Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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5

Der Förster fuhr währenddem mit dem Franzosen durch den nächtlichen Wald. Sie sprachen zuerst wenig, beide fühlten, daß eine Spannung zwischen ihnen bestand, sie waren einander nicht freundlich gesinnt, der Franzose wußte genau, daß der Mann an seiner Seite Argwohn hegte, daß er ihn kalt belauerte als seinen natürlichen Feind. Der Himmel mochte wissen, welchen schwarzen Vorsatz er ausbrütete.

Aber Andreas Aust trug sich nicht mit schwarzen Vorsätzen, er hörte die Bäume rauschen, er war eingefangen vom Wunder des Menschenherzens und vom Rätsel des Schicksals.

Zwischen ihnen saß die Hündin Flora, sie äugte wachsam in die Nacht und windete mit feuchter Nase in die harzgeschwängerte Luft. Eulenruf kam aus der Schlucht der Wälder.

Sie fuhren die Senke hinunter in das enge Tal, dort ließ der Förster anhalten und stieg vom Wagen.

»Sie müssen diesem Weg folgen, dann kommen Sie ins Elmsteiner Tal, von dort können Sie nicht mehr in die Irre fahren. Lassen Sie dem Pferd die Zügel.«

Da sprang auch der Franzose vom Wagen und trat auf den Förster zu. In der Finsternis standen sie einander gegenüber, sie sahen gegenseitig den feindseligen Glanz in ihren Augen. Sie wußten, daß es noch einer kleinen Aussprache bedurfte.

»Sie sind nix gutte Freund zu mir«, sprach Laroche und stieß erregt Luft durch die Nase. Es klang wie eine Herausforderung.

»Es wäre mir recht, wenn ich Sie in diesen Wäldern nicht mehr sähe.«

»Et pourquoi?«

»Weil Sie ein Fremdling sind bei uns und dazu noch ein Franzose. Alle, die von Westen kommen, haben unsern Wäldern immer nur Verderben gebracht, im großen und im kleinen, verstehen Sie mich recht, im – großen und im – kleinen!«

»Ick verstehen slekt, was Sie saggen.«

»Ich kann auch deutlicher werden. Der Franzose hat uns noch nie etwas gegeben, er hat immer nur genommen. Und er kommt schon beinahe tausend Jahre lang und will immer wieder nehmen und zerstören. Er kommt immer wieder in anderer Gestalt, seine komödiantische Wandlungsfähigkeit ist bewundernswert. Er wechselt die Masken, seine Absicht bleibt immer die gleiche. Aber lieber noch ist er mir 225 als offener Feind, denn als verkappter Freund. Als Freund ist er ein gefährlicher Possenreißer. Ich will Sie nicht beleidigen, was ich sage, trifft die Gesamtheit, die uralte Idee. Ihr seid noch nie ohne zweideutige Absicht gekommen.«

»Welche Absicht?«

»Unter allerlei verdächtigen Masken zu rauben.«

»Monsieur, Sie wagen viel.«

»Immer noch zu wenig. Wenn ich Sie so stehen sehe, dann erscheinen Sie mir fast wie der böse Geist aller Bäume, die hier wachsen. Es sind jetzt fünfunddreißig Jahre her, da haben die Franzosen auf dem Rückzug ringsum den Wald niedergebrannt, nicht zum erstenmal; bewahre, ihre Vorgänger auf ihren Raubzügen haben ihnen gezeigt, wie man es zu machen hat. Sie waren keine schlechten Lehrmeister. Vor fünfunddreißig Jahren war ich ein Knabe, wenn ich alt würde wie eure Völkersünde, ich könnte den Brand nicht vergessen, der den Wald vernichtete und auch mich gezeichnet hat.«

»Was aben ick für eine Schuld daran?«

»Vielleicht kann Ihre Schuld noch verhindert werden. Eine Freundschaft mit meinem Schwager Huß ist gefährlich.«

»Gefährlik, saggen Sie?«

»Man muß wachsam sein vor einem so verdächtigen Zweigespann, verzeihen Sie das offene Wort. Was wollen Sie hier bei uns, warum bleiben Sie nicht in Frankreich?«

»Recommandé, monsieur, man 'at mir gerufen.«

»Die Hölle über den, der Sie gerufen hat!«

Andreas Aust ging einige Schritte auf und ab, die Hündin gab Laut, das Pferd war unruhig. Er klopfte ihm den Hals, er roch die Ausdünstung des Tierkörpers, gequält suchte er nach Ablenkung und Mäßigung.

