Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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16

Der Sägewerksbesitzer Max Huß kam nachmittags gegen zwei Uhr mit dem Auto vom Johanniskreuz. Er saß allein hinten im Polster und hatte die Augen geschlossen, sein Chauffeur wußte Bescheid, der war am Steuer und rauchte eine dicke Brasil, die würde ihn munter halten.

611 Max Huß war ein wenig angesäuselt, er hatte mit verschiedenen pfälzischen und badischen Sägewerksbesitzern ein kleines Fest gefeiert. Fest war zuviel gesagt, nein, nur ein gutes Essen mit Wein und französischem Champagner, lieber Gott, man mußte sich einmal etwas gönnen, die Zeiten waren trostlos genug, der Alkohol vermochte arme Schlucker über manches hinwegzusetzen. Schließlich aß und trank man nicht ohne Anlaß, man brachte einen Vertrag mit nach Hause, hier stak er in der linken Brusttasche, man konnte ihn von außen fühlen.

Was für ein Vertrag denn?

Nicht so laut, bitte, es gab Verträge, die man nicht an die große Glocke hing, um nicht verschiedenen Behörden die Mäuler aufzureißen. Alle jene, die Zeter und Mordio schrien, kannten eben die Verhältnisse in der pfälzischen Sägewerksindustrie nicht, die Zwangslagen und Notlagen und das ewige Rennen nach Holz.

»Heiner, geh doch nicht so verrückt in die Kurven!«

Heiner qualmte Brasilwolken und gab noch mehr Kattun, wie er sich fachmännisch ausdrückte.

Also wie gesagt, man mußte die Verhältnisse kennen. Oberster Grundsatz: besser, wir haben den Wald, als daß ihn die ausländische Konkurrenz hat.

Was hieß übrigens Geheimverträge?! Man hätte das gar nicht nötig gehabt, das deutsche Recht war suspendiert, eine Verfehlung konnte nicht nachgewiesen werden.

Wie bitte, es ginge gegen die guten Sitten? Ha ha, Holz gegen die guten Sitten! Nein, man hätte diese Geheimniskrämerei nicht nötig gehabt, es ging alles mit rechten Dingen zu, nichts da, keinen Finger breit vom Recht entfernt.

Geheimverträge nur, um die bayrischen hohen Herren nicht unnötig aufzuregen. Reine Rücksichtnahme. Takt.

Max Huß lachte, das nackte Gesicht war rot und die kalten Augen glänzten vom genossenen Mahl.

Er griff in die Tasche und zog – – Heiner, verflucht nochmal! – zog den Vertrag heraus und las mit verschwommenen Augen und einem zufriedenen Schmunzeln.

Freiwillige Lieferung von Schnittholz, Nadelholz- und Eichenschnittware, Eichen-, Kiefern- und Buchenschwellen, Masten, Grubenholz in vorgeschriebenen Mengen in der Zeit von März 1924 bis 1. Februar 1925 gegen Zuteilung von wertvollen Waldbeständen und 612 Ersatz der Unkosten für Hauung, Abfuhr, Verladung und Geschäftsgeneralien.

Zum Donnerwetter, das war doch ein gutes Geschäft, und außerdem blieb vorläufig der Wald auf dem Stock. Vorläufig!

Er, Max Huß, und die übrigen C.-S.-Verträgler retteten den Wald, indem sie ihn kauften. Ha ha ha!

Der Champagner stieß ihm auf, er hatte sich mit dem Rehrücken Cumberland übernommen. »Heiner, mal anhalten!«

An einem Baum stehend, las er im Vertrag, es war verflucht kalt hier, der Schnee schob sich in Verwehungen über die Straße.

»Heiner, das gibt heute noch mehr Schnee, fahre zu!«

Wie stand es denn mit dem Preis, wie stellte sich das Geschäft? Max Huß rechnete, er war ein ausgezeichneter Rechner.

65 000 Festmeter Nadelholz, 12 000 Festmeter Eichenschwellenholz, 4000 Festmeter Kiefern, 1900 Festmeter Eichensägholz. Bare Geldentschädigung 171/154 Fr. für den Festmeter Nadelschnittholz, 40/50 Fr. für Grubenholz, 75 Fr. pro Festmeter Masten, 12 Fr. je Stück Schwelle und 182 Fr. für Eichenschnittholz.

Was für ein Durchschnittspreis errechnete sich also für den Festmeter stehende Derbholzmasse?

Huß zog einen Bleistift und kritzelte.

Draußen fiel Schnee. Der Sägemüller schaute flüchtig auf und sah ihn gegen die Fenster treiben.

Ergab rund 10,20 Goldmark für den Festmeter.

Moment mal, wie hoch war der Durchschnitt vergleichsweise bei den Ventes gekommen? Moment mal, rasch gerechnet. 28,60 Goldmark für den Festmeter.

Gewinn am stehenden Holz also, glatt herausgesagt, 180 Prozent. Ganz entre nous natürlich, wenn den Sentimentalen die Felle davonschwammen, meinetwegen, auf jeden Fall war der Vertrag – Heiner, du wirfst uns noch in die Scheiße –  – perfekt.

War er denn der einzige, der einen Scheinvertrag abgeschlossen hatte? Nicht in die kalte lamäng, ein Dutzend seiner Kollegen hatten abgeschlossen, auch sein großer Konkurrent, der im Verband eine Rolle spielte, und jene rechtsrheinische Firma, die jetzt schon hauen wollte, was das Zeug hielt. Die Schreier sollten sich beruhigen, das Risiko bei der Unsicherheit des französischen Franken war auch nicht von Pappe, es hatte alles seine zwei Seiten, man mußte die Verhältnisse kennen.

