwachens doch erwartet. Und heute abend erfüllt mich feige Angst vor dem Alleinsein, vor einer Nacht, in der mir bis zum Morgen Mays Worte in den Ohren klängen: »Er macht sich aus dem Staub, und man sieht ihn nicht wieder.«
Das Essen ist rasch vorüber; wir plaudern mit ungewöhnlicher Ausdauer und Lebhaftigkeit. Man könnte meinen, daß Jean, der mir, angeregt durch ein Monogramm auf dem Silberzeug und ein altes Büfett, von seinen Angehörigen erzählt, mir Lust machen will, in sein Haus zu ziehen. Sooft er »mein Vater« sagt, klingt übertriebene Ehrfurcht in seiner Stimme, als wäre er ein Gymnasiast, der streng gehalten wird, und das verjüngt ihn auf eigentümliche Weise.
»Wie alt bist du, Jean?«
»Pscht! Das sag' ich schon seit zwei Jahren nicht mehr!«
Er scherzt, und ich glaube zu erraten, daß er mir sein Alter aus Zartgefühl verheimlicht, um keinen Vergleich herauszufordern … Ich wage nicht, auf meiner Frage zu bestehen, sondern schweige bedrückt …
»Mein gestrenger Herr Vater – ich komme um drei Tage Aufenthalt hei ihm nächste Woche nicht herum. Dazu zwei Reisetage, das macht fünf Tage Abwesenheit … Aber wenn ich am Todestag meiner Mutter fehlte, würde der Autokrat einen Tobsuchtsanfall bekommen. Findest du das gut, fünf Tage ohne mich?«
»Ich weiß nicht, ich kann es mir im Augenblick gar nicht vorstellen …«
»Was wirst du die ganze Zeit anfangen? Mit wem wirst du zusammen sein? Mit deinen Angehörigen oder mit Freunden?«
Es ist das erste Mal, daß er unmittelbares Interesse an mir bekundet, oder wenigstens Neugierde, die nicht rein sinnlicher Art ist … Ich blicke verdutzt in das gebieterische junge Antlitz, das mich fragend ansieht; – Angehörige – Freunde …
»Ich habe keine Verwandten mehr, seit meine Stiefschwester Margot tot ist …«
»Und Freunde? Hast du auch keine Freunde?«
Ich unterdrücke das beschämende Gefühl der Vagabundin, die nichts ihr eigen nennt:
»Doch. Brague – und dann eine kleine Tänzerin, die augenblicklich irgendwo herumreist, eine uneheliche Mutter, namens Bastienne.«
Er hat eine freche Bemerkung auf der Zunge, – dann besinnt er sich:
»Übrigens … wozu schon acht Tage im voraus überlegen. Ich weiß auch noch gar nicht, ob ich dich nicht mitnehme.«
»Wenn ich will!«
Wir lachen und blicken einander zärtlich, aber nicht ganz aufrichtig in die Augen. Er ist dazu geboren, ohne Anstrengung zu gefallen, zu verführen und sich einem zu entwinden. Ich … ich bin wie die graue Stute, die mein Vater besaß: ein ordentlicher Peitschenhieb konnte ihr keine Furcht einjagen, doch der Schatten der Peitsche auf der Straße brachte sie zum Scheuen …
Er versucht es, als Herr und Gebieter mit mir zu sprechen, und ich denke daran, wie ich ihn in Nizza vor weniger als einem Monat »mein Bester« nannte und über die Schulter weg »Sie, hören Sie« zu ihm sagte … Jetzt bin ich weit entfernt von jenem vertraulichen und ungenierten »Sie«. Ich duze ihn ehrerbietig, ihn, den Spender der Lust …
Er rückt seinen Stuhl neben den meinen und teilt den Nachtisch mit mir:
»Du schneidest die Orangen in der Mitte auseinander? Ich schäle sie und tue Zucker drauf.«
»Zucker auf eine Orange, wie schrecklich! Ich werde dir im Sommer Fruchtsalate machen, du wirst schon sehen, wie gut ich das kann.«
»Das verbiete ich dir aber, hör mal! Fruchtsalat macht mir immer den Eindruck von … einem Dessert, das ein schwacher Magen wieder von sich gegeben hat.«
Eine ausgelassene Lustigkeit ergreift uns, wie jedesmal, wenn wir nicht derselben Meinung sind. Und plötzlich sage ich unüberlegt:
»Man hält dergleichen Kleinigkeiten für belanglos. Trotzdem konnte ich seinerzeit rasend werden, wenn ich sah, wie mein Mann das Brot in die Suppe tunkte.«
Aber Jean kümmert sich den Teufel um meinen Mann! Er hat die Wanduhr halb zehn schlagen hören und reckt sich gähnend in ausgezeichnet nachgeahmter Spießbürger-Unhöflichkeit; dabei zeigt er mir seine appetitliche, mit einem tadellosen Gebiß ausgestattete Mundhöhle. Ein schöner roter Rachen, der alles verschlingen kann … Er fängt meinen Blick auf, der seine ändert sich und ruht ernst auf mir …
Er schläft. Er schläft nicht wie am Tage. Er fühlt im Schlafe die Nacht, die noch lange dauern wird, die Kälte, die der späten Morgendämmerung des Vorfrühlings vorangeht; – er schläft unbeweglich und ernst, bis über die Schultern zugedeckt. Er atmet sehr langsam. Die Gaslaterne auf der Straße beleuchtet ihn schwach, denn das Fenster ist weit offen, – ich atme, als wäre ich auf dem Lande, den Geruch von feuchter Erde, Nebel, eine kühle, reine Luft, die nunmehr unserem Liebeslager etwas Keusches verleiht.
Er hat mir neben sich viel Platz gelassen, aber ich wage nicht, mich zu rühren. Ich fühle mich müde, vergessen bis zu seinem Erwachen, aber friedlich und geduldig. Er weiß nicht mehr, daß ich da bin … Ich habe ihn eben leise berührt; er hat den Arm mit einer heftigen und kindlichen Gebärde weggezogen.
Es hat sich nichts geändert. Nur meine Schlaflosigkeit gibt unserer ersten Nacht ein wenig Feierlichkeit, unserer ersten Nacht, deren Lust der Lust unserer Nachmittage nicht nachstand; es ist immerhin eine »erste Nacht« … Vor dieser Nacht liegt, abgeschlossen, meine Vergangenheit; was mag die Zukunft mir bringen?
Blicke ich denn in die Zukunft, indem ich wach und ernst hier liege, still, auf daß ich Jeans Schlaf nicht störe? Ich weiß es nicht, ich »wache«, weil es die »erste Nacht« ist. Ich wache, wie alle Frauen wachen mögen, die, ob nun zum ersten Male oder nach mancher Erfahrung, an der Seite eines schlafenden Mannes in Bangigkeit ein neues Leben beginnen.