Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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20

Einige Tage später, es war Ende Mai, hörte Andreas Aust morgens gegen zehn Uhr plötzlich Axthiebe und Sägegeräusche. Er trat vor das Forsthaus und lauschte in den Wald hinein. Sein Gesicht war starr, ein Grauen befiel ihn vor etwas, das er nicht wahrhaben wollte. Die Schläge kamen hell zwischen den Kiefernstämmen hindurch. Das rhythmische Schnarren der Sägen klang häßlich und herrschsüchtig in den feierlichen Morgen.

Andreas Aust stand still, er schaute in die Baumwipfel hinauf, der 366 Tag würde wieder glühend heiß werden, das Harz roch stark und die Ameisen waren voll Hast und Unruhe.

Seltsam, er dachte daran, daß er eine Frau hatte und zwei Knaben, die beide morgens früh zur Schule gingen, zwei Stunden Wegs durch den Wald und abends wieder zwei Stunden zurück.

Die Axthiebe mußten aus dem Revier beim Sandkopf kommen. Er fühlte deutlich, wie sein Herz unruhig schlug. Vielleicht, daß die aufkommende Hitze schuld war. Er holte schwer und tief Atem.

Peter, der ältere, war ein rechtes Wälderkind, ein ganzer Aust, auch ein Endlein Träumer und Einzelgänger, er wollte Förster werden, wie sein Vater war, und wie sein Großvater und Urgroßvater gewesen waren. Ja, Peter, der war ein ganzer Aust, ein Wäldermensch.

In der Sandkopfsenke standen die schönsten Eichen vom ganzen Revier, wunderbare Starkhölzer mit prächtigen Kronen, beinahe zweihundert Jahre alt. Diese Eichen hatten Glück gehabt und die Brandschatzungen der düsteren Epochen überdauert. Sie standen da, wie herausgehoben aus der Zeit, alt und stolz, und rauschend im Wind, gewaltig strebten die Stämme aufwärts, zwischen ihrem Wurzelwerk brachen Felsgebilde hervor, die mit ihnen verwachsen waren zu einem wilden Heiligtum, vielleicht, daß Gott hier wohnte in nachdenklichen Stunden.

Andreas Aust lauschte und sann. Jeder Axthieb traf ihn unsichtbar, ein Zucken lief durch seinen Körper.

Seltsam, daß Andreas Aust hier stand und sann.

Sein jüngster Sohn, Michael, der hatte etwas von der Unruhe der mütterlichen Familie, die vom Rhein stammte, vom großen wandernden Wasser. Er hatte eine schweifende Seele, ihn trieb es in goldene Bezirke, er las gerne Bücher von Meeren und Segelschiffen. Er wollte Lokomotivführer werden. Nun, Lokomotivführer, das war gerade nicht nach des Försters Geschmack, immerhin, die Jugend sollte mit der jungen Zeit gehen. Lokomotivführer, sonderbar fremder Begriff, ganz neumodischer Beruf. Immerhin, da konnte er durch die Länder brausen, ruhelos und immer unterwegs, und immer suchend und schweifend. Nein, der Michael war kein ganzer Aust, er hatte etwas mitbekommen von den Fernsüchtigen, von den Strommenschen.

Das würde nicht gut abgehen, wenn sie die Eichen in der Senke schlügen, nein, das würde bestimmt nicht gut abgehen, Gott möge ihn behüten.

367 Wieder lauschte er auf die Axthiebe. Da lief ein dumpfes Rollen durch den Wald, es war, als ob alle Baumkronen erbebten.

Stille.

»Jetzt ist ein Baum gestürzt«, sprach Andreas Aust und mußte wieder tief atmen.

Er war mit einem Male ganz ruhig und gefaßt, er ging ins Wohnzimmer, nahm die Flinte aus dem Schrank, griff nach dem Hut und sagte seiner Frau, die in der Küche war, sie dürfe unter keinen Umständen das Haus verlassen.