613 Er schaute durchs Fenster hinaus, sie fuhren abwärts ins Tal hinunter. »Heiner, mal anhalten!«

Max Huß blieb noch eine Weile draußen. Es schneite stärker. Was war denn über ihn gekommen? Er ging durch den Schnee zwischen die hohen Fichten, er stapfte in die schweigende Dämmerung hinein, als ob ihn jemand gerufen hätte.

Er blieb stehen und schaute in die Nadelwipfel, die ohne Bewegung schwer nach unten hingen mit der Last ihres Schnees. Der Wind war eingeschlafen, aber zwischen den Bäumen sanken die weißen Flocken müde zur Erde. Feucht glänzte das Moos der Rinde, auf der Wetterseite waren feine Schleier gegen die Stämme geweht.

Max Huß schaute immer noch aufwärts, er war ganz umgeben von ragenden Bäumen. Ihm war plötzlich, das alles müßte unsagbar feierlich sein. War es denn möglich, daß auch dieser Mann, den das Geld geschändet hatte, in der verborgenen Tiefe seiner Brust eine Regung aufbewahrte für die ewige Größe der Wälder, für ihre Gottnähe und für die Heiligkeit ihres Daseins? War irgendwo, verschüttet und überwuchert vom unseligen Geschäft, ein sterbendes Funkeln, das noch einmal aufglühen wollte, bevor es von Bilanz und Saldo verschluckt wurde?!

Der Sägemüller hatte lange keine Bäume mehr gesehen, er hatte immer nur Holz gesehen und hiebreife Ware. Jetzt sah er mit einemmal Bäume. Er sah Wald, o großes Wunder! Aber der Wald, den er überraschend begriff, war gegen ihn.

Der Wald, der wie von den Toten auferstand vor ihm und Leben gewann und ein fernes Herz, wandte sich ab von ihm, es gab keine Gemeinschaft zwischen ihm und dem Wald.

Er taumelte durch den Schnee, die Bäume gingen mit ihm, sie stampften hinter ihm her, sie schlossen sich zu einer fürchterlichen Gefolgschaft. Er flüchtete vor ihnen.

Noch einmal blieb er stehen, sich selber ein Rätsel und ratlos vor seinen eigenen Gefühlen. Wie lange mochte es her sein, daß er keine Bäume und keinen Wald mehr gesehen hatte! Holz und immer nur Holz. Ganze Wälder hatte er abgeholzt, kahl standen die Kuppen, kein Baum mehr in der Öde.

Warum sah er plötzlich Bäume, warum sah er Wald?!

Das mußte doch eine Bedeutung haben.

Er ging auf die Fahrstraße hinaus, dichter fiel der Schnee.

»Heiner, fahre zu, ich glaube, daß ich zuviel getrunken habe.«

614 Beim Forsthaus vorm Dorf machte er Halt, denn er hatte noch etwas mit dem französischen Forstbeamten Laroche zu bereden, der gallische Hund mußte mit dem neuen Vertrag bekanntgemacht werden.

Als er in das Büro trat, sah er seinen Bruder Gerhard auf einem Stuhl sitzen und mit Laroche verhandeln.

»Gerhard«, rief er, »es geschehen Wunder, willst du Holz kaufen? Monsieur Laroche, à la bonne heure, das nenne ich zur Einsicht kommen.«

»Ich will kein Holz kaufen«, antwortete Gerhard Huß, »man hat mir den Rest, den ich noch im Wald lagern hatte, schon vor Monaten beschlagnahmt.«

Monsieur Laroche lächelte verbindlich und schnippte die Asche von seiner Zigarette.

»Beschlagnahmt? Das sein riktig, mais n'oubliez pas, c'est l'ordre. Wenn Sie kaufen 'olz von Frankreich, Sie bekommen zurück der beschlagnahmte 'olz.«

»Ich kaufe kein Holz. Meine Gatter stehen still.«

»Gutt, das sein nix riktig von Sie, monsieur 'uß. Sie müssen maken Schnitt für Frankreich. Guttes Geld, gutt besahlt, fragen Sie Bruder.«

Max Huß wurde wütend, als er seinen Bruder sitzen sah, die Armut roch man gegen den Wind; unrasiert und mit einem speckigen Hut war er gekommen.

»Du könntest Geld verdienen wie Heu, wenn du nicht ein so verfluchter Dickschädel wärst, es könnte dir gut gehen, statt dessen läufst du herum wie ein Schnorrant, dem das Karussell verbrannt ist. Was willst du denn eigentlich hier?«

»Ich bin nicht freiwillig gekommen, man hat mich gerufen.«

»So, und warum denn?«

Laroche mischte sich ein, er stieß die Fingerknöchel auf den Tisch.

»Wenn er nix will arbeiten für uns, wir werden seine ganze Werk beschlagnahmen und selber schneiden.«

Max Huß kam auf seinen Bruder zu, er beugte sich vor und stieß ihm mit dem Zeigefinger vor die Stirn.

»Bist du denn ganz von Gott verlassen? Ich habe massenhaft Holz, du kannst für mich Lohnschnitt machen; du hast kein Risiko, du brauchst nur das Geld einzustecken. Wir brauchen jedes Gatter, um unsere Verpflichtungen zu erfüllen.«

615 »Ich weiß, daß du Gatter brauchst, wie könnte sonst einer im Ludwigstal eine Mühle aufgemacht haben, der noch vor acht Wochen Schuhe verkauft hat.«

»Dieser ehemalige Schuhverkäufer ist eben ein Geschäftsmann.«

»Das bin ich auch, ich besitze aber nebenbei noch so etwas wie Ehrgefühl.«

»Mein Geschäft, Gerhard, geht vor meinem Ehrgefühl. Ich kann nichts abknabbern von meinem Ehrgefühl.«

»Zumindest auch eine Anschauung.«

»Wie weit bist du denn mit deinem Ehrgefühl gekommen? So weit, daß du das Brot nicht über Nacht im Hause hast.«

