Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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Hol über!

Hooool üüüüber!! –

– In dieser Neujahrsnacht ging das russische Korps Sacken in der Nähe der Neckarmündung bei dichtem Nebel über den Rhein.

Beim Hauptquartier Blücher traf schon einige Tage vorher dieser von Sacken eigenhändig geschriebene Brief ein: »Zufolge Er. Exzellenz Befehl von heute habe ich die Ehre zu berichten, daß ich willens bin, bei Sandhofen 30 Mann über den Rhein setzen zu lassen, um in aller Stille die Schildwachen aufheben zu lassen, welcher 1000 Mann sogleich folgen sollen, um die Batterie am Ausgang des Neckar zu umgehen und sie zu nehmen. Unterdessen sind die Fahrzeuge im Neckar und die Truppen zum Übersetzen bereit. Die Brücke wird zuletzt geschlagen. Sollte dieser Entwurf fehlschlagen, so wird eine große Batterie auf der Insel am Ausfluß des Neckar errichtet und der Übergang mit Gewalt erzwungen. Der Erfolg ist in Gottes Händen.«

Die Nebelnacht, die über dem eisführenden Rhein lag, war dem Unternehmen günstig gesinnt. Gegen vier Uhr morgens wurde es lebendig auf dem Strom. Während die russischen Pioniere hinter der ersten Front eifrig bemüht waren, die am Neckar aufgestellte Pontonbrücke herbeizuschaffen, wurden Teile des Korps, 4 Bataillone Jäger und Infanterie unter Saß und Achlestitschow ohne Störung übergesetzt. Die starke Redoute in der Nähe, gleich gegenüber der Neckarmündung, die 600 Mann Besatzung und 6 Geschütze hatte, lag lautlos 86 und ohne Kenntnis der Vorgänge im Nebel. Als die vier Bataillone auf dem linken Ufer aufgestellt waren, folgten weitere Regimenter unter dem russischen Generalmajor Talissin. Im ersten Frühlicht wurde der Sturm auf die Palisadenredoute unter dem Kommando Saß und Talissin angesetzt. In die Stille von Frost und Nebel, in die schlafende Landschaft wälzte sich plötzlich der Donner der Geschütze.

Die Russen setzten zum Sturm auf die Redoute an, in der sich viele Pfälzer befanden. Der Kampf wurde ungeheuer erbittert, denn die Besatzung leistete mit wahrem Löwenmut Widerstand. Vor den Verhauen und Palisaden häuften sich die gefallenen Russen, der Schlachtenlärm weckte das erstarrte Land, die Flut der anstürmenden Russen schwoll immer mehr an, mit verbissener Tapferkeit rannten sie gegen das verderbenspeiende Bollwerk an, über die Leichen und verröchelnden Leiber ihrer Kameraden hinweg stürmten sie zuletzt nach blutigem Ringen das Bollwerk des Kaisers am Neckar, dessen Kommandant mit Offizieren und 300 Mann Besatzung in Gefangenschaft fiel.

Der Sturm auf diese Rheinbastion kostete über 500 Mann das Leben.

Friedrich Wilhelm III. der König von Preußen, der dem Gefecht auf der badischen Seite beigewohnt hatte, kam gegen Mittag über den Rhein, mit dem jungen Prinzen Wilhelm.

Der russische General der Infanterie Fabian Wilhelm von der Osten-Sacken, ein Kurländer, nach seiner Gefangennahme bei Zürich von Napoleon wieder in Freiheit gesetzt, glänzender Sieger an der Katzbach und vom Kaiser Alexander nach der Völkerschlacht zum General der Infanterie ernannt, Kommandierender eines russischen Korps, bestehend aus zwei Infanteriekorps, einem Kavalleriekorps, einem Kosakenkorps, einer Pionier-Kompanie und Artillerie mit 94 Geschützen, General von Sacken trat, angesichts der gestürmten Redoute dem preußischen König auf dem linken Rheinufer entgegen und entbot ihm seine untertänigen Wünsche zum neuen Jahr. Brausende Hochrufe erschollen an beiden Ufern des Rheins, die Regimentsmusiken spielten und unter stürmischen Kundgebungen gingen die übrigen Regimenter des Korps Sacken über die fertiggestellte Pontonbrücke ins Pfälzische.