Dann ging er über die Lichtung in das Jungholz und stieg bergan. Er ging dem Geräusch der Axthiebe nach.

Als er auf die Höhe kam, blieb er stehen, er war im Zentrum jenes Waldgebietes, das im Winter 1813 abgebrannt war. Den jenseitigen Hang hinab lief eine Kiefernpflanzung im Dickungsalter, sie war schon einmal durchforstet und mit fünfzehn vom Hundert in Kämpen gezogener Hainbuchen gemischt.

Andreas Aust ging den Höhenweg entlang und kam zu einer Fichtenschonung, die in die Sandkopfsenke hinunterlief. Die Axthiebe klangen in unmittelbarer Nähe. Jetzt erblickte er auch schon eine Rotte von Holzfällern bei der Arbeit.

Im gleichen Augenblick, als er in die Senke hinunterschaute, sah er eine Eiche stürzen. Ungeastet, mit furchtbarem Dröhnen, Nachbaräste mit sich reißend, schlug sie zu Boden.

Ein Beben rann durch die Luft, es war als ob der Wald grollte. Andreas Aust griff sich an die Brust, ihm blieb das Herz stehen, noch hörte er das Donnern des aufschlagenden Stammes, noch klang das holzige Krachen der Äste in seinen Ohren, noch lief gespenstisch das Todeswimmern durch den Wald.

›Vielleicht ist es noch Zeit‹, dachte der Förster verworren, ›es ist nur Bosheit von ihm, daß er die Eichen fällen ließ, es ist unmöglich, daß auch die andern stürzen sollen, die adligsten Bäume weit und breit.‹

Er eilte durch die Schonung in die Senke hinunter. Als er ankam, sah er, daß mehr als zwanzig Fäller bei der Arbeit waren, einen Horst aus dem Bestand zu schlagen.

Mit brennenden Augen trat er mitten unter die Rotte.

»Leute, was macht ihr?! Wer hat euch geheißen, die Eichen zu fällen? Was, um Gottes willen, tut ihr denn?«

Er rief es laut und mit bebender Stimme.

368 Sie hielten inne im Sägen, mit den Äxten und Keilen, mit Hebebäumen und Seilhaken. Sie schauten auf in der Runde, ohne sich zu erheben, es war, als ob sie für Augenblicke erstarrt wären in ihren Arbeitsstellungen. Wie ein lebendes Bild wirkten sie, als sie ihn jetzt anstarrten.

»Wißt ihr nicht, welchen Frevel ihr begeht, und tut ihr das um des elenden Mehrlohnes willen? Ich kenne fast jeden von euch, wir haben jahrelang zusammen gearbeitet in Frieden und Kameradschaft, seid ihr jetzt gekommen, mich und den Wald zu verraten?«

Sie richteten sich staunend auf, es kam langsam Bewegung unter sie. Aus gekrümmten Stellungen tauchten sie empor, sie strichen die Haare aus den Gesichtern, krempelten die Hemdärmel höher und zogen an den weiten Manchesterhosen.

»Ihr seid keine Tagelöhner und Handlanger, ihr seid ein Korps von Waldarbeitern. Ihr kennt die Bäume und ihr Wachstum, ihre Pflege und ihre Feinde. Es ist nicht, daß ich einen von euch unter der Hand wegnehmen und durch irgendeinen Gelegenheitsarbeiter ersetzen könnte. Ihr seid im Wald zu Hause, wollt ihr euer Heim zuschanden schlagen?«

Seine Stimme zitterte, seine Augen wurden feucht, als er die gestürzten Stämme sah, die ungeastet am Boden lagen, fast verließ ihn der Mut, als er rundum die begonnene Verwüstung erblickte.

Ein Rottmeister kam auf ihn zu, langsam und mit gesenktem Kopf, er drehte den Hut in den Händen.