Der Franzose stand unbeweglich, er pfiff vor sich hin, es war ein nervöses Pfeifen. Dann war es still wie vor einem Kampf, eine Lähmung lag über den Gedanken.

Andreas Aust trat wieder vor ihn hin.

»Was ich Ihnen sagen wollte: vor fünfunddreißig Jahren lief auch ein Franzose in den Wäldern hier herum, er wohnte droben unter meinem Dach. Nur nebenbei gesagt.«

»Eh bien und was weiter?«

Und mit gehobener Stimme, feindselig ausbrechend.

»Er gab sich für meinen Vater aus. Nur ganz nebenbei gesagt!«

226 »Das sein toll, ma foi, votre père?!«

»Ja, und er hieß auch Laroche! Vielleicht denken Sie einmal näher darüber nach. Sie sind der zweite Laroche hier. Der erste hat Unheil gebracht, von dem zweiten erwarte ich nichts Gutes!«

Sie schauten sich nahe ins Gesicht, der Franzose zuckte zurück, als er den Namen hörte, er entsann sich, ihn in dem handgeschriebenen Buch gelesen zu haben.

»Laroche saggen Sie?«

»Ja, es gibt sonderbare Zusammenhänge. Sie werden jetzt vielleicht begreifen, warum Sie mir verdächtig sind?«

»Je ne suis rien qu'un experte, monsieur. Sie aben auch geholt Sachverständige aus England pour les chemins de fer.«

»Englische Sachverständige sind mir schon lieber, weil sie keine Hintergedanken haben.«

»Monsieur, Sie beleidigen mich.«

»Ich will Sie nicht beleidigen, ich will nur die Wahrheit sagen. Und ich will Sie warnen: lassen Sie die Hände von den Bäumen! Hören Sie genau, was ich Ihnen sage, lassen Sie die Hände von den Bäumen!! Der Wald, mein Herr, läßt nicht mit sich spaßen, jeder Baum hier wird sich seiner Haut wehren.«

Laroche lachte, der Förster sah die weißen Zähne. Hier war die Haingeraide, er hätte ihn als den ewigen Feind erschlagen sollen.

»Ik werde nix tun, als was ist mein Amt, aber daran soll mir niemand indern, compris monsieur?«

Der Förster biß die Zähne zusammen, sein Blut fing zu kochen an.

»Ich werde den Wald verteidigen gegen alle Angriffe. Ich stehe und falle mit meinen Bäumen, vergessen Sie das nicht! Und noch eins: die Hände von der Frau!«

»Das sein nix Ihre Frau.«

»Ich habe über sie zu wachen von dieser Stunde ab.«

»Da müssen ik schon widder lachen, ören Sie, wie ik lache?«

»Sie haben kein Recht auf sie!«

Plötzlich brauste der Franzose auf, der Grimm packte ihn, weil man die Frau im Forsthaus zurückgehalten hatte.

»Diable qu'est ce que vous voulez?«

»Sie sollen die Frau des andern aus dem Spiel lassen!«

Andreas Aust rückte ihm nahe auf den Leib, sein Atem stieß dem Fremden ins Gesicht, die Gefolgschaft der Bäume gab ihm Kraft.

»Hüten Sie sich, Mann, hier wohne ich, hier habe ich meine Eltern 227 verloren, hier besitze ich große Hausrechte, zwingen Sie mich nicht, daß ich sie verteidigen muß.«

»Ihr Recht, gutt, très bien, mais la femme?«

»Ich habe meine guten Gründe.«

»Und ik werden tun, wie es mir gefällt.«

»Das werden Sie nicht!«

»Kein Narr sollen mir das verwehren!«

»Bin ich gemeint?«

Der Förster drang auf ihn ein und packte ihn bei den Schultern, er preßte ihn gegen einen Baum, es geschah alles lautlos. Nur die Hündin Flora grollte.

Andreas Aust sah, wie der Franzose in die Tasche griff und ein Messer zog, er fuhr ihm blitzschnell ans Handgelenk, entwand ihm das Messer und warf es zur Seite in die Büsche.