Die russische Armee war auf dem linken Rheinufer. Ihr oberstes Ziel war Paris. –

Um die gleiche Zeit stießen Teile des Kosakenkorps Karpow, das 87 am Tage vorher den von Oberleutnant Bastian Berghaus und Leutnant von Litinow ausgekundschafteten Rheinübergang bei Sandheim im geheimen durchgeführt hatte und im Schutze des Nebels nordwärts geritten war, um Verbindung mit der Hauptmacht des Korps zu gewinnen, stießen also Teile des Korps, das Sementschenkoregiment und einige Sotnien Kalmücken in der Nähe von Mutterstadt auf vorgeschobene Abteilungen Marmonts unter dem General Doudenarde.

Es waren sechs Eskadronen Kaiserin-Dragoner und gelbe Kürassiere.

Es entwickelte sich in der Ebene ein heftiges Kavalleriegefecht, das sich umso verwirrender gestaltete, als die freie Sicht durch den starken Nebel gehemmt war und das Reitertreffen in einen Nahkampf Mann gegen Mann sich umwandelte. Die Kosaken und Kalmücken, an ähnliche Witterung gewöhnt, außerdem Soldaten mit draufgängerischem Elan, waren den zermürbten, durch Hunger und Kälte entkräfteten Reitertruppen Doudenardes schon bald überlegen. Nach heißem Nahkampf zwangen sie den immer noch zähen Gegner zum Weichen, der Zusammenhalt der Franzosen löste sich und artete zuletzt in eine wilde und ungeordnete Flucht aus. Über das weite, verschneite Nebelgelände, ohne Sicht und Orientierungsmöglichkeit, rasten die zersprengten Abteilungen der Dragoner und Kürassiere, mit wildem Schreien nach allen Richtungen hin verfolgt von den siegreichen Russen, die auf ihren flinken kleinen Pferden wie losgelassene Höllenteufel hinter dem fliehenden Feinde her waren und eine große Anzahl von Gefangenen machten, darunter auch viele Offiziere. Die Unsicht des Wetters hatte zur Folge, daß einzelne Abteilungen und Stoßtrupps der Russen auf der Verfolgung selber zersprengt wurden und im dichten Nebel die Orientierung verloren.

Die weite Rheinebene, ohne Erhebungen, ohne Wälder oder sonstwie aus dem Flachen sich abhebende Geländeeigentümlichkeiten, dieses winterlich übersponnene Flachland bewirkte, daß nach dem blutigen Kavalleriegefecht viele Irrläufer durch das verhängte Gelände ritten, ohne zum Zentrum ihrer Truppe zurückzufinden, wie es auch fast unmöglich war, die Verwundeten zu bergen.

Viele Reiter starben in Schnee und Kälte, Freund und Feind, wohltätig eingehüllt vom Nebel, der mit weißen Fahnen über ihren einsamen Tod dahinwehte. –

Der Kosakenleutnant von Litinow vom Regiment Sementschenko, 88 siegreich und unverwundet, war mit einigen Kosaken fliehenden Dragonern hart auf den Fersen gewesen, da wurde er durch eine gespenstische Erscheinung abgelenkt.

Quer über seine Galoppfährte sprengte, aus dem Nebel plötzlich auftauchend, ein einzelner Reiter in prachtvollem Galopp.

Leutnant von Litinow, während die andern auf der Spur der Fliehenden blieben, griff in die Zügel und riß sein Pferd herum, gebannt von der seltsamen Gestalt. Verflucht, der Rappe stieg, schon wollte der Nebelreiter, der weder Franzose noch Russe schien, im Dunst verschwinden, da gab von Litinow die Sporen und preschte hinter dem Rätselhaften her, wissend, es müßte eine ganz besondere Bewandtnis mit diesem Kavalleristen haben.