»Herr Oberförster, es ist Befehl. Der Zivilkommissar für die Forsten hat anberaumt, daß fünfhundert Kubikmeter Eichenholz beschleunigt geschlagen werden.«

»Fünfhundert Kubikmeter?!! Erste Holzklasse?!«

»Jawohl, im Stücklohn, mit zwanzig Prozent mehr Verdienst, auch für den Rückerlohn.«

»Wißt ihr denn, was ihr tut?« schrie Andreas Aust. »Was man euch befiehlt, ist ein Verbrechen am Heiligtum des Bodens. Habt ihr, haben eure Väter und Großväter, die alle Hauer waren, jemals etwas derartiges getan?«

»Es ist Revolution«, rief einer aus der Rotte, »wir haben eine neue Hauordnung; wir wissen, daß es Waldfrevel ist.«

»Waldfrevel?! Ihr alle seid ehrliche Hauer, wollt ihr unter die Waldfrevler gehen?«

369 »Wir tun, was wir müssen, wir brauchen Brot.«

Andreas Aust riß die schriftliche Vollmacht der Regierung aus der Tasche und zeigte sie. Er las ihnen den Ukas vor, wonach alles null und nichtig sei, was von der provisorischen Regierung, insbesondere von den Zivilkommissaren anberaumt werde. Und wer danach handle, der müsse als Rebell betrachtet werden. Niemand habe ein Recht, den Wald anzutasten, die Zusatzhiebe in jeglicher Form und unter jeglicher Begründung würden auf das strengste geahndet.

»Schaut selbst her und lest, was hier geschrieben steht!«

Er ging von Mann zu Mann und zeigte die amtlich gestempelte Urkunde. Zu jedem einzelnen ging er hin und forderte ihn auf zu lesen. Die Glut der Erregung schlug aus seinen Augen, er war von einem dumpfen Glauben erfaßt, es müßte ihm gelingen, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Er schlug mit der flachen Hand auf das Papier, Schweiß trat auf seine Stirn, die Stimme wurde heiser, seine Entrüstung war wie eine Flamme.

Er zog sie an den Hemdärmeln herbei und bat sie, sich zu überzeugen, die Kraft seiner Rede hob sich, er wuchs zum fanatischen Anwalt seiner Bäume hinauf. Er versprach Auflohn und Rückerlohn über vierzig Schritt, er versprach mehr Waldweide und Grasnutzung, er wollte ihnen das Feierabendholz erhöhen und sich für neues Pachtland einsetzen.

»Nur laßt mir diesen besten Bestand aus dem Stock, keinen Axthieb mehr; kraft meines Amtes und meiner Regierungsvollmacht bitte ich euch, stellt die Arbeit ein! Es ist nicht, daß ihr Gras mäht oder Rüben erntet, es ist nicht, daß ihr Schweine schlachtet oder Häuser mauert; nein, was ihr tut, ist in höherem Maße verantwortungsvoll. Was hier steht an Bäumen des Waldes, ist ein Teil von euch selber, denn jeder einzelne von euch muß ein Freund und Bruder der Bäume sein, er wäre sonst nicht wert, hier zu stehen. Was ihr tut, wiederhole ich euch, ist mehr, als was andere tun, eure Axt dringt in die Jahrhunderte ein und jeder Sägestrich zerschneidet das Wachstum eines halben Menschenlebens. Ihr habt kein Recht, an den Generationen des Waldes zu freveln. Fort die Axt und fort die Säge, geht nach Hause, ich will sorgen, daß ihr entschädigt werdet! Keiner von euch soll Schaden erleiden, weil er sich des Waldes Vogelfrei erbarmte. Vielleicht wißt ihr es noch nicht, weil euch noch niemand darauf hingewiesen hat, aber ich sage euch, der Wald und der Mensch sind eins, Wälder und Menschen haben verknüpftes Schicksal. Nicht auf dem Meere, nicht in der 370 Ebene, nicht in der Heide und nicht im Fels, in den Wäldern wurde der erste Mensch geboren und durch den Urgrund der Wälder wird auch der letzte Mensch von dannen gehen!«

Sie verstanden ihn nur halb, aber sie fühlten, daß er in diesem Augenblick ein anderer war, als sonst, daß er vor ihnen stand wie ein Prediger, der von einer unsichtbaren Kanzel herab ihr Gewissen wachrüttelte und sie vor Sünde mahnte.

