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IX

Was ich getan habe, nennt man, glaube ich, sich in die Höhle des Löwen begeben. Sei es denn, ich bin drin und ich bleibe drin. Es ist ganz behaglich da, und ich bin im Augenblick so ruhig, als hätte mich der Löwe bereits verschlungen. Jean? … Jean ist ein Stockwerk unter mir in seinem Zimmer. Vielleicht geht er auch am Seeufer spazieren, denn es hat aufgehört zu regnen. Mag er sein, wo er will. Es ist fast, als wenn ich heute abend weniger an ihn dächte als heute früh und all die Tage vorher.

Mit einem leisen Seufzer habe ich mich in mein Zimmer eingeschlossen; es liegt ganz oben im Turm und hat ringsherum Fenster. Gotische Wappen, mit denen Wände und Decke bemalt sind, erzählen vom Ursprung des alten Schlosses von Ouchy, aber ich interessiere mich mehr für das Badezimmer und für das dampfende Wasser, das in der Wanne plätschert.

Der heutige Tag hat meine Kräfte verbraucht. Ich wehre mich nachträglich gegen diese fünfzehn Stunden moralischer Verkrampftheit, angstvoller Unruhe und bewaffneter Koketterie. Warum bewaffnet? Als ob das der Mühe wert gewesen wäre! In angeborener Romantik ging ich bereits daran, die Liebe zu besingen oder zu schmähen … Als ob es sich um Liebe handelte! Ich schöpfe Atem und blicke zurück – ganz vorsichtig, um die Begierde, die alles verdirbt, nicht wach werden zu lassen –, blicke auf das heutige Erlebnis zurück. Es ist das, was ich am wenigsten kenne: das flüchtige Abenteuer. Man kann es auch anders nennen, aber ich vermeide diese Namen, weil sie gemein sind – es bleibt ihm ohnedies nicht viel Schönes … Mich zu beglückwünschen, finde ich nur armselige, knurrige Worte, Sätze, wie man sie zu einem Kinde sagt, das sich verbrannt hat, weil es mit Streichhölzern spielte, oder das beim Laufen hingefallen ist: »Siehst du, bist du jetzt zufrieden? Hast du jetzt, was du wolltest? Du hast ja nicht eher Ruhe gegeben! Na, Ende gut, alles gut …«

Ich höre Schritte unter mir. Das ist Jean – oder Masseau oder ein anderer. Bei dem Gedanken, daß Jean heraufkommen und an meine Tür klopfen könnte, hebe ich nicht einmal den Kopf. Es ist nicht etwa Gefühllosigkeit – o nein, keine Spur … Welch seltsame Resignation! Ein Kuß – und alles wird einfach, köstlich leicht, von etwas derber Harmlosigkeit. Ein Kuß – und die rastlos wirbelnden Gedanken sinken zu Boden wie eine Wolke Sommermücken bei den ersten schweren Tropfen eines Gewitterregens. Es gibt nichts Klareres, als dieser wortlose Kuß es war. Nicht ein verliebtes Wort, nicht eine geflüsterte Bitte, nicht einmal mein Name, leise gestammelt, nichts als ein Kuß, verräterisch von hinten gegeben und glücklich, aber ohne Hingabe empfangen. Ich habe dieses Kusses wegen einen banalen Satz kaum unterbrochen. Ich habe ihn weder verhindert noch habe ich ihn erwidert. Und bei Jean dasselbe Bemühen, ihn gleich nachher zu vergessen. Unsere Körper haben aneinandergeschmiegt gebebt, und werden sich bei der nächsten Berührung dessen erinnern, während sich unsere Seelen wieder in dasselbe unaufrichtige und bequeme Stillschweigen hüllen werden. Jeans Schweigen bedeutet:

»Beunruhige dich nicht! Es handelt sich nur um Wollust, um Wollust, um nichts als Wollust. Vom übrigen wollen wir nichts wissen.«

Und mein Schweigen erwidert ihm: »Gibt es denn ein ›Übriges‹? Ich habe nicht einmal daran gedacht. Aber sei ruhig, du wirst mir es nicht in Erinnerung bringen.«