Aber die Jagd war nicht leicht, sie entwickelte sich zu einer Hatz, zu einem Teufelsritt, wie ihn der Kosakenleutnant von Litinow selten erlebt hatte. Der Fuchs, glänzend geritten von seinem Besitzer, lag in einem prachtvollen Streckgalopp, hinter ihm kam der russische Rappe, kürzer im Gang, aber in einem Gelände, das ihm zusagte. Der Kosak gab wieder die Sporen und hob sich im Sattel, der Rappe streckte den geschmeidigen Körper, Schaum quoll flockig zwischen dem Gebiß hervor, manchmal tauchte der Verfolgte in den weißen Schleier, wurde wie von einer raumlosen Öde verschluckt, um gleich darauf als grauer, maßlos verzerrter Schatten wieder aufzutauchen.

Die Jagd gewann eine fast magische Unheimlichkeit, zumal nichts zu hören war, als der dumpfe, rhythmische Hufschlag der forcierten Pferde, die in den umrißlosen Raum hineinjagten.

Da stieß der Rappe des Russen, erregt und nervös, weil der Raum zwischen ihm und dem verfolgten Fuchs sich nicht verringern wollte, ein durchdringendes Wiehern aus, das mit einer herrschsüchtigen Wildheit die unheimliche Stille zertrümmerte.

Im gleichen Augenblick sah Leutnant von Litinow, wie der Fuchs vor ihm erschrocken verhoffte, ins Stolpern kam und aus dem Galopp heraus stürzte.

Wenige Sekunden später war der Kosakenleutnant an der Stelle und sprang vom Pferd. Der Fuchs hatte sich, anscheinend unverletzt, schon wieder aufgerichtet und stand mit bebenden Flanken und weißem Flockenmaul da und spielte mit den Ohren.

Im Schnee lag eine Gestalt reglos auf dem Rücken, beide Arme über den Kopf geworfen, der ein wenig zur Seite hing.

Von Litinow sah einen grauen Soldatenmantel ohne Achselstücke; 89 eine Fuchspelzmütze saß auf dem Kopf und war tief in die Stirn gezogen.

Der Kosakenleutnant Litinow erschrak, als er, sich niederkniend, in das Gesicht des Fremden sah.

Er beugte sich näher zu diesem seltsamen Antlitz, er griff mit der Hand nach der Fuchspelzmütze und streifte sie langsam vom Kopf.

Blondes Haar in leuchtender Fülle quoll hervor und umrahmte die Anmut eines Antlitzes, das Litinow bis ins Innerste erschauern ließ.

»C'est ça une femme!« kam es verwundert von seinen Lippen. »Eine Frau, ma foi!«

Sie lag mit geschlossenen Augen, wie ein gestürzter Vogel, ihre Brust hob und senkte sich, sie lebte, anscheinend war sie nur ohnmächtig geworden.

Leutnant von Litinow, gebannt vom Liebreiz dieser Frauengestalt, verharrte unbeweglich in der knienden Haltung und starrte auf das liebliche Wunder, das vor ihm im Schnee lag.

Und als er die Frau jetzt in die Arme nahm, um sie langsam aufzurichten, als er den Atem fühlte, der aus dem halb geöffneten Mund nebelte, da vergaß er plötzlich Krieg und Fremde, Kälte und Todesnähe und ging ganz auf in dem wunderbaren Erlebnis, wurde eingesponnen von einer schlummernden Leidenschaft und hielt, immer noch kniend, die Last in den Armen wie eine kostbare Beute, wie ein seltenes Geschenk, das zu finden man reiten mußte und immer reiten mußte, durch Länder und Jahreszeiten; das zu finden man weder Tod noch Verderbnis scheuen durfte.

Die Frau, ohne Wissen, was um sie geschah, hing wie eine welke Pflanze in seinen Armen, das blonde Haar fiel in duftenden Wellen nach rückwärts und war wie eine Flamme, mitten im lodernden Spiel erstarrt.