So hatten sie den Oberförster nie gesehen, sie wußten, daß er ein hintersinniger Alleingänger war, jetzt aber war er gar zum Pfarrer geworden. Auch seine Worte klangen, als ob sie über dem Buch der Bücher gesprochen würden, vielleicht war es wirklich ein Verbrechen vor Gott, was sie sich anschickten zu tun, was sie aber bisher nicht begriffen hatten.

Er stand vor ihnen und zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war feucht, es brach ein sonderbarer Glanz aus den Augen, mit denen er hinaufschaute in die flimmernd bewegten Kronen der Verurteilten, für die er um Gnade bat.

Er wischte den Schweiß von seiner Stirn, eine Schwäche befiel ihn, es war gewitterschwül, schon stiegen kleine Turmwolken über den Wäldern herauf.

Der Rottmeister kam auf ihn zu, er war verlegen, möglich daß er sich schämte.

»Wenn das so ist, Herr Oberförster – –«

Er gab Anweisung, die Arbeit einzustellen, schon legten sie Äxte und Sägen, Zugleinen und Seilhaken hin, da kam der Schwellenhuß mit seinem Einspänner den Ziehweg herauf. An seiner Seite saß der Franzose Laroche.

Als er den Oberförster sah, sprang er vom Gefährt und eilte auf die Haustelle zu. Er herrschte den Rottmeister an: »Was geht hier vor, warum arbeiten die Leute nicht?«

»Der Oberförster hat es verboten, er hat Befehl von der Regierung.«

Veit Huß wollte zuerst lächeln, aber die Wut verscheuchte die abgedroschene Maske. Er drehte sich im Kreise, er sah seinen Schwager Andreas Aust unbeweglich stehen und ihn anstarren. Der Franzose stieg aus dem Wagen und kam näher.

»Wer gibt hier Befehl, ich oder eine Regierung, die nicht mehr besteht?«

»Wir wissen selbst nicht mehr, was wir tun sollen, Herr 371 Kommissar. Hier stehen Eichen erste Bodenklasse mit zweihundertfünfzigjährigem Umtrieb, sie haben noch über sechzig Jahre vor sich.«

»Über die Umtriebszeit bestimme ich! An die Arbeit, Leute!!«

Andreas Aust trat vor, mit dem rechten Arm machte er eine kreisende Bewegung.

»Hände von den Bäumen! Ich habe die Verantwortung für alles, was in diesen Wäldern geschieht!«

Der Schwellenhuß machte einige Schritte.

»Aber nicht über mich hinweg!«

»Über dich hinweg befehle ich kraft meiner Vollmacht, daß die Hiebe einzustellen sind!«

Stille. Sie standen sich gegenüber. Auge in Auge, der Oberförster griff mit der Rechten unwillkürlich nach dem Gewehrschaft.

Was war das? Gesang von ferne, verhallend zwischen den Bäumen, aber deutlich näherkommend.

»Einer von uns ist hier zuviel«, brüllte Huß und kam noch dichter heran. Aust schaute sich um und sah den Franzosen ganz in seiner Nähe stehen und lächeln.

Die Hauer standen unbeweglich, manche murrten, der Rottmeister zerbiß die Barthaare zwischen den Zähnen.

»Einer ist schon immer zuviel gewesen«, antwortete Andreas Aust, »aber ich glaube, der Gerechte steht über dem Ungerechten.«

Der Gesang kam näher, es war ein tosendes Gebraus rauher Stimmen, Huß wandte ein wenig den Kopf und lauschte auf den dumpfen Chor.