»Die Anständigen müssen heute einfach leben. Ich bin überzeugt, daß du etwas Besseres im Magen hast als ich.«

»So, woher weißt du denn das?«

»Weil mir bekannt ist, daß du deinen neuen Lieferungsvertrag in der Tasche hast.«

»Messieurs«, fuhr Laroche dazwischen, »zur Sake. Monsieur 'uß, Sie 'aben eine Frist bis ibbermorgen, wenn dann nix einverstanden, wir werden Ihre Gatter nehmen in régie française. Une cigarette?«

»Danke. Ich habe keine Frist mehr nötig, weil mein Entschluß feststeht.«

»Du Eisenkopf!« rief Max Huß, »du machst es nicht auf eigene Gefahr, ich kann dir verraten, daß gewisse einflußreiche politische Kreise überm Rhein rückendeckend hinter uns stehen.«

»Die Rückendeckung hast du immer nötig gehabt, mit dem eigenen Risiko gehst du haushälterisch um.«

»Auch der Verband – –«

»Laß den Verband aus dem Spiel, denn dort hast du eigentlich nichts mehr verloren.«

Gerhard Huß machte eine wegwerfende Handbewegung und griff nach dem speckigen Hut.

»Dann kann ich wohl gehen?«

»S'il vous plaît, monsieur 'uß, Sie 'aben Zeit bis ibbermorgen.«

»Geh, du Narr!!« stieß Max Huß hervor und stampfte mit dem Fuß auf. »Erwarte nicht, daß ich dir unter die Arme greife.«

Gerhard Huß, der schon an der Tür stand, kam noch einmal zurück und blieb vor seinem Bruder stehen. Er schaute ihn lange an, dann sprach er halb traurig: »Jetzt habe ich vergessen, was ich sagen wollte. Ich wollte dir irgend etwas Gutes sagen, ich weiß selbst nicht, wie das 616 über mich gekommen ist. Doch, Max, mir war, ich müßte dir irgend etwas Gutes sagen. Wie sonderbar!«

Er ging rasch hinaus und schloß leise die Tür. Laroche lachte hinter ihm her. Sie sahen ihn draußen durch den Schnee stapfen, er schlug den Mantelkragen hoch und schob beide Hände in die Taschen.

Max Huß schaute ihm betroffen nach und sah ihn im Schneetreiben wie einen Schatten verschwinden.

»Was wollte er denn von mir?! Er wird sich doch nichts antun?! Er sprach so komisch, das hat ja fast wie Abschied geklungen!«

Er verhandelte mit Laroche wegen des neuen C.-S.-Vertrages. Vorläufig sollte alles auf dem Stock bleiben, bis seine Vorräte aufgearbeitet waren. Gefährlich für den pfälzischen Wald konnte die rechtsrheinische Firma werden; diese Herren hatten die Absicht, die übereigneten Bestände möglichst ausgiebig zu nutzen. Ihm, Max Huß, konnte vorläufig nichts passieren, er hatte Arbeit, er hatte Geld, er hatte Wälder. Wurde man hier langsam französisch, eh bien, dann konnte er auf seine Verträge pochen, im andern Fall blieb ihm sogar die großartige Möglichkeit, die übereigneten Wälder wieder an den bayrischen Staat zu verkaufen, nom d'un chien, ein großartiger Saltomortale.

Die Angelegenheiten standen überhaupt schon so rührend verwickelt, daß sich nur noch die in allen Sätteln Gerechten und mit allen Wassern Gewaschenen auskannten. Nur immer gut mischen und durcheinanderwerfen, Micum und Ventes und Coupes supplémentaires, und dazwischen noch die Reparationsholz-Treuhandverträge. Dieser monsieur Laroche, der nach Patschuli stank und so gerne Lauchstangen, sogenannte Bettelmannsspargel mit gebranntem Zucker aß, dieser Laroche warf schon selber alles durcheinander, was beim Auszeichnen der Bäume von nicht geringem Vorteil war. Wie pfiff denn überhaupt das politische Lüftchen? Der Präsident war tot, die Bauern kehrten dem Neuen den Rücken, der kleine General wurde überrundet, man konnte sich vielleicht auf einen neuen Bezirksdelegierten gefaßt machen.

Monsieur Laroche zeigte dem Holz-Huß eine interessante Aufstellung. Bis jetzt hatte die Pfalz schon rund 1700 Hektar Großkahlflächen und Lichthauungen aufzuweisen, ein schöner Erfolg für die Pfänderkasse.

Sie schauten sich an, der Henker Laroche lächelte. ›Ihr Schweine‹, dachte Huß, denn er hatte sich noch eine letzte gute Regung aufbewahrt; ›ihr dreimal verfluchten Schlächter!!‹

617 Auch er lächelte, sie lächelten beide, ein Nichts, ein luftleerer Raum war zwischen ihnen. –

Um vier Uhr kam der Förster Christoph Aust, still und bedrückt, nichts in diesen starren Zügen verriet etwas von den Gedanken, die hinter der harten Stirn ihr Wesen trieben. Er schüttelte den letzten Schnee ab und legte eine Reihe von Holzlisten auf den Schreibtisch. Er wollte wieder gehen, da trat ihm Max Huß in den Weg.