Der Kosakenleutnant von Litinow hob den Kopf und lauschte, ob nicht jemand käme, ihm seine Beute abzujagen, die Augen halb geschlossen, durchstöberte er die Lautlosigkeit, die ihn umlagerte.

Ganz aus der Ferne kam ein dumpfes Grollen und Rollen. ›Haubitzen‹, dachte er verworren, ›nein, eine schwere Batterie. Linkes Rheinufer, Departement du Mont Tonnèrre. Wo bin ich? Weit ist Rußland, Gott nur weiß, wie weit Rußland ist! Wo bin ich? In einem Paradies.‹

Wirre Vorstellungen stürmten auf ihn ein. Schön wäre es, diese Frau hier aufs Pferd zu nehmen und mit ihr nach Rußland zu reiten, 90 und sie zu hüten wie das eigene Augenlicht. Schaut alle her, was ich mitgebracht habe vom Rhein, vom sagenhaften Rhein; schaut her, blondes Haar und rosafarbene Haut und die Augen – – die Augen!

Welche Farbe mochten die Augen haben, über denen jetzt die zitternden Lider lagen?

Er fühlte es nicht als Frevel, was er tat, es schien ihm wie eine Gnade, die ihm über alle Menschlichkeit hinaus jetzt zuteil wurde, als er die junge Frau, die wehrlos war und ohne Wissen, an sich zog und auf die blutleeren Lippen küßte, als er in diesem Kuß alles andere vergaß, die Schande und auch die Ehre des Offiziers, der sich hier an einer Wehrlosen verging, auch die Achtung vor sich selbst und vor dem Ausmaß seiner verwerflichen Handlung. Hier rief nur das Leben, dieses große, dunkle, rätselhafte Leben mit seinem Glanz und mit seiner Schwärze, mit seiner Sehnsucht und seinem verborgenen Glühen.

Auf endlosem Gefilde fanden sich zwei Menschen, sie begegneten sich in der Wildnis der Welt, auf der Irrfahrt der Herzen, im Strudel der Völker und Feinde; sie begegneten sich und wußten nichts voneinander, des einen Stirn aber wurde vom Schicksal gestreift. Es war einer, der hatte nur sein Land verlassen, der war nur durch die Schrecken der Jahreszeiten geritten, der hatte nur immer der großen Sache gedient, um zuletzt doch an sich selber zu scheitern. Dem ewigen Wegelagerer in der eigenen Brust war er ins Netz gegangen.

Er wußte schlagartig, was er getan hatte, die Erkenntnis seiner Schändlichkeit kam wie ein Wetterleuchten.

»Das Licht meiner Augen«, stieß er hervor, »wenn ich ungeschehen machen könnte, was ich tat.«

Der Nebel strich über sie hinweg, es wehte feucht um seine Stirn.

Dort standen die Pferde, mit hängenden Köpfen, bedeckt mit Reif, wie im Schlaf verharrten sie, die grauen Wetterfahnen geisterten über sie hinweg.

Der Kosakenleutnant von Litinow fühlte, wie das Leben in den Körper zurückkehrte. Immer noch über sie gebeugt, hob er den Kopf und sah, daß sie die Augen öffnete. Schreck und Verwunderung traten in das weiche Antlitz, Glanz kam in die graublauen Augen und dann tauchte die Erinnerung aus dem tiefen See des Schlafes.

»Was tut Ihr?« sprach sie angstvoll und richtete sich auf.

»Ihr seid gestürzt, madame, es ist Euch nichts geschehen.«

91 »Es ist mir nichts geschehen?!« fuhr sie verwundert fort, »Ihr sagt, es ist mir nichts geschehen?«

»Ich hoffe, nicht, madame. Ich will Euch helfen.«

Von ihm gestützt, erhob sie sich langsam und schaute sich, als sie ganz aufrecht stand, voll tiefen Staunens um.

»Mein Pferd, richtig. Ich bin gestürzt, ich erinnere mich, doch, ich erinnere mich ganz deutlich. Laßt mich los, bitte!«

Sie stand frei und machte einige zögernde Schritte. Dann kam sie auf ihn zu, schaute ihn lange und durchdringend an, daß er wehrlos wurde wie ein Kind.