»Geh deiner Wege, Schwager Aust, und versuche nicht zu ändern, was du nicht ändern kannst.«

»Ich weiche nicht von der Stelle!«

»Geh deiner Wege, Aust!«

»Nicht, solange ich lebe!«

Veit Huß, einer schamlosen Hilfe sich bewußt, drang wütend auf den Oberförster ein. Andreas Aust stieß ihm mit beiden Fäusten vor die Brust, daß er nach rückwärts taumelte. Der Franzose fing ihn auf, er trat einen Schritt vor. Der Gesang schwoll zum Johlen an, es tauchte blitzend auf zwischen den Stämmen.

Andreas Aust riß die Flinte von der Schulter, da sah er einen singenden Zug von Sensenmännern den Ziehweg daherkommen, eine Geisterhorde von Menschen mit roten, zerfetzten Fahnen, mit Sensen und Keulen bewaffnet, zerlumpt und schweißübergossen, ein 372 Elendszug gebrochener Wildlinge, von ihrem Schicksal fürchterlich gezeichnet, eine Apokalypse von Hunger, Pest und Verderbnis.

So kam dieser Menschenverband heran, singend und johlend, ein Zerrbild der Freiheit, eine trostlose Rotte der Rache, die schwärzeste Kolonne vom berüchtigten Sensenkorps Zinn. So wankten sie daher, Grauen und Mitleid in gleichem Maße weckend, nichts als Schattengebilde einer verwegenen Zeit.

Andreas Aust erstarrte mitten in der Bewegung, mit halb eingesunkenen Knien stand er da, noch hielt er die Flinte in der rechten Hand, aber der Arm wurde kraftlos, die Waffe fiel mit gedämpftem Aufschlag in das Gestrüpp des Bodens.

»Ich sehe – – du hast – – deine Garde mitgebracht!?«

Immer noch stand er ruhig, schon umringten ihn die Sensenmänner, er roch ihren Schweiß und die Ausdünstung ihrer Kleider. Er schaute in ihre Gesichter wie in Larven, er sah Zerwürfnis und Not in ihren Augen, in der brutalen Nacktheit ihrer Gesten, in der Verwilderung ihrer Bärte.

Er hob langsam die Arme, ohne Furcht und Bangnis, nur von Mitleid erfüllt, er preßte beide Hände vor die Augen, als müßte er dem Anblick solcher Menschenunwürde entfliehen. Er schloß die Augen hinter dem Schild der Hände, er dachte an Gott, er rief Gott, er klagte ihn an. Er suchte Gott und fand ihn nicht.

›Gott im Himmel‹, dachte er, ›dies alles geschieht unter dem Zelt deines Himmels und im Licht deiner Gestirne.‹

Die Arme sanken herab, er sah Huß, der sich nach der Flinte bückte. Andreas Aust stellte den Fuß auf die Waffe.

»Was hier liegt, ist mein Eigentum.«

»Mit dem du mich abknallen wolltest.«

»Gott verzeih mir die Sünde.«

»Die Flinte her!«

»Hände von der Waffe!«

Er sah die Sensenmänner vor sich stehen, sie waren verstummt, er wußte, daß sie auf dem Sprung waren. In einem Klumpen umdrängten sie ihn, schon war er mitten unter ihnen, die Sensen ragten wie ein Ring von Palisaden über ihn hinaus, er stand aufrecht in einem wunderlichen Käfig von riesigen Messern.

Einer unter ihnen stieß ihn vor die Brust, blitzschnell packte Andreas Aust ihn an der Gurgel, würgte ihn und schleuderte ihn zu Boden.

373 Da fiel die feige Meute über ihn her und packte ihn. Er wehrte sich nicht mehr, er dachte, daß es nun zu Ende sei, daß sie ihn aufknüpfen würden an einem Ast.

Als er den Blick hob, sah er den Franzosen dicht vor sich inmitten der Meute stehen. Henry Laroche lächelte, sonst nichts. Er sprach kein Wort, sein stummes Lächeln war teuflischer und rachegesättigter, als es ein Schwall beschimpfender Worte gewesen wäre. Er stand mit den Händen in den Taschen, dann wandte er sich kurz um, die Sensenmänner machten eine Gasse, er schritt langsam hindurch und verlor sich in der Menge.