»Sie lassen die Frau in Frieden!«

Er würgte ihn gegen den Baum, sein Zorn war maßlos, als er aber hörte, wie der andere nach Luft rang, ließ er ihn los. Plötzlich kam ihm das Unüberlegte seines Handelns zum Bewußtsein, er trat hoch atmend zurück, ein Gefühl faßte ihn, als ob er halb im Traum gehandelt hätte, von einem inneren schlafenden Drang getrieben; denn er war weder streitsüchtig, noch rachsüchtig. Was er getan hatte, war hinter seinem Willen geschehen, er konnte es schon selbst nicht mehr begreifen. Er war dem schwarzen Widersacher zuleibe gegangen.

»Fahren Sie nach Hause«, sprach er heiser, »Gott soll mir verzeihen, wenn ich Ihnen unrecht getan habe. Gehen Sie so schnell wie möglich, der Boden, auf dem Sie stehen, ist ein Vulkan.«

Der Franzose griff sich an den Hals, er taumelte einen Schritt nach vorn, die dunklen Augen tränten, er wollte etwas sagen, aber es verlor sich zwischen seinen rachsüchtigen Gedanken.

Er ging langsam zum Wagen, er kniff voll Arglist die Augen zusammen, er brütete Schlimmes hinter der welschen Stirn. Langsam stieg er in den Sitz und griff nach den Zügeln.

»Gehen Sie fort«, stieß Andreas Aust noch einmal hervor, »und kommen Sie nicht mehr in unsere Wälder! Es ist kein Platz für Sie in der Haingeraide.«

»Ik kommen widder, diable et nom du dieu!«

Er trieb das Pferd an und fuhr den Holzweg hinunter. Noch lange hörte der Förster die Räder rollen und die Pferdehufe klappern.

228 »Ich habe eine schlechte Ahnung«, sprach Aust zu sich selbst und stieg mit der Hündin aufwärts.

Er konnte jetzt nicht nach Hause gehen, es zwang ihn, mitten im Wald zu bleiben, als strömte ihm Ruhe zu aus der Nachbarschaft der schlafenden Stämme.

Einen Wildpfad nahm er und ging zur Jagdhütte, die auf der Höhe in einem jungen Tannenhorst stand.

Er legte sich auf die Pritsche, warf eine Wolldecke über sich und versuchte, einzuschlafen. Der Schlaf wollte aber nicht kommen, es gab zu vieles zu überdenken, er lag auf dem Rücken und starrte mit offenen Augen in die Finsternis. Das kleine Fenster stand grau im Raum.

Dann wurde das Fenster rot, es war, als ob Feuerschein aufstiege aus den Schluchten. Die wabernde Helle wuchs, er hörte es knistern und prasseln. Staunend schaute er sich um und sah den brennenden Wald, Hunderte von Bäumen waren zu flammenden Fackeln geworden, inmitten des Brandes aber war ein riesiges Kreuz errichtet, das ragte in den fahlen Himmel, und am Kreuze hing ein Mensch.

Er fuhr hoch, wild schlug sein Herz, er hatte nur geträumt, als er aber nach dem grauen Fenster schaute, glaubte er dort eine Gestalt zu sehen. Die Hündin Flora grollte. Als er sich erhob und im kleinen Raum stand, ging die Gestalt fort, sie zerrann, er hörte Schritte, die sich über knackende Äste entfernten.

Andreas Aust verließ die Hütte, immer noch brütete die Nacht, er sah aber an den Sternen, daß es um die vierte Morgenstunde war.

Das Schweigen war nun groß geworden, es war um die geheimnisvolle Wende zwischen Schatten und Licht.

Den Förster rief es, er trat in die Nacht und ging zwischen den Stämmen hindurch, die ihn mit einem Male wie uralte Tempelsäulen anmuteten, groß und wie schwere Entschlüsse Gottes in den Himmel geschoben, der mit dunklem Glanz durch die Wipfel brach.

Wenn er nach links schaute, sah er den fahlen Schimmer, der über dem Schlaf einer kleinen Bergwiese lag, aus dieser Fahlheit stieg es auf in feinem Silberwehen, als ob der letzte Rauch erlöschender Feuer müde dahingeweht würde, um am Wäldersaum sich angstvoll zu verlieren. Aus der Geborgenheit des Waldinnern betrachtet, schien die Wiese fast hell erleuchtet, als ob sie bestrahlt würde von einem gütigen Licht, das irgendwo aus einer Falte des Himmels kam und sich nächtlich verschenkte.