»Ihr seid Russe?«

»Ja, madame

»Ich bin eine Deutsche. Ihr seid Offizier?«

»Ja, madame

Sie schob die Zähne über die Unterlippe, als müßte sie über etwas nachgrübeln, das dunkel hinter der Pforte ihres Bewußtseins stand.

»Russe und Offizier, das heißt, daß ich von Euch nichts zu befürchten habe?!«

»Madame, mein Leben für Eure Sicherheit.«

»So. Wer seid Ihr, welches Regiment?«

»Leutnant von Litinow vom Kosakenregiment Sementschenko.«

Sie antwortete nicht, nachdenklich, mit einem unerklärlichen Brennen auf den Lippen und einer mühsam unterdrückten inneren Erregung, ging sie zu ihrem Pferd und strich ihm mit der flachen Hand, immerfort sinnend und grübelnd, über den Hals.

Und sie rief, von ihm abgewandt, zu dem Kosaken hinüber: »Warum habt Ihr mich verfolgt?«

»Weil ich Euch für einen Franzosen – –«

»Das lügt Ihr, Leutnant von Litinow. Warum fragt Ihr mich nicht, wer ich sei und wie ich hierherkomme, mitten in die Schlacht hinein? Ihr wißt doch, daß Ihr in Feindesland seid?«

Der Russe richtete sich auf, kam auf die Frau zu und griff nach ihrer Hand. Die Scham brannte in seinem Gesicht.

»Das fragt mich nicht, madame. Fragt mich, wie es möglich ist, daß Ihr mich so verzaubert habt.«

»Ihr sprecht so gut deutsch, daß Ihr Eure Zunge hüten müßt.«

»Es gibt Augenblicke, die ohne Schranken sind, madame

»So, und wann?«

»Wenn uns das eigene Schicksal unerwartet gegenübersteht.«

92 »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Nie ist mir eine Frau begegnet wie Ihr.«

»Was meint Ihr mit dem Schicksal?«

Er schwieg und senkte den Blick.

»Was meint Ihr mit dem Schicksal, Russe?!«

»Ich – – liebe Euch, madame

»Ich sehe, auch russische Offiziere können Kinder sein.«

»Nicht anders, wenn sie Euch gegenüberstehen. Ich spreche die Wahrheit.«

»Diese Wahrheit kommt überraschend und von sehr ungewohnter Stelle. Ich traue solcher Wahrheit nicht.«

»Bei meiner Offiziersehre, es ist die Wahrheit!«

Sie warf den Kopf zurück, schaute ihn durchdringend an und sprach hart: »Bei Eurer Offiziersehre, habt Ihr Euch etwas vorzuwerfen?«

Wieder schwieg Leutnant von Litinow und schaute zu Boden, er zog die Brauen zusammen und preßte die Lippen aufeinander.

»Warum schweigt Ihr?«

»Erlaßt mir die Antwort, madame

»Ich nehme nicht an, daß Ihr schändlich an mir gehandelt habt. Ich erlasse Euch die Antwort unter einer Bedingung.«

»Und welche?«

»Daß Ihr weder fragt, woher ich komme, noch wer ich bin, noch welche Absichten ich habe.«

»Ich tue alles, was Ihr begehrt.«

»Das ist viel. Ihr wißt, daß ich in Männerkleidern durch die Linien bin, Ihr kennt nicht meine geheimen Absichten, ich könnte eine Spionin sein. Wir leben in einem Land, unter dessen Bewohnern sich noch genügend Französlinge befinden. Wir haben nie den Frieden einer Heimat und eines Vaterlandes gehabt, das Wechselspiel der Rassen hat Festigkeit und Stärke, aber auch Schwäche und Wankelmut gezüchtet. Ihr wagt viel, wenn nicht alles, Leutnant Litinow.«

»Zu wenig, um Eure Achtung zurückzugewinnen.«

»Dann also kann ich reiten?«

»Ihr könnt reiten, madame

Die Frau nahm die Fuchspelzmütze aus dem Schnee und schob sie über die wirre Flut der blonden Haare. Dann ging sie zu ihrem Pferd und rückte die Bügel zurecht, der Fuchs wandte den Kopf und stieß weißen Atem aus den Nüstern.