Aust hatte keine Gedanken mehr, nur seine Frau sah er und die beiden Knaben, der Älteste war ein ganzer Aust, er würde in den Wäldern bleiben, der Jüngste aber wollte Lokomotivführer – – es wurde schwarz vor seinen Augen, möglich, daß ihn einer geschlagen hatte. Er hörte sie johlen und schreien, er hörte auch plötzlich mit unheimlicher Klarheit die Stimme seines Schwagers.

»Wer mir nach dem Leben trachtet, den müßte ich in Schutzhaft nehmen, selbst wenn er mein eigener Bruder wäre. Bindet ihn an einen Baum, dort wird er sich am wohlsten fühlen. Aber so, daß er etwas sehen kann, denn ich will ihm ein Theaterspiel geben.«

Sie schleppten ihn die jenseitige Waldlichtung hinauf. Etwa fünfzig Meter höher, am Rande des Föhrenjungwaldes banden sie ihn an eine Lärche.

Dann gingen sie in die Senke zurück.

Andreas Aust hob langsam den Kopf, der umflorte Blick suchte die Umgebung ab, er war allein mit der Heerschar seiner Bäume. Tief unter sich sah er den unruhigen Menschenhaufen, Stimmenlärm quoll zu ihm herauf, er beobachtete, wie eine Rauferei entstand, einige der Hauer hatten sich empört, mit den Äxten gingen sie auf die Sensenmänner los, Brüllen und Schreien mischte sich mit dem hellen Klirren von Metall. Ein Schuß dröhnte und zerschnitt den brodelnden Lärm. Dann wurde es still.

Andreas Aust hing in dieser Stille, schmerzhaft und qualvoll, die Stricke waren zu fest geschnürt, er fühlte, wie ihm das Blut gerinnen wollte.

Unheimlich war die Stille, er trieb vergessen in ihr dahin.

Er war wie ans Kreuz geschlagen, seine Augen richteten sich nach oben, er sah mitten in den Himmel hinein, dessen schwüles Licht betäubend auf ihn niedersank. Schon kamen dunklere Wolken, an den 374 Rändern blasig geballt, übereinander getürmt, phantastische Gebilde der Welt, schwanger von Unheil und stummer Drohung.

Unheimlich war die Stille, der Tod selber segelte in dieser Lautlosigkeit.

Aber nicht lange vermochte ein Gestirn den Atem anzuhalten. Ein Gesang kam auf und flügelte an ihm vorüber. Er ging grüblerisch der Herkunft dieses Gesanges nach, er konnte den Kopf nicht wenden, aber er wußte plötzlich, daß hinter ihm die hohen Buchen standen, in deren wallende Wipfel der aufkommende Wind eingefallen war. Es klang unsagbar feierlich.

Er schloß die Augen vor dem Schmerz des Lichtes, da wurde der Gesang stärker, es war alles erfüllt vom großen Brausen.

Und der Wind wuchs und das Brausen wuchs und die Wolken färbten sich tintig und schwefelgelb, die drohende Gefolgschaft der sommerlichen Schwüle quoll über den Bäumen herauf.

In diesen Chor von Stimmen, in dieses wilde Lied des Waldes zwängten sich feindselig die Sägestriche und Axthiebe.

Andreas Aust, schwindelnd emporgehoben, hing am Kreuz und sah mit verschwimmenden Augen, wie die Eichen stürzten. Die Zeit fiel von ihm ab, er vergaß den Tag und die Stunde, sein Kopf hing müde auf die Brust, ein fürchterlicher Durst quälte ihn, er konnte nicht mehr schlucken, Mund und Kehle waren ausgetrocknet.

Er wollte rufen, aber die Stimme versagte.

Alles schien kraftlos an ihm, nur die Augen waren glanzvoll weit geöffnet. In den Augen versammelte sich das Leben, sie waren ohne Mitleid, in ihren Schächten spiegelte sich das Grauen.