Warum sollte in unserem Verhalten nicht ebenso viel Zartgefühl liegen wie Zynismus? Ich gestehe Jean zu, daß er nicht nur seine Freiheit, sondern auch meinen von Mißtrauen erfüllten Unabhängigkeitstrieb schützen will. Ich kann ihm das gerne zugestehen, vorausgesetzt, daß er begreift, was ich biete und was ich versage: »Du beruhigst mich … auch dir soll dein Friede bewahrt bleiben; ich will deine Zukunft nicht mehr und nicht länger beschweren als vorhin deine Arme; nicht mehr als ein Halm, der für kurze Zeit zu Boden sinkt, sich erholt, sich wieder aufrichtet und keiner Stütze mehr bedarf.« Er wird es verstehen – wenn es sein muß, werde ich es ihm auch sagen –, aber es gibt ja andere Mittel der Verständigung zwischen mir und ihm. Wir werden, so hoffe ich, uns nicht in langen verliebten Gesprächen ergehen, nicht in langweiligen Bekenntnissen. Gerade unser Schweigen hebt unser flüchtiges Abenteuer auf eine höhere Stufe. Wir dürfen, wir können nicht von der Vergangenheit sprechen; – die Vergangenheit ist die betrogene kleine May und andere kleine Mays vor ihr; die Vergangenheit ist der beweinte, gefürchtete Max, stark und untadelig, einer schönen, unübersteigbaren Mauer gleichend … Wir dürfen nicht von der Zukunft sprechen, denn das hieße von Liebe sprechen! Also schweigen wir …

Ruhe löst meine Glieder. Es ist, als ob ich plötzlich aufgehört hätte zu denken. Ich habe das Gefühl, als hätte ich eben alle Einzelheiten eines bis ins kleinste ausgearbeiteten Planes, alle Vorgänge einer bevorstehenden Zeremonie angeordnet. Ich werde wahrscheinlich bald tief schlafen, aber es verlangt mich nicht besonders danach. Was nützt mir der tiefe traumlose Schlaf? Ohne daß ich die müden Augenlider schließe, gleiten schattenhafte Traumgestalten über den dunkelblauen Hintergrund der Fenster. Diese bunten Schattenbilder sind der Trost meiner unruhevollen, die Freude, das Spiel meiner ruhigen Nächte. Geschaute und erdichtete Landschaften, wenige belebte Wesen; – märchenhafte Sterne, die in so vielfältigem Licht erstrahlen, andere, die in so düsteres Geheimnis getaucht sind, daß mich Stolz erfüllt, als hätte ich sie gemalt; – das ist alles – das genügt …

Ich werde ganz einschlafen. Der richtige Schlaf, der richtige Traum, der wahrscheinliche, wohlgeordnete, ausgestaltete Traum, die andere Welt, sie winken mir, aber ich wehre mich gegen sie, denn ich weiß, daß ich die Staffage jener geheimnisvollen Welt nicht selbst auswählen darf, weder ihre Dekorationen noch ihre Gestalten, die dem Reich der Toten entstammen, die längst entschwundene Freunde sind oder vergessene Spielgefährten aus vergangenen Jugendtagen. Meine Freunde aus jüngster Zeit, die Bekannten meines täglichen Lebens steigen nicht hinab in jene Regionen … Ich wehre mich, um bei leichteren Erscheinungen zu verweilen, bei denen, die ich nach Belieben auf den blauen Hintergrund der Fenster zaubern kann. Jean! …

Ein leiser Ruf, aber doch zu hören. Da steht er auf einer weißen Freitreppe, die in einen hübschen Hotelgarten führt. Da steht er, wie er leibt und lebt, aber ich habe den Schlüssel zu seinem Antlitz und zu seinen Gebärden verloren, sie sind mir unverständlich geworden … Er ist in seiner namenlosen Vollendung der Unbekannte. Er folgt mir; er verschwindet, sobald ich mich umdrehe, aber ich erkenne, daß er den Wunsch hat, gesehen zu werden. Den Gartenweg, den ich betrete, ist er eben gegangen. Fliederblüten und dornige Schlingrosen hängen geknickt, wie von einem großen flüchtigen Tier benagt, in der Höhe meines Gesichtes.