Sie schaute nach dem Offizier und sah ihn unbeweglich im Nebel 93 stehen, er rührte sich nicht, immer noch war der Kopf auf die Brust geneigt, er stand wie in Trauer versunken.

»Ihr seid nicht galant, Kosak«, rief sie, stieg in den linken Bügel und schwang sich aufs Pferd, ehe er ihr behilflich sein konnte.

»Man vergißt die Höflichkeit, madame, aber Euch nicht. Lebt wohl!«

Da stieg die Frau noch einmal vom Pferd und kam auf den Russen zu.

»Ich glaube, Ihr habt mir noch etwas zu sagen. Habt Ihr einen Wunsch?«

»In diesem Augenblick nur einen.«

»Und welchen?«

»Nehmt noch einmal die Mütze ab, damit ich Eure Haare, Eure Augen und Euer Antlitz sehe.«

Sie lächelte ihn an, sie riß die Mütze vom Kopf und wandte ihm das Gesicht zu.

»Eines müßt Ihr wissen, Kosak: wenn ich eine Spionin wäre, dann hätte ich mich jetzt auf schnellstem Weg davongemacht, statt mich auf dieses romantische Spiel einzulassen.«

Da fuhr der Kosak hoch, seine Augen glühten und die mühsam gebändigte Leidenschaft brach sich gewaltsam Bahn.

»Es ist mehr, als ein romantisches Spiel.«

»Und was noch mehr?«

»So gewiß ich lebe und atme, so gewiß ist es mein Schicksal!«

»Man soll aber nicht Frevel treiben mit seinem Schicksal. Ihr habt ein schlechtes Gewissen, ich habe Euch versprochen, nicht danach zu fragen. Nur rate ich Euch, behutsam mit Eurem Schicksal umzugehen.«

»Ich will tun, was möglich ist, um meine Schuld zu tilgen. Sagt, was mit mir zu geschehen hätte, wenn ich Euch, da ihr wehrlos wart, erniedrigt hätte?«

Sie trat vor ihn hin und schaute ihm fest in die Augen, ihr Blick hatte alle Milde verloren.

»Um es deutlich zu sagen, Ihr hättet das Leben verwirkt.«

Da griff der Offizier in den Mantelgürtel, zog eine Reiterpistole hervor, spannte den Hahn und reichte der Frau die Waffe.

»Ihr seht meine Brust. Die Zeit hat Euch hart gemacht, Ihr werdet den Mut finden, mich zu richten.«

Mit der flachen Hand wehrte die Frau die dargebotene Waffe ab und schüttelte langsam den Kopf.

94 »Es wären zuvor zu viele Bösewichte zu töten. Was Ihr getan habt, ist vergessen, nehmt die Waffe fort.«

»Wißt Ihr auch, daß mir in Eurem Lande schon zum zweiten Male das Leben geschenkt wird?«

»Ihr werdet es verdient haben.«

»Dies Wort sei Euch gedankt.«

»Reitet zu, mit Gott!«

Sie schaute ihm freimütig ins Gesicht, sie streckte ihm die Hand hin, die er hastig ergriff und lange umklammert hielt. Sie wandte sich ab, von Weichheit überfallen, ihr war, als glühte ein Funke auf in ihrem Innern, den es eilig zu löschen galt.

Mit einer schroffen Bewegung löste sie ihre Hand aus der seinen und schritt auf das Pferd zu.

»Einen Augenblick noch«, rief der Offizier, nestelte den schweren Mantel und den verschnürten Waffenrock auf, griff mit der Hand hinein und riß einen Gegenstand los, den er um den Hals trug.