Jeden Baum sahen diese hungrigen Augen stürzen; sahen, wie er wankte und bebte bis in das Mark seines Lebens, wie er, ein letztesmal sich auflehnend, hilfesuchend in den Himmel griff, wie er aufschrie und, in diesem Schrei sich schon verlorengebend, mit der Majestät seines Wachstums, donnernd und berstend niederbrach und die Erde ringsum erbeben ließ.

Jeden Baum sah der Gekreuzigte der Wälder sterben, manche stürzten auf ihn zu, ihm war, ihre fallenden Stämme wüchsen ihm entgegen. Die Wipfel, in der Kurve des Niedersinkens noch rauschend und brausend, wurden größer und größer, einen Augenblick schien es, als wollte ihr bewegtes Gewirr alle Umwelt verdecken, dann aber wehte es herauf wie aus Gräbern und nur über ihm harfte das wachsende Wetter in den Buchen.

375 Einmal hörte er Gesang von unten, die Sensenmänner sangen, Gott helfe ihnen, welch ein verkommenes Lied.

Mer locke eich in die dornige Hecke,
Un dun rings erum de Wald anstecke;
Der muß brenne wie der Moskauer Brand so rot,
In de Flamme wern er all zu Kohle gebrot.

Andreas Aust überkam ein Gefühl, daß er nun hier sterben müßte, am Kreuz erhöht und auf alles niederblickend, was sündhaft geschah. Wie Christus für die Menschen gestorben war, so würde er für die Bäume sterben. ›Oh, meine Frau und meine Kinder‹, dachte er, es wurde plötzlich dunkel um ihn, er riß die Augen auf. Woher die Dunkelheit, kam der Tod in dieser Gefolgschaft trüber Schatten?

Nein, das Licht war versunken, Wetterwolken zogen über die Sonne, der Wind wuchs zum Sturm, Armeen von Wasserdampf und Schwüle marschierten auf.

Andreas Aust sah das Gezack der Wolken auf sich zukommen, der Sturm stand ihm entgegen, er brach voll Ungestüm in die Wälder ein, seine Stimme hob sich und wurde zum Mahnruf der Elemente.

Andreas, der Gekreuzigte der Wälder, hob den Kopf und schaute in das Wetterspiel, wähnend, Gott müßte ihm erscheinen zwischen Wolkendampf und Schwefelatem. Aber er sah nur die Raben segeln im Wirbel der Winde, er sah nur die weißen Blitze und hörte den Donner rollen in der Ferne.

Wo waren die Menschen, wo waren die Hauer und Sensenmänner, warum klangen keine Axthiebe mehr, waren alle Mordsägen plötzlich verstummt?

Dicke graue Wolken waren in die Senke gefallen und versuchten nun, von dort wieder hochzukommen. Wenn der Sturm sie packte, wirbelten sie in zerrissenen, schmutzigen Nebeltüchern empor.

Es wurden aber immer mehr Wolken, immer dichter ballte sich ihre graue Masse, immer mehr füllten sie die Senke aus, es brodelte wie in einem Kessel, nie hatte Andreas Aust ein solches Schauspiel gesehen.

Aber er war zu schwach, um nachzudenken, zu schwermütig, um noch Teilnahme zu besitzen, erst als eine rote Fahne qualmend aus dem grauen Gewölk hervorloderte, wußte er, daß der Wald brannte.

Als letzter Trabant des Unheils kam das Feuer.

376 Einerlei, woher es kam, ob durch Fahrlässigkeit entstanden, ob von den Sensenmännern hinterhältig gelegt, ob von einem Blitzschlag entfacht, einerlei, das Feuer kam und fraß sich mit unheimlicher Geschwindigkeit in die Trockenheit des Kiefernjungwaldes hinein.

Es waren keine Wolken, was Andreas Aust gesehen hatte, es war Qualm und Rauch, aus dem jetzt prasselnd die Flammen schlugen.