»Ich bin wohl Luft, Christoph Aust? Man sieht mich nicht mehr?«

»Ich habe guten Tag gesagt.«

»Das ist aber auch alles gewesen.«

»Ich bin im Dienst und muß noch einmal nach der Sonnenhalde.«

»Die Sonnenhalde ist mein Eigentum.«

»Aber nur der Kiefernbestand, und der ist kahlgeschlagen. Der Buchen-Eichen-Bestand – –«

»Ist mein Eigentum.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Ab heute.«

»Ich wiederhole, daß ich davon nichts weiß.«

»Monsieur Laroche, Ihr Vorgesetzter, wird Ihnen das schon noch mitteilen.«

»Parfaitement, monsieur 'uß. Christoph Aust, ik 'aben Sie gewarnt, Sie dürfen nix sein renitent.«

»Ich tue meine Pflicht, mehr kann mir nicht mehr aufgeladen werden. Ich trage schwer an meiner Pflicht.«

Er schaute durchs Fenster hinaus in das weiße Flockengestöber. ›Heute wird noch Wind aufkommen‹, dachte er und hatte Sorgen um die Fichten am Rehberg, wo der Windmantel fehlte.

»Rapport, monsieur Aust?«

»Ich wiederhole nochmals, daß im Gesenke Buchenstarkhölzer fehlen.«

Max Huß verfärbte sich kaum merklich, wischte mit der flachen Hand über das gedunsene Gesicht und räusperte sich.

»Buchenstarkhölzer?! Ich habe dort Zellstoffholz schlagen lassen. Aber keine Buchen.«

Monsieur Laroche senkte den Kopf, Max Huß schaute ihn an, flüchtig begegneten sich ihre Blicke. Laroche inhalierte Zigarettenrauch.

»Es fehlen aber Buchenstarkhölzer!«

^Erlauben Sie mal«, brauste Huß auf, »sind die Buchen vielleicht 618 verdunstet oder ausgewandert? Oder hat sie der Gottseibeiuns verhext?«

»Sie sind gefällt!«

»Gefällt?! Wenn sie gefällt sind, dann wird das schon seine Richtigkeit haben.«

»Nach meinen Schlagregistern nicht.«

Jetzt fuhr Laroche aufbrausend dazwischen; er zog wieder den Zigarettenrauch in die Lunge, stieß ihn fauchend aus und kam hinter seinem Schreibtisch hervor.

»Was sollen das 'eißen?«

»Rapport, sonst nichts.«

»Wollen Sie am Ende mich beschuldigen«, fragte Huß spuckend, »ich hätte Buchen fällen lassen, an denen ich kein Recht besaß?«

»Ich stelle nur fest, daß die Buchen gefällt sind.«

Christoph Aust verlor die Ruhe, die Stimme hob sich, das starre Gesicht färbte sich rot.

»Es fehlen auch Eichen im Gräfensteiner Wald«, rief er, »die nicht im Schlagregister stehen.«

»Dort ist nur Eichenschwellenholz geschlagen worden, und das mit Recht. Moment mal – –«

Er wollte sein Notizbuch ziehen, aber Aust fuhr ihm in die Rede.

»Das sind Stämme bis 55 Zentimeter Durchmesser, die hochwertigen Stämme aber, die nur für Schnittware in Betracht kommen, sind trotz meinem Protest auch gehauen worden.«

»Ich kann nicht jeden Stamm auf die Goldwaage legen.«

»Das sein nix Ihre Sak, monsieur Aust, ik 'aben das su verantworten.«

»Darf ich gehen?« fragte der Forstmeister und griff zum Hut.

»Gehen Sie; bitte, gehen Sie immersu!«

Max Huß spielte den Beleidigten, er zog den Mantel an und stampfte mit den Füßen auf.

»Moment mal, ich komme mit, Christoph Aust. Mich interessieren die verschwundenen Buchen. Doch, ich komme mit, ich kann versteckte Vorwürfe nicht auf mir sitzen lassen. Au revoir, monsieur Laroche, ich werde morgen in der bewußten Angelegenheit mit Ihnen Rücksprache nehmen. Übrigens, meine Frau läßt Sie grüßen, wir hoffen, Sie demnächst wieder bei uns zu sehen; nur bescheiden natürlich, ganz bescheiden. Bettelmannsspargel, ha ha ha ha!«

Er verließ mit dem Forstmeister das Büro.

619 »Heiner, fahren Sie zum Teufel. Ich gehe noch rasch ins Gesenke und komme dann zu Fuß über den Rehberg nach Hause. Brich dir aber nicht das Genick.«

Sie gingen eine Weile schweigend durch das leichte Schneetreiben, Huß trieb durch seine hastige Gangart zur Eile an, der Forstmeister machte bedächtigere Schritte. Sie bogen in einen Holzziehweg ein und kamen in den Buchenwald. Der Ziehweg stieg aufwärts, rote Erde kam durch den nassen Schnee, der Wald war grau verhängt. Kiefern mischten sich mit Buchen.

Sie sprachen nicht, denn keiner von ihnen fand das erste Wort, und so stiegen sie in einem stummen Grimm Seite an Seite aufwärts, manchmal wandte der eine den Kopf und schaute den andern forschend von der Seite an.

Weiß stieg ihr unruhiger Atem in die Luft.

Bei der ersten Lichthauung vorm Gesenke blieb Max Huß stehen, er holte tief Luft und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Dann nahm er einen Anlauf und brach das bedrückende Schweigen.

»Ich bin nicht nur wegen der Buchen mit Ihnen gekommen, Christoph Aust, das hat noch einen anderen Grund.«

»Ich höre.«

»Ich möchte Ihnen den freundschaftlichen Rat geben, mit uns in gutem Einvernehmen zu bleiben, es kann nur Ihr Vorteil sein. Man muß sich endlich einmal mit den bestehenden Tatsachen abfinden.«

»Ich kann mich in meinem ganzen Leben nicht damit abfinden, daß man Raubbau treibt und jetzt einen vollständigen Ausverkauf aller reifen und unreifen Holzbestände veranstaltet.«

»Das ist nicht unsere Schuld, Christoph Aust.«

»Das ist auch unsere Schuld, denn ohne die Mithilfe gewisser Subjekte hätten die Franzosen in unseren Wäldern nicht viel ausrichten können.«

Max Huß biß die Zähne zusammen. Dieser verfluchte Aust, dieser Wäldler, dieser Fanatiker, ließ nicht locker, man mußte ihm mit anderen Mitteln kommen.