»Nehmt dieses Amulett, und denkt an mich. Es sollte mein Leben schützen in Feindesland. Zweimal ist mir dieses Leben geschenkt worden in vierundzwanzig Stunden. Vielleicht ist die geheime Kraft kein Trug gewesen, aber die Rolle ist ausgespielt. Nehmt den Schmuck und denkt, daß ich mit ihm Euch mein Leben gebe.«

Die Frau nahm den Talisman, der an einer zerrissenen Goldkette hing. Es war eine alte Münze aus mattem Gold mit dem Bild des russischen Georgskreuzes auf der Vorderseite. Die Münze trug einen Spruch, der nur noch undeutlich zu erkennen war.

»Ich will es tragen und an den Sieg der guten Sache glauben, so wie ich an das Gute in Euch glaube. Lebt wohl.«

»Die Gnade des Himmels über Euch. Wir werden uns noch einmal begegnen.«

Sie ritt durch den dichten Nebel davon, er stand lange und lauschte auf den Hufschlag des Pferdes, der mehr und mehr sich entfernte und versank.

Und als alles leer um ihn war und die große Öde nach ihm griff, stand er immer noch und starrte wie verhext in die graue Wand, hinter der die Frau verschwunden war. –

Erst gegen Abend fand er zum Regiment zurück.

Das Kampffeld lag still und immer noch im dichten Nebel. Ein großer Tag neigte sich dem Abend zu. Der 1. Januar 1814. Ein toter Nebeltag, der den Rheinübergang der gesamten Schlesischen Armee Blücher-York begünstigt hatte.

95 Gegen sechs Uhr abends war der Übergang Sackens bewerkstelligt und das gesamte Korps auf dem linken Rheinufer aufgestellt. Die Pontonbrücke konnte eingefahren werden, eine Disposition sandte sofort Detachements nach Worms und Speyer.

Das Streifkorps des Prinzen Biron von Kurland, dem der Oberleutnant Bastian Berghaus angehörte, war mit zwei Eskadronen des 2. Schlesischen Husarenregiments, zwei Eskadronen Nationalkavallerie und einer Jägereskadron des neumärkischen Dragonerregiments, vom II. preußischen Korps abkommandiert, dem General Sacken als Verbindungsglied mit York zugeteilt, und rückte an diesem Tag nach Frankenthal ab. Bei Kaub war Blücher über den Rhein gegangen, nicht ohne Schwierigkeiten, denn die leichten russischen Leinwandpontons hielten dem eisführenden Strom nur schwer stand. Die Brücke, schon fast fertiggestellt, riß aus den kleinen russischen Sandankern, ein großer Teil des Korps wurde auf Rheinkähnen übergesetzt.

St. Priest ging mit der 11. Division und Regimentern der 17. Division auf 80 Lahnschiffen bei Niederlahnstein und Talehrenbreitstein über den Rhein.

Im Süden war die Hauptarmee unter Schwarzenberg bereits in Frankreich eingedrungen, beim Fort Louis auf einer Rheininsel bei Selz rüstete das russische Korps Wittgenstein zum Übergang, zwei Kosakenregimenter und 300 Jäger hatten im Schutze des Nebels und unter Ausnutzung der toten Rheinarme und des dichten Auwaldes den Übergang schon vorher erzwungen.

Die Verbündeten standen auf dem linken Rheinufer und rüsteten sich, in das Herz Frankreichs vorzustoßen.

In der Nacht dieses ereignisreichen Tages schrieb der General von Sacken eigenhändig an Blücher:

»Ich bin gestern mit meinem Armeekorps allhier angekommen. Der Umstand, daß der General Marmont mit 15–20 000 Mann am Tage vor meinem Übergang quer über meine Straße von Worms nach Neustadt zog, bewog mich, den größten Teil meiner Kavallerie ihnen folgen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit hatte der Generalmajor Karpow bei Mutterstadt ein vorteilhaftes Kavalleriegefecht, wobei 3 Oberstleutnant, 22 Offiziere und 196 Dragoner und Kürassiere gefangengemacht und der Rest von acht Eskadrons vernichtet worden.« 96

 


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