Der Förster sah jetzt, daß auf dem belichteten Wiesenplan zwei Rehe 229 friedvoll ästen, nur ab und zu die Köpfe hebend und voll banger Neugier umherspähend. Seltsam weit entfernt, ganz ins Unerreichbare gerückt, schienen ihm die Tiere, er sah sie wie durch Glas hindurch, etwas bläulich Schwimmendes lag zwischen ihm und dem Kahlwild, es war, als lebten sie in einer ganz andern Welt.

Die Hündin Flora windete, ihre scharfen Sinne hatten das Wild gestellt, aber sie bewegte sich nicht, und als der Förster nun weiterging, da trottete sie an seiner Seite, nichts begehrend, als Gefährte zu sein dem wunderlichen Menschen, den es in den Schlaf der Berge und Bäume trieb. Es standen sechzigjährige Kiefern hier, jüngere Lärchen und zwischen ihnen einige alte Eichen, über hundertjährig, Traubeneichen mit krauser Blätterkrone und flechtenbewachsener Rinde. Mit all diesen war das Schicksal gnädig gewesen, der große Brand hatte sie verschont; drüben aber über der Brandschneise war der neue Wald, jüngerer Kiefernforst mit eingesprengten Hainbuchen, dreißigjährig, schon stattlich im Wuchs und durchforstet, den Berg hinaufstrebend bis zur Höhe, wo die Felsen aus der Erde wuchsen, Höhlen und Schluchten bildend und von Nässe und heimlichen Rinnsalen unterwühlt.

Andreas Aust stieg bis hinauf zur Höhe, wo das Felsgetrümmer sich häufte, umwuchert vom Schirmfarn, von trockener Heide und Heidelbeergesträuch, von duftendem Thymian und strähnigem Wäldergras.

Auf höchstem Punkt stand er, unter sich den Fels und über sich den Himmel, während die Kiefern, einen wilden Altan freilassend, sich um ihn scharten, vertraute Gefährten und Weggenossen seiner Wanderschaft, ihre Wipfel schaukelnd wie nachdenkliche Häupter, die des Staunens kein Ende finden.

Welche Fülle harzigen Duftes strömte von ihnen aus, wie hatten sie alle Poren geöffnet, um sich dankbar zu vergeuden und um das Wunder der Nacht zu erhöhen, die ihre Sternensaat über den Himmel gestreut hatte.

Als Andreas Aust sich setzte und gegen die Felsen lehnte, war ihm, er ruhte in einer Falte mütterlichen Gewandes, ganz ein Kind, das sich geflüchtet hat unter das Obdach seiner Herkunft.

Er legte die Hand auf den Kopf des Hundes, der an seiner Seite lag, er fuhr streichelnd über das krause Haargewirr und hatte das Gefühl, daß es feierlich wäre in der Runde und daß die Heimat nun müßte anheben zu klingen und zu tönen, weil Gott so nahe war. –

Er erinnerte sich, daß ihm einmal jemand erzählt hatte, es gäbe 230 Menschen, die nach dem Tode zu Bäumen würden. Die Bäume wüchsen aus ihren Gräbern heraus und es hafte ihnen Menschliches an, ja, sie nähmen gar menschliche Gestalt an und erschienen in besonderen Schicksalsstunden als Sendboten und Jünger der lebendigen Erde.

War es nicht sein Großvater gewesen – Flora bleibe still, es rief nur ein Vogel im Schlaf – der ihm erzählt hatte von jenem wunderlichen Wanderer und Waldläufer, den sie den letzten Sickingen nannten, dem der Korse die Waldungen genommen hatte und der ein wenig quersinnig geworden war, voll Leichtsinn und Treue, bettelarm und stolz, ein ritterlicher Habenichts? Dieser Letzte aus dem Geschlecht der großen Ritter, der seinen reichen Waldbesitz niemals verloren gegeben hatte, war in Armut gestorben, ungeheuer einsam und von allen vergessen.

Er war ein Wildling und Sonderling gewesen, Geld und Vorteil und menschliche Eitelkeit verachtend, angetan mit hohen Flößerstiefeln, einem grünen Rock, grauen Hosen und einem dunklen Hut. Mit seinen brandfuchsigen Haaren, den stechenden Augen und der mageren Geiernase ging er auch nach seinem Tode noch durch die Wälder, ein letztes Überbleibsel deutschen Einheitsgedankens.

Und aus diesem einsamen Bruder der tiefen Stille, so hatte der Großvater erzählt, sei ein Baum gewachsen, denn der Tote habe Same und reife Frucht getragen in seinem Herzen, und aus diesem Herzen, das ein Leben lang für Deutschland geschlagen habe, aus diesem Herzen, wohnend in verkommener Hülle, sei ein Baum in das Licht des Tages hinaufgewachsen, eine Waldbuche, die nun irgendwo stünde, jung noch und hungrig nach Himmel und Höhe, aber schon ein Baum, der eine Krone schaukle im Raum der Winde und Wetter.

Und aus diesem Baum wüchse nach Jahrzehnten wieder ein Baum, und immer wieder ein Baum, Jahrtausende und Geschlechter überbrückend, und so sei ein Mensch unsterblich geworden.

Auch sei es durchaus möglich, daß der alte Waldgänger von Zeit zu Zeit heraustrete aus seiner Pflanzenhülle und durch die Wälder streife, fern allem Irdischen und dennoch in irdischer Gestalt.

Traum, Gespinst und Legende, Wunderglaube und Märchentrost, wer wollte noch unterscheiden zwischen dem, was zu greifen war mit diesen Händen und dem, was zerrann zwischen den gleichen Händen?

War nicht noch ein Schatten von Erinnerung vorhanden an den Grafen, schwammen nicht Bilder und Vorstellungen zusammen und 231 formten aus Nebelbrauen und Schattenspiel den Menschen, der einmal im Forsthaus der Haingeraide gewesen war, zusammen mit einem russischen Offizier und einer Frau in Kosakenuniform?

Ja, er erinnerte sich daran, fünfunddreißig Jahre waren darüber hingegangen, man hatte – Flora, laß das Knurren, es hat sich nur ein Stein gelöst, hörst du, er poltert in die Tiefe, wir hören ihn immer noch, nun ist er zur Ruhe gekommen – man hatte den Russenoffizier erschossen, angeblich wegen Widersetzlichkeit vor dem Feind, er lag draußen in der Ebene, und aus ihm soll eine Pappel gewachsen sein.

Die Nacht schien heller geworden, während die Sterne schon verblaßten und ein fahlgrauer Schimmer sich in das tiefe Blau schob.

Drunten in den Tälern waren noch alle Schatten zusammengeballt, dort war der Schlaf am tiefsten, es schien nun, als wollten einzelne Bäume, Birken und Buchen, heller belaubt, diesen Dämmerbezirken entfliehen, sie versammelten ein Leuchten um ihre Kronen und dieses Leuchten stieg bis zur Höhe herauf, vereint mit milchig nebliger Feuchte, die in dunstigen Säulen sich in das Blickfeld kräuselte. Jenseits der Schlucht aber stapelten sich wieder die dunklen Bergwälder, runde Kuppen, hintereinander gelagert, die ersten noch scharf und klar in den schwarzen Umrissen, die letzten sich schon ganz mit dem Dunst der Ferne vermählend und der Bruderschaft des Himmels gesellt. Das waren die Berge beim Johanniskreuz, der Blattberg, der Eschkopf und der Gräfensteiner Wald, was sollten aber Namen in dieser Stunde!

Martha, die Schwester seiner Frau, war von der gleichen Mutter geboren und doch ein Mensch jenseits einer Schlucht, über die kein Steg führte. Wer löste je das Geheimnis des Blutes, wer dränge ein in das Kreisen, in das Wallen und Kochen des Lebens!

Wenn aber einer nur glaubte an den Sinn und an das Gesetz und daran, daß ein Mensch, einmal geboren, unwiderruflich dem tiefen Gesetz folgen müsse, der sei wohl schon ein Ende weitergekommen im Verstehen und im Verzeihen.

Andreas Aust nahm den Hut vom Kopf und strich sich durch die Haare. Er stützte beide Arme auf den Fels und fühlte, daß die Kräuter und Gräser kühl waren vom nächtlichen Tau und daß der Farn sich beugte unter der Last seiner glitzernden Feuchte.

Die große Stille war nun ganz offenbar geworden, sie stieg aus den Wäldern auf und tropfte von den Sternen herab. Die Stille wurde unermeßlich, und in dieser Lautlosigkeit, in dieser gewaltigen 232 Atempause schwebte Gott, sorgenvoll sinnend, als der Einsamste im Weltgebäude, ausgeliefert seiner Größe und Unvergänglichkeit.

In dieser Stille schwebte Gott und trug die Last der Ewigkeit auf seinen Schultern.

Nur wer es begriff, hörte, daß diese Stille brauste und dröhnte, daß der Hymnus der Welten aus ihr hervorbrach und den Raum erfüllte mit Glockenklang und Orgelgetön. Nur wer es begriff, hörte das Jubilate der Stille, das in schäumenden Stimmenkatarakten aus dem Firmament niederstürzte, unter sich die Schar der ergriffenen Lauscher, die Berge und Täler und Wasser, die Bäume und Sträucher und das Getier, ahnungsvoll glücklich dem Wunder preisgegeben.

Flora, was tust du, bleibe liegen. Auch mir war, ich hörte Schritte. Ist jemand hier gewesen, wandert ein Unbekannter durch den nächtlichen Wald?

Andreas Aust erhob sich und fuhr mit der Hand über die Augen. Er schaute in die Dämmerung der Kiefern hinein, denn ihm war, er sähe jemand zwischen den Stämmen verschwinden. Ein Mensch, den die Kargheit des Lichtes nicht preisgab, wanderte zwischen Nacht und Tag, er trug hohe Flößerstiefel, sein rotes Haar war wie ein verlöschendes Feuer.

Er zerrann mit den Schatten, ein Hauch seines Wesens aber war zurückgeblieben, noch schwang und zitterte die Luft von seinem Vorbeistreifen. Klangen nicht Schritte im Gehölz, brach nicht das dürre Holz, rollte kein Stein in die Tiefe? Die Hündin Flora hob unruhig den Kopf, ihre Nasenflügel bebten, sie stieß ein klagendes Winseln aus.

Flora, wir sind auf der Reise, halte still, wir sind auf der großen Fahrt, wir stürzen in die Schlucht des Raumes, wir wirbeln durch die Welt, aber wir dürfen ohne Bangnis sein, denn Gott kreist nicht mit uns, Gott verharrt still, außerhalb seiner Welt, mit gebreiteten Armen lenkt er das Spiel nach seinem einfachsten Gesetz.

Die Nacht zerbrach in streifigen Schimmer, ein Abglanz des aufgehellten Himmels stieg in die Wälderschlucht hinab und weckte die Umrisse auf. Der Nebelrauch wurde lichter und schien von innen durchleuchtet, er wurde auch lebendiger und aufgeweckter, als müßte er sich beeilen, in die lichtnähere Höhe zu kommen. Vergebliches Bemühen, denn auf halber Höhe, der Tiefe schon entronnen, wurde er mehr und mehr kraftlos, wand sich gequält und sank wieder zurück in die Gruft zwischen den Bäumen in der Senke, gestaut vom Arm des guten Wetters, das keine steigenden Dünste duldete.

233 Nun strömte in flinker Verwandlung eine graue Flut über den Westhimmel, sie war aber nur ein Widerspiel von Osten, denn dort, hinter den Föhren, die schwarz gegen das silbergraue Dämmerspiel standen, schlug der Morgen die Augen auf.

Noch kam kein Licht, es war nur Schein, silberner Glanz, der nun anfing zu sprühen und sich mühte, Gold zu werden. Dann, überraschend und mit dem Gepränge der Sonne beladen, wurde die erste feurige Lichtgarbe in den Himmel geschleudert.

Und aus der Tiefe, aus Brodem und Schleierspiel und aus dem schwindenden Traum der Buchen und Eichen stieg langsam, eine wachsende Fontäne, das Zauberlied des Tages.

Die Sängerin einsamsten Ödlandes, die Heidelerche, schwang sich auf zitternden Flügeln in die Andacht der Welt und erfüllte alles ringsum mit ihrem jubelnden Gesang.

 


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