»Wir haben hier einen wirtschaftlichen Kriegsschauplatz, Christoph Aust. Haben Sie vergessen, daß Sie in Landau auf dem Marmeladeneimer gesessen haben?«

»Das könnte ich bis zum jüngsten Tag nicht vergessen.«

»Sie wissen doch auch, warum man Sie hinter die Gardinen gebracht hat?«

620 »Nicht, weil ich etwas Unrechtes, sondern weil ich das Rechte getan habe. Ich habe nach der Beschlagnahme Nummernlisten und Schlagregister verbrannt.«

»Weiß ich, weiß ich.«

»Ich will darüber, wer mich denunziert hat, hier keine Vermutung aussprechen.«

»Das dürfte auch das beste sein. Moment mal, wissen Sie auch, daß man Sie nur wegen dieser Listen verurteilt hat?«

»Natürlich weiß ich das, es ist mir genau genug unter die Nase gerieben worden.«

»Könnte es am Ende sein, daß Sie wegen anderer Verstöße gegen die französischen Ordonnanzen noch gar nicht bestraft sind, wohl aber noch bestraft werden könnten?!«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Dann will ich ein wenig deutlicher werden. Es ist mir nicht ganz unbekannt, daß Sie, um die Franzosen zu schädigen, noch nach der Beschlagnahme rasch Schwarzverkäufe getätigt haben. Ich habe auch etwas läuten hören, als ob Sie Hilfe geleistet hätten, als man nach der Beschlagnahme nachts größere Mengen Staatswaldholz in die Gemeindewälder brachte, weil nämlich das Holz in den Gemeindewaldungen von der Beschlagnahme nicht betroffen wurde.«

Christoph Aust mußte nach Luft ringen, er öffnete den Mund, seine Lippen zitterten, er wurde fahl im Gesicht und griff mit beiden Händen nach der Brust.

»Was wollen Sie denn damit sagen?«

»Ich meine, auch diese Handlungen wären eigentlich noch strafbar. Keine Bange, papperlapapp, ich bin nicht der Mann, der nun hingeht und Sie verpetzt, non non, ich weiß schon noch, was ich meinem Nächsten schuldig bin, ha ha, ich wollte Ihnen das nur sagen, damit Sie wissen – –«

»Ich weiß alles, Max Huß, ich weiß – – alles, auch daß Sie ein sonderbarer Ehrenmann sind. Ich will nicht glauben, daß Sie mich verraten haben, ich will auch nicht glauben, daß Sie meinen Vetter Richard verraten haben. Ich darf das nicht glauben, sonst müßte ich verzweifeln an mir selber, aber ich darf nicht verzweifeln, denn ich muß zu Ende tragen, was mir aufgebürdet ist. Ich bin ein Aust, wir kommen aus dem Walde, Max Huß. Wir leiden am Walde schon über ein Jahrhundert lang. Uns ist ein Zeichen eingebrannt, es hat sich bei uns hier tief drinnen etwas gebildet, gegen das wir nicht mehr 621 ankönnen. Ich habe im Gefängnis Zeit gehabt, darüber nachzudenken und es mir zu erklären. Nach einem Wort habe ich gesucht, das ausdrücken soll, was uns bewegt und was unser Schicksal ausmacht. Ich habe dieses Wort auch gefunden, es ist das Wäldergewissen. Nur ein Wort, Max Huß, aber ich warne Sie, es allzuleicht zu nehmen. Der Wald lebt sein Leben, er duldet den Frevel, aber er hat oft eigentümliche Überraschungen.«

Max Huß fuhr mit dem Arm durch die Luft und schüttelte unwillig den Kopf.

»Sie sind ein Phantast, aber damit können Sie nicht zwischen diesen verfluchten Mühlsteinen leben. Kalt bis ans Herz, sage ich Ihnen, sonst sind Sie verloren. Ich will retten, was zu retten ist, mehr kann ich nicht tun, es sind zuviele Hände beim Zupacken, ich fürchte, unsere Wälder sind verloren.«

»Sie haben mitgeholfen, Max Huß, man sagt Ihnen nach, daß Sie sich mit Haut und Haaren den Franzmännern verschrieben haben.«

»Das ist eine Lüge, es muß auch im Geschäftsleben Diplomaten geben. Der Franzose hat hier die Macht und er nutzt sie mit aller Brutalität aus.«

»Das Volk hungert und darbt, das Land ringt um seine Seele, Tausende sind vertrieben, weil sie treu waren; und Sie bereichern sich an einem Wäldertod, wie ihn die Geschichte noch nicht erlebt hat.«

»Das ist nicht wahr!« brüllte Max Huß, »aber ich stehe auf dem Standpunkt, wenn man ein Unheil nicht aufhalten kann, dann kann es auch kein Verbrechen sein, wenn man daraus Nutzen zieht, der dann der Allgemeinheit auch wieder zugute kommt. Sind Sie gekommen, um mein Gewissen wachzurütteln? Gehen Sie zum Teufel, oder –«

Er wandte sich von Aust ab und ging einige Schritte aufwärts, in das Gestöber des Schnees hinein.

»Gehen Sie!« rief er, immer noch abgewandt und zitternd vor Wut, »zum Teufel, habe ich gesagt, oder zu Ihrem Wäldergewissen!«

Er bekam keine Antwort. Nebelfetzen strichen über ihn, es kam Wind auf, Schneelast fiel von den Kiefern. Was für eine drückende Stille!

Als er sich umdrehte, sah er eine sonderbare Gestalt im Treiben des wachsenden Wetters stehen. Hokuspokus, das war doch nicht der Wäldernarr, der Christoph Aust?!