Ganz aus der Ferne kamen die Fetzen eines Liedes geflattert. Das war die Sensenbrigade, die vor dem Wetter flüchtete und immer noch sang und johlte. Aber der Donner fraß ihre Lumpenballade.

In wenigen Minuten wälzte sich, vom Sturm gejagt, ein Feuermeer den Berg hinauf. Bald verschwand der Qualm und die roten Fahnen gewannen die Oberhand, mit gespenstischem Wehen kamen sie näher. Aus der Brandung des Feuers stiegen Funkenfontänen hoch, Millionen Nadeln stießen in sprühenden Explosionen in die Höhe, wurden vom Sturm erfaßt und stoben verglühend und verlöschend mit dem Strom der Luft davon.

Der Mann am Kreuz des Waldes, nunmehr von allen verlassen, schaute mit einem unbeschreiblichen Staunen in das Schauspiel des Verderbens. Er sah das Feuer auf sich zukommen, eine entfesselte Armee mit den roten Feldzeichen des Todes, Funkengarben schleudernd, angetrieben von der jauchzenden Kraft des Sturmes, der die Front des Angriffs zeichnete und die glühende Schlacht den Berg heraufwälzte.

Der Mann hing an der Lärche, Stricke verbanden ihn mit dem Baum, er legte den Kopf gegen die Rinde und wartete.

Der junge Kiefernbestand war trocken, bis herauf zu ihm drängten sich die Bäume, auch die Hainbuchen brannten, aber sie hielten länger stand, sie loderten noch als Fackeln, wo die Kiefern schon in die glimmende Asche gestürzt waren.

Jetzt brach das Getier aus der Dickung, das Kahlwild, erschrocken verhoffend, jagte in wilden Sätzen davon, Hasen zackten aus der bedrohten Zone, Vögel sammelten sich zu Schwärmen und stürzten in das Feuer.

Hoch oben kreisten, mit der Trift des Sturmes segelnd, lärmend die Raben, nur noch undeutlich sich abhebend gegen die drohende Masse des Gewölkes, das wie eine Herde von Urwild vorübergetrieben wurde, das immer dichter und dunkler sich formte, sich bleiern zu Klumpen schob und so gierig den Himmel verhängte, daß die 377 Leuchtkraft der Feuerattacke um so grandioser zur Wirkung kam und das rote Licht gegen die wogenden Kulissen der Wolken warf, die schwer von Nässe sich über den höchsten Bäumen stauten.

War es denn möglich, Andreas Aust lächelte. Keine Täuschung, er beobachtete, wie das Feuer an den Eichen vorüberging, der Wind meinte es gnädig, der Bestand blieb verschont. Ein Dutzend vielleicht hatten sie geschlagen, aber über hundert standen noch im Choral des Wetters. Die Menschen waren geflüchtet, vor dem Blitz und vor dem Feuer, und vor dem Drohruf der Natur.

Andreas Aust lächelte, dann schloß er die Augen vor der andrängenden Hitze.

»Lieber Herrgott im Himmel, wenn ich hier verbrenne, so erbarme dich meines Weibes und meiner Kinder, sei ihnen Schutz und Zuflucht und leite sie gnädig durch die Irrnis dieses Lebens. Unser Vater in dem Himmel, dein Name werde geheiliget – – –«

Er betete laut und voll tiefer Inbrunst, er konnte nicht die Hände falten, aber er bog das Antlitz mit geschlossenen Augen gen Himmel und wartete, daß ihm ein Zeichen der Gnade käme und des Erbarmens.

Das Feuer kam näher, es fraß sich in die Bäume hinein, es gewann an Umfang und Freiheit, es stürmte in hellen Kavalkaden den Berg. Als der Mann am Kreuz des Waldes einmal die Augen aufschlug, sah er es wie eine geschlossene Mauer daherkommen.

Stärker fühlte er die Hitze, die wie ein unsichtbarer Vortrupp über ