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VI

Der Hotelomnibus geht erst in einer halben Stunde ab. Einer alten Gewohnheit getreu, habe ich meine zwei Koffer schon geschlossen, meine Handtasche schon gefüllt und gewähre mir das Vergnügen, in aller Ruhe zu frühstücken, den Inhalt des Honigtopfes und die Butterbrötchen mit gemessener Feinschmeckerei zu verzehren. Der See hat die Farbe einer kranken Perle und ist blasser noch als der Himmel, an dem man die Sonne ahnt, die bald durch die Wolken brechen wird. Ein schöner Reisemorgen …

»Herein!«

Es ist meine Rechnung – und ein Brief, kaum zugeklebt, der nicht Bragues Handschrift zeigt.

»Ich bin unten in der Halle. Ich möchte Sie sprechen. Darf ich
hinaufkommen?

Jean.«

»Warten Sie … Kellner, Kellner! Können Sie denn nicht auf Antwort warten? Eine unglaubliche Bedienung ist das! Sagen Sie dem Herrn … Nein, ich werde hinuntergehen. Oder nein, doch nicht, ich will ein paar Worte schreiben … Warten Sie eine Minute auf dem Korridor, ich werde Sie rufen …«

Es ist gar keine Veranlassung, den Kopf zu verlieren, doch habe ich das Gefühl, als blase ein Luftzug durch mein Gehirn, von einem Ohr zum anderen. Ich ergreife meine Handschuhe und lege sie wieder auf den Tisch. Ich werfe die nassen Handtücher, die auf dem Teppich herumliegen, in das Waschkabinett, ich decke das Bett zu und betrachte mich im Spiegel, außerstande, zwei zusammenhängende Gedanken zu fassen – und während dieser Minuten blödsinniger Verwirrung steht jemand im Rahmen der offenen Tür und beobachtet mich, jemand, der nicht Jean, sondern Masseau hieß.

»Masseau! Was machen Sie hier?«

Er ist im Jackett, hat einen viel zu kleinen Filzhut auf und feierliche graue Glacéhandschuhe an. Nun nimmt er den Hut ab und steht wartend, mit ehrerbietigem Ausdruck. Er scheint mir völlig närrisch.

»Was ist denn schon wieder los? Kommen Sie doch herein! Ist Jean unten?«

»Nein, Madame.«

»Nein? … Was aber? …«

Er tritt ein, legt seinen Hut ab, zieht die Handschuhe aus und reibt sich die feinen gelblichen Hände:

»Er ist nicht unten, denn wenn er unten gewesen wäre, würde er nun schon oben sein; und wenn er hier oben wäre, könnte ich nicht, ohne zu lügen, sagen: Ja, Madame, er ist unten. Daher, entweder …«

Gereizt schreie ich:

»Nein, nein, genug, ich habe keine Zeit zu solchem Unsinn. Warum sind Sie hier?«

Masseau zieht die Brauen in die Höhe und legt die rechte Hand auf einen eingebildeten Degenknauf:

»Warum? Weil ich Sie liebe!«

»Idiot! Dieser Brief stammt also wieder von Ihnen? Macht Ihnen das Spaß, diese Art von – Mystifikation? (Ich mache Sie aufmerksam, daß das noch ein sehr höflicher Ausdruck ist.) Jedenfalls kann man Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie zu viel Abwechslung in Ihre Scherze bringen … Sie sind recht albern, mein lieber Freund.«

Der liebe Freund sitzt sehr ruhig da, ißt den Rest meines Honigs mit angeekelter Miene und murmelt vor sich hin:

»Drei Kaffeelöffel voll alle zwei Stunden … Gott, wie ist diese Medizin schlecht!«

Nachdem er sich den Schnurrbart mit meiner Serviette abgewischt hat, geruht er, mir zu antworten:

»Meine liebe Freundin, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder …«

»Masseau! … Ich werde etwas zerschlagen.«

»Entweder habe ich eine Handschrift gefälscht oder aber ich habe keine Handschrift gefälscht. Eine Untersuchung wird das lehren. Vor allem aber muß festgestellt werden, ob ich das Recht habe, erstens – o gärende Säfte, o verborgener Frühling! – das Recht – o unkeusches Erwachen eines verzweifelten Mannes! –, das Recht, frage ich, erstens in Sie verliebt zu sein, und zweitens gleich vielen anderen denkenden, katholischen und geimpften Lebewesen den Vornamen Jean zu tragen.«

»Wie?«

»Ich heiße Jean«, wiederholt Masseau mit sanft flötender Stimme.

Er hat die Kommas und Gedankenstriche seiner Rede in die Luft gezeichnet und scheint von sich selbst entzückt. Ich setze mich, plötzlich recht müde, ihm gegenüber nieder:

»O Gott, o Gott, wie ist das Leben mit euch anstrengend! Was ist nun Wahres an dieser Geschichte und warum sind Sie hier?«

»Ich heiße Jean«, wiederholt Masseau.

Und indem er den Kopf zurückwirft, die Augen zukneift und das Kinn trotzig hebt, gelingt es ihm für einige Sekunden – trotz seines Bartes und seiner runzeligen gelben Haut – ein solches Wunder an Ähnlichkeit hervorzubringen, daß ich, von einer unerklärlichen Wut erfüllt, aufspringe:

»Es ist blödsinnig! Glauben Sie, daß ich meinen Zug versäumen werde, damit ich Ihre Porträtgalerie betrachten kann? Mein bester Masseau, seien Sie nicht so gemein und sagen Sie mir, wie Sie erfahren haben, daß ich in Genf bin? Gott, bin ich dumm! Der Portier des Impérial hat mir ja meine Fahrkarte besorgt! Sagen Sie mir lieber, warum Sie gekommen sind?«

Ich versuche es jetzt mit Güte und Geduld. Mit Irrsinnigen soll man ja freundlich sein. Wenn dieser Mann seine Strohmatte, seine Opiumpfeifen und seine Lampe verlassen hat, so muß das ja wohl irgendeinen besonderen Grund haben. Aber er ist schlauer als ich; ich werde ihn nicht so leicht herumkriegen. Er läßt sich durch meine Freundlichkeit nicht betören, und übrigens hat er mich ja vorhin durch die offene Tür beobachtet.

»Reisen Sie ab, liebe Freundin, reisen Sie ab. Die Geschichte wäre es in der Tat nicht wert, daß Sie Ihren Zug versäumten. Trotzdem, Jean wollte …«

»Was?«

»Aber nein, es ist zu spät, reisen Sie ab.«

Dieser Fuchs mit der feinen Nase, dieser närrische Komödiant, fängt mich und läßt mich los, fängt mich wieder und läßt mich aufs neue los, und das nur mit der Hilfe des Namens eines Mannes, mit dem ich mich in den letzten vier Tagen weniger hätte beschäftigen sollen.

»… Und sehen Sie, hier ist auch schon der Hausdiener, der Ihre Koffer holt.«

»Halt, lassen Sie das. Ich werde mit dem … Zweiuhrzug fahren.«

»Madame, um zwei Uhr geht kein Zug«, erwidert der rotbackige Mann mit den nackten Armen.

»Was geht Sie das an? Ich werde mir einen Extrazug bestellen.«

Nachdem sich die Tür geschlossen hat, werfe ich Masseau einen demütigen Blick zu, ein entwürdigendes Lächeln, das eine Erklärung erbettelt … Einen Finger am Mundwinkel, piepst er in aufreizender Weise:

»Ich werde alles sagen, aber ich verlange, daß Sie mit mir in Ouchy zu Mittag essen.«

»In Ouchy? Warum in Ouchy und nicht in … Gut, gut, in Ouchy, es ist mir recht. Aber wir haben ja noch Zeit, es ist neun Uhr. Bis dahin …«

»Bis dahin müssen Sie mit mir Bésigue spielen.«

»Bésigue? O Gott, wie langweilig!«

»Ich will es, ich will es«, schreit Masseau, der sich mit einer türkisch gemusterten Bettdecke drapiert hat, »oder das Kind, das ich unter dem Herzen trage, wird mit der Zahl dreizehntausendfünfhundert auf der Nase geboren werden.«

Er unterbricht seinen dramatischen Spaziergang und haucht in Bewunderung erstarrt vor meinem Spiegelschrank:

»Oh, die Duse! …«

 

Bis zur Abfahrt des Dampfers spiele ich in feiger Willfährigkeit Bésigue, ohne Masseau die geringste Aufklärung zu entlocken.

»Wo wollen wir in Ouchy essen, Masseau?«

»Im Hôtel du Château – mit Jean.«

»Mit Jean?«

»Ich heiße Jean«, sagt er mit sanfter Stimme. »Vierzig Buben – von den zwanzig Herz nicht zu reden, die ich nicht um eine geweihte Medaille hergäbe.«

Ich bleibe, und er nützt meine Schwäche aus. Ich bleibe, als ob Masseau der Teufel in Person wäre, als ob unser Spiel um einen hohen Einsatz ginge, von dem nicht gesprochen wird. Ich bleibe hauptsächlich, weil Masseau mir mit der Geschicklichkeit eines Irren dazu verhilft, endlich einmal wieder Neugierde zu empfinden, Freude am Geheimnisvollen, an einem Abenteuer, Lust, begehrt zu werden – für all das ist Platz in meinem Leben und noch für manches andere, für weit Schlechteres und weit Besseres. Ich wußte das wohl. Es mußte nur einer zur rechten Zeit kommen – und das ist diesem von der Vorsehung gesandten Narren gelungen.

Inzwischen spiele ich ohne Fehler, gewinne sogar, denn die Kombinationen dieses wenig tiefsinnigen Spieles passen zu meinem augenblicklichen Geisteszustand. Ein Spiel für alte Weiber, pflegte Brague zu sagen. Ein Spiel für unbeschäftigte Frauen zumindest – in der Mitte die Karten, rechts eine Tüte Bonbons und links ein Glas Likör; und die Zeit vergeht.

»Masseau … und May?«

Ich hätte diese Frage früher stellen können, ehe das Schiff die Landungsbrücke verließ, weiß Gott … Masseau ist übrigens eben damit beschäftigt, Abschied vom Ufer zu nehmen, und hört mich nicht. Er winkt einer Schweizer Familie, bestehend aus Großmutter, Mutter und vier Töchtern, mit dem Taschentuch, und der Gruß findet gewissenhafte Erwiderung. Eine Unmenge Leute sind auf dem Schiff – es ist Sonntag: stolze Jünglinge aus Gesangvereinen, Mädchen jeglichen Alters, Regenschirm und einen gestickten Pompadour über dem Arm.

Lang aufgeschossene Backfische überwiegen; ihre Kleidung dünkt mich sehr unfranzösisch und unpassend: die kurzen Röcke lassen über den Söckchen nackte Frauenbeine sehen, und schon entwickelte Brüste stecken in kindlichen Matrosenblusen …

»Es ist entzückend«, meint Masseau. »Hier scheint nun endlich ein Volk die beiden überzeugendsten Formen der Liebe zu verstehen und fördern zu wollen, nämlich die Vergewaltigung und den Lustmord. Lassen Sie mich, ich will diesem kräftigen Kind mit den nackten Waden einige Ansichtskarten anbieten.«

»Masseau, seien Sie nicht so gemein. Masseau, ich frage Sie: Und May?«

Er antwortet mir nur mit einem Blick, einem ausnahmsweise nicht theatralischen Blick, in dem der wahre Masseau sich zeigt, fein und verächtlich … Zum ersten Male schäme ich mich vor ihm wie vor einem Mann … Fünf Minuten später sitzt er zwischen einem Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren und dessen Mutter und unterhält sich mit ihnen. Die Hände auf dem Griff seines Regenschirms verschränkt, imitiert er den scheinheiligen Ausdruck, den listigen Blick, die vertrauliche Miene eines schlechten Priesters und scheint vergessen zu haben, daß ich auch noch da bin.

Schlaf befällt mich, der köstliche Schlaf in der freien Luft, der Schlaf auf dem Schiff, in der Hängematte oder im offenen Wagen. Der helle Schiffsrumpf, der Himmel und der See in der Ferne, alles verschwimmt in demselben weißlichen Grau, und die unbewegte Luft ist erfüllt von dem milden und bedrückenden Geruch des Süßwassers.

Wohin treibe ich? … Ich werde es früh genug erfahren. Man entführt mich, und ich empfinde für kurze Augenblicke einen eigentümlichen Frieden, die träge Ruhe eines Gepäckstückes. Wie eine empfindliche Magnetnadel fühle ich das Herannahen eines fremden Willens, den der meine ahnt. Und da es sich – wenigstens augenblicklich – nicht darum handelt, dagegen anzukämpfen, empfinde ich nur eine leise Wirkung von ferne her, eine wohltätige Hypnose.

Wie lange wäre ich noch mit offenen Augen in diesem Wachtraum, in diesem Halbschlaf gefangen geblieben, den die Wellenlinie des im Dunste verschwimmenden grünen Ufers umkoste, ohne ihn zu stören? Ein optischer Reiz weckt mich plötzlich, ein massiges, hohes viereckiges Hindernis, mit einem roten Ziegeldach, der Turm des alten Schlosses von Ouchy.


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