Er ging langsam auf den Fremden zu, war der Champagner schuld, daß er hier eine verdammte Marionette sah?

622 »Wer seid Ihr, Mann?«

»Das Wäldergewissen.«

»Macht mir hier keinen Theaterdonner, ich möchte auf schnellstem Weg nach Hause.«

Er schaute sich den Fremden an, der weiß verweht vor ihm stand und ihn aus stechenden Raubvogelaugen anschaute. Er trug hohe Flößerstiefel, graue Hosen und einen grünen Jägerrock. Unter einem dunklen Hut quollen fuchsig rote Haare hervor. Welche verschrobene Stunde hatte diesen Verrückten ausgespien?

»Ich kenne Euch nicht, Mann, woher kommt Ihr?«

»Aus den Wäldern.«

»Spielt Euch nicht auf, ich habe keine romantische Schwäche für Komödianten. Klar heraus mit der Sprache. Was geht Euch der Wald an? Was wollt Ihr hier?«

»Wachen.«

»Mein Wald braucht keinen Wächter.«

»Mehr, als alle andern. Dies ist nicht Euer Wald.«

»Was sonst?«

»Euer Holz vielleicht, niemals Euer Wald.«

»Verrückte Spitzfindigkeit. Wem gehört der Wald?«

»Dem nicht, der ihn schändet.«

»Schändet?!«

»Und dem nicht, der ihn töten will.«

»Töten?!«

»Der Tod geht durch den Wald, Max Huß.«

»Aber nicht durch meine Schuld. Was kümmert mich Euer Tod, geht Eures Weges, ich habe keine Zeit mehr für Euch.«

»Beeilt Euch, vielleicht daß einer auf Euch wartet.«

»Ich habe kein Stelldichein dort oben.«

»Das Wäldergewissen folgt in Eurer Fährte.«

»Ich bin kein Hasenherz, ich kenne auch Euer nervenkrankes Wäldergewissen nicht. Ich habe andere Pläne im Kopf, laßt mich mit Eurer Moral und mit Eurer Weisheit in Frieden. Wir leben in einer schweren Zeit, man hat genug, sich seiner Haut zu wehren.«

»Immer in schweren Zeiten geschieht Heldenhaftes und Erbärmliches. Ihr habt euch nicht unter die Helden verirrt.«

»Ich lache Euch aus, ha ha ha. Und sage Euch, der Kampf gegen die tausend Schliche und Spitzfindigkeiten des gewöhnlichen Tages, der 623 Kampf gegen Konkurrenz und Geschäftsneid, der Kampf gegen die Finessen und die Schläue der Zahlen, gegen das Auf und Nieder der Bilanzen, gegen das Risiko und gegen die Fallstricke der Konjunktur, der ist auch ein Heldentum.«

»Aber unter des Teufels Protektorat, Max Huß.«

»Geht Eurer Wege, aber verirrt Euch nicht, mir scheint, Ihr seid fremd hier, rothaariger Sonderling.«

Max Huß lachte und ging weiter. Als er sich noch einmal umschaute, war der komische Apostel verschwunden.

Er zog die Uhr, es war Zeit, daß er sich in Marsch setzte, er hatte über den Berg hinüber noch anderthalb Stunden zu marschieren, bis er nach Hause kam, würde es dunkel sein.

Es war gut, einmal Luft in die Lungen zu pumpen, er hatte, weiß Gott, zuviel getrunken, das Bergansteigen machte Schwierigkeiten, daran war nur der verfluchte Alkohol schuld.

Langsam stieg er weiter, immerfort sinnend und rechnend und alles überdenkend, was der Tag ihm Neues gebracht hatte. Holz, viel Holz. Alles ringsum war sein Wald, waren seine Bäume, sein Eigentum, er hatte es schriftlich mit Stempel und Unterschrift. Er blieb hochatmend stehen und schaute sich flüchtig um. Alles meine Bäume. Aber er sah nur noch einzelne Bäume, denn der Schnee fiel immer dichter, der Wind rauschte in den Fichten und Kiefern, manchmal fiel es dumpf polternd aus den Ästen. Max Huß kannte seinen Wald, jeder Weg und Steg war ihm vertraut. Welch eine Freude, er stapfte durch sein Eigentum, unter dem Schutz der Wälderriesen schritt er dahin, ein kleiner König, ein Herr über viele Tausend Stämme. Der Tumult des Wetters wuchs, schon pfiff und jaulte es ihm entgegen. Ohne es recht gewahr zu werden, kam er in die Angriffszone der bewegten Luftmassen hinein. Er lachte lautlos, es ging sich gut unter dem Obdach der Bäume. Der Wald war Weg und Wegweiser zugleich. Wäldergewissen?! Hatte er, wenn die Frage erlaubt wäre, kein Herz für den Wald? Empfand er nicht, wie andere, die Größe und Erhabenheit der Natur? Hätte er denn nötig, durch Sturm und Wettertreiben sich zu quälen, zu verschneien und zu verwehen, wenn er nicht wie ein guter Freund bei seinen Wäldern sein wollte?!

Hört nur, wie es immer mächtiger dröhnte und orgelte.

»Du verfluchter Narr, ich weiß, was Bäume sind. Hier stehen Bäume, überall wohin ich schaue, ich bin mitten unter ihnen!«

Sein Atem flog, das Wehen stand ihm hart entgegen. Er hob den 624 Kopf und suchte nach den Bäumen, wo waren sie denn mit einemmal geblieben? Rein wie verhext waren die Bäume.

Schnee trieb eiskalt gegen sein Gesicht, er rieb ihn aus den Augen, er schaute sich um, wo seine vielen Bäume wären, aber er fand sie nicht. Hatte sie der Nebel verschluckt, standen sie verborgen hinter dem jagenden Gespinst der Flocken? Er hob die hohlen Hände vor die Augen und drehte sich suchend im Kreise, in die drohende Höhle des Wetters stieß sein kalter, grauer Blick. Und dieser Blick fand keinen Ruhepunkt.

Es waren keine Bäume mehr da! Ein tolles Zauberspiel.

Der Holzhändler Max Huß erschrak. Als er keine Bäume mehr sah, kam ihm blitzhaft und lähmend eine Erkenntnis. Nicht hinter Schneewänden und Wettermauern waren die Bäume verborgen, nein, hier standen überhaupt keine Bäume mehr! Er war in seinen eigenen Kahlhieb auf dem Rehberg geraten. Vor lauter Denken und Rechnen und Randalieren hatte er vergessen, daß dieser Weg aus dem Kiefernhochwald auf die kahlgeschlagene Kuppe und jenseits wieder hinunterführte.

Jetzt stand er in der sausenden Öde, vom letzten Baum und vom letzten Schutz des Waldes verlassen. Mitten auf seinem geschändeten Boden stand er, nichts um sich, als verschneite Stöcke und die Holztrümmer der geasteten Stämme.

»Wo sind denn die Bäume?« rief er laut; seine Stimme ertrank, er war wie in einem flutenden Meer. Es gab keine Richtungen, es gab fast kein Oben und Unten mehr, denn der Strom aus Südwest wuchs zum Sturm und trieb die Schneefracht der Wolken vor sich her. Es tobte gegen ihn an, er fühlte, wie ihm das Atmen schwerer wurde, wie die Haut schmerzte und die verkniffenen Augen brannten. Mit dem Schneesturm kam die Furcht, sie blies ihn fröstelnd an.

›Ich gehe in meiner Spur zurück‹, dachte er beklommen, ›ich muß doch den Weg finden, bin ich nicht hier zu Hause, in meinem Wald, in meinem Eigentum?‹ Wer wollte es ihm streitig machen, er trug es mit Unterschrift und Stempel hier in der Tasche. Man würde sich doch in seinem Eigentum noch zurechtfinden. Er ging in seiner Spur abwärts, bald war die Spur verweht. Als er nach dem Weg suchte, stieß er gegen Kiefernstöcke. Hinunter, immer hinunter – – was denn, jetzt ging es plötzlich aufwärts, hier mußte man doch ins Tal hinabkommen! Nein, es ging bergan, es wurde immer steiler und steiler, wie eine schaumige Brandung stand ihm der gefallene Schnee entgegen.

625 »Ich hätte auf dem alten Weg bleiben sollen, ist denn kein einziger Baum mehr da, nach dem ich mich richten kann?!«

Schon wurde er kopflos und verlor die kalte Überlegung. Er tobte gegen das Wetter, in dem er plötzlich seinen gefährlichen Feind sah.

›Bäume‹, ging es rasend durch seinen Kopf, alles hing davon ab, daß er Bäume fand. Bäume waren Obdach, Richtung, Zuflucht.

»Bäume, Herrgott und Wolkenblitz, Bäume!! Der Berg ist kahl, habe ich nicht angeordnet, daß Überhälter stehenbleiben!«

Er drehte sich im Kreise, suchend und irrend, die triefenden Augen fahndeten nach einem Anhaltspunkt, aber er trieb im Wetter, das jetzt einen Schauer von Eisnadeln über ihn warf, und mit gespenstischem Sausen über die kahle Kuppe dahinstob.

›Ich muß über den Berg‹, dachte Max Huß; ›hier ist Südwesten, von dort kommt der verwünschte Hexensabbath. Über die Kuppe muß ich, auf der andern Seite komme ich in den Buchenhochwald. Im Buchenhochwald bin ich gerettet, keine Überlegung mehr, es können nur zehn Minuten über die Kuppe sein.‹

Er stapfte los, der Schnee wurde tiefer, er quälte sich durch Verwehungen hindurch. Es war manchmal, als ob eine Wand sich ihm entgegenstellte.

Kein Weg mehr, kein Raum, nur noch jagende Fläche, nur noch ein graues Band, das vorüberraste. Er stieß mit gesenktem Kopf in das Band hinein, bis zu den Knien watete er im Schnee. Der Schweiß feuchtete seinen Körper, mit verbissener Wut kämpfte er gegen den Schurkenstreich des Wetters. Es kroch ihm in die Glieder, das Herz schien besessen, der Atem krächzte aus ihm hervor, er fühlte ein jämmerliches Klopfen in den Schläfen.

»Einen Baum!« rief er heiser röchelnd, »wenn ich nur erst mal wieder einen Baum sehe!!«

Er sah keinen Baum, denn es stand keiner mehr auf diesem Tummelplatz des Grauens.

Meter um Meter rannte er gegen das Nichts, das nun immer grauer und dunkler wurde und sich mit verzerrten Schatten herumbalgte.

Wie, sollte das gefährlich werden, griff aus diesem Narrenspiel eine schwarze Hand?! Er riß angstvoll die Augen auf, einen Augenblick nur, denn das Eisgestöber war unerträglich. Er sah in dieser kurzen Zeit, wie eine brandrote Mauer auf ihn zukam. Es war aber 626 keine Mauer, es war das Blut, das in getriebenem Umlauf durch seine Augen gepumpt wurde.

»Einen Baum!!« brüllte er, »einen einzigen Baum, an dem ich mich halten kann!«

War er denn endlich oben auf der Kuppe, er wußte es nicht?! Er blieb stehen, halb schon in die Knie gesunken. Das Gesicht, vom Myriadenheer der stiebenden Eisnadeln blutig zerschunden, war zu einer Grimasse verzerrt. Er schmeckte das salzige Wasser, das aus den gequälten Augen brach.