Wo hat er sich versteckt auf dieser runden, mit gelbem Kies bestreuten Lichtung? Es gibt keinen anderen Schlupfwinkel für ihn als die niedrigen dunklen Gebüsche, die in der Sonne duften. Oder er verbirgt sich in meinem Schatten, wie treue Hunde, die sich ihrem Herrn an die Fersen heften. Er folgt jeder Bewegung meines Schattens; er versucht in hartnäckiger Ergebenheit, meinen Schatten mit dem seinen zu decken …

Vorwärts! Ich fliehe nicht, doch das unaufhaltsame Abrollen des Traumes jagt mich. Unbekannter, hörst du mich? Ich fliehe nicht. Meine Flucht würde dir als Sieg gelten. Ich gehe weiter in ein Zimmer, das meines ist, wie alle Zimmer aller Hotels mein sind, und du kannst nicht eindringen. Im Rahmen des geöffneten Fensters, das erfüllt ist vom Graublau des Meeres, steigt der blauere Rauch deiner Zigarette auf. Wenn ich mich aus dem Fenster neige, wirst du wieder verschwinden, nur ein Duft von Rauch und Parfüm wird in der Luft zurückbleiben. Du hast eine Heliotropblüte im Knopfloch; ich kann sie nicht sehen, aber ich erkenne ihren Geruch.

Vorwärts! Der Traum kennt kein Verweilen, denn er fürchtet seine eigene Zerbrechlichkeit und eilt einem logischen Ende entgegen, das von einem Knacken der Dielen, vom nagenden Zahn einer Maus, von einem nervösen Erschrecken ausgelöst wird. Vorwärts! Damit ich fühle, daß du mich verfolgst, nicht wie ein eifriger Jäger, sondern mit dem bösen Blick eines halberwachten Raubtieres, das ein träger Hunger beutelustig macht. Ach, du strengst dich meinetwegen nicht sehr an … Es ist immerhin ein Schachzug, schön zu sein.

Du bist schön, und ich weiß nicht, wer du bist. Du mußtest in dem heißen Lande, dem du fehltest, auftauchen. Du vervollständigst die Landschaft, die mein Traum schuf, nicht anders als die Pappel, die wie eine starre Feder auf dem Hügel steht, und der dunkelblaue Fels, den die grüne Woge in plötzlichem Anprall mit weißem Gischt bedeckt. Verlangst du mehr? Es ist genug, denn du verkörperst weder den Schmerz noch die Liebe, und dein Antlitz, dein Blick, deine aufreizende Gleichgültigkeit weisen dir den Platz an, der dir gebührt …

Ich weiß nicht, wer du bist, und doch schmähe ich dich und sage »du« zu dir, Unbekannter! Jetzt wächst dein Schatten neben dem meinen in der Allee. Du wirst mich überholen; ich höre deine langen, schläfrigen Schritte, als gingest du auf schweren, samtweichen Tatzen … Überhole mich, geh voran, damit meine Äugen den Linien deiner Gestalt folgen können, vom kurzgeschorenen Hinterkopf mit den blauschwarzen Haaren bis zu den nackten, drohend geballten Fäusten. Vorwärts! Folge mir, geh voran, sprich nicht … Warum bist du nicht stumm, schöner Schatten? Bleib bei mir, laß uns zusammen dem Ende dieses Traumes entgegeneilen, aber schweige!

Nütze die verschlungenen Pfade des Parkes, der im hellen Licht der Sonne und in der Pracht glutroter Blüten erstrahlt! Nütze die leise Musik, die aus unbekannten Fernen erklingt und auf den Wogen des Windes heran schwebt. Sei ein paar Augenblicke lang, die weder du noch ich zu ermessen vermögen, die schöne Zierde dieses Bildes.

Ich will dir auf dieser Terrasse begegnen, hinter der das Meer liegt und das Ende des Traumes. Komm dahin; komm ganz langsam und still, damit ich mich über die Entfernung täusche, die uns voneinander trennt, damit, wenn ich zitternd schwanke, kein Platz mehr zwischen uns ist, um meine Arme zur Abwehr auszustrecken … Komm, schöne Klippe auf meinem friedlichen Wege, komm, damit ich dich überwinde – da ich dir doch nicht ausweichen will.


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