Nach Luft ringend, öffnete er den Mund und lauerte in das Wetter hinein. Mühsam schluckend, mit sonderbarer Beklemmung in der ausgetrockneten Kehle, suchte er nach dem Sinn der Stimmen, die ihn tobend überfielen.

Er wollte weiter, aber er blieb im Schnee stecken, es zog fast wie ein Sumpf.

»Einen Baum!« stammelte er und hatte schon keine Stimme mehr, »einen – – Baum – und wenn es – nur ein elender Windkrüppel ist!«

Er hörte Raben schreien im Raumlosen. Einen Arm über die Stirn gelegt, schaute er nach oben, seine Füße verloren den Halt, er fiel nach rückwärts. Er tauchte ins Bodenlose.

Über sich sah er schwarzen Schwingenschlag, ein Schattengewirr von Elendsvögeln.

»Einen Baum!!« röchelte er bettelnd.

Endlich ein Baum, er wuchs aus der grauen Schlucht, er wurde immer größer und größer, er blähte sich zu einem Riesen, der sich lautlos heraushob aus dieser umrißlosen Qual, aus diesem schnöden Paradies des Teufels.

Ein Baum, endlich ein Baum!!

Vater unser, der du bist im Himmel – –

Er reckte die Arme und griff mit beiden Händen nach dem letzten, milden Phantom. Er sank ihm schluchzend entgegen.

Ein Baum.

Der Tod – – ein Baum. – –

– – Am andern Morgen fand der Forstmeister Christoph Aust den Holzhändler mitten im Ödland des kahlgeschlagenen Berges. Er lag auf der Seite, die Beine an den Leib gezogen und den Kopf in die Arme gebettet; friedlich lag er da, als ob er schliefe in diesem weißen Wunder, das über die Berge gekommen war. Der Schnee hatte ihn 627 halb zugeweht, es lag wie Wellenschlag über ihm, denn gegen Morgen war der scharfe Wind über den Neuschnee gekommen, jetzt glich er einer erstarrten Brandung, schimmernd von Kristallen und glasig überzogen.

Christoph Aust ging zur Holzfällerhütte in das Gesenke, holte einen Ziehschlitten und lud den Toten auf. Es war mühsam, denn er war an die Erde gefroren, als hielte sie ihn umklammert mit unsichtbaren Händen. Er band ihn mit Stricken fest, dann spannte er sich vor den Schlitten und zog die trübselige Last über die einsame Höhe. Es war still geworden und der blaue Frosthimmel spannte sich über die Berge. Wunderlich war der Anblick, als der Wälder-Aust, grau geworden am Schicksal seiner Herkunft, den toten Sägemüller durch die weiße Wildnis zog, die vom Zauber des Höhenlichtes ganz erfüllt war.

Nochmals hielt er inne, legte den Arm über die Stirn und schaute sich um auf der Trümmerstätte, wo vordem Baum an Baum gestanden hatte, die ältesten Eichenriesen mit kleinen Jahresringen, zartes Holz auf magerem Boden, langsam in den Jahrhunderten herangewachsen, die letzten Flüchtlinge und Geretteten aus den vergangenen Raubkriegen.

Und jetzt, soweit das Auge reichte, nur Wurzelgerippe und überschneite Stöcke, totes Astwerk und nackter Fels.

Jenseits der Kuppe standen die Buchenkronen vor dem blauen Firmament, das sinnvolle Gespinst der Äste und Zweige stand graublau im Licht.

Aust stemmte sich in die Stricke und zog weiter. Eingespannt wie ein Pferd, mit schwerem Atem und den Schweiß der Anstrengung auf der Stirn, bezwang er mühsam das Hindernis der Schneeverwehungen.

Als er oben war, blieb er stehen und wandte sich um zu dem Toten.

Er nahm den Hut vom Kopf und beugte das Haupt. Ihm war schwer zumut, denn es quälte ihn, daß er den Sägemüller gestern nicht vor dem Wetter gewarnt hatte. Nun war er in seine eigene Falle hineingeraten.

Er betete, und während die Trauer in sein Gebet rann, griff der Bergodem nach seinen Haaren, daß sie silbern wehten. –

Er brachte ihn auf dem Schlitten nach Hause zu Frau und Kindern, es war eine schwere Arbeit. Im Dorf schlossen sich Leute an, ein Zug von Neugierigen folgte dem müden Gespann bis vor das große Sägewerk, wo geschäftig schnarrend die Gatter liefen.

628 Max Huß bekam eine große Beerdigung, es gingen auch Franzosen mit und Separatisten, es kam aber zu keiner aufregenden Szene, und das war gut so. Der Mann, der schlechte Freunde und gute Feinde gehabt hatte, war tot, sinnlos wäre es, noch über ihn zu Gericht zu sitzen. Vielleicht hatte er auch manchmal in seinem Leben das Gute gewollt, vielleicht war er einmal ein ganz anderer Mensch gewesen, vor Jahren, vor vielen Jahren, als ihn das Geld noch nicht verdorben hatte; man sollte sich doch Mühe geben, etwas Gutes an ihm zu finden, eine Regung seines Herzens, eine Qual seiner Seele oder sonst eine Guttat seines Wesens, die uns wenigstens den Toten wieder hätte näherbringen können. Aber es lag wohl in seinem Blut, daß er immer nur das Holz gesehen hatte und so selten die Bäume, vielleicht waren seine Ahnen und Urahnen schon so gewesen, das kreiste im Unsichtbaren, das haftete fest und sprang teuflisch über auf die Nachkommen, so daß es schon fast keine Schuld mehr war, sondern ein Stück von der Tragik des Lebens.

Genug, Max Huß war tot, es reichte keine irdische Hand mehr in seine schwarzen Bezirke.

Es waren welche unter dem abergläubischen Volk, die sagten, der Wald hätte den Holzhuß geholt.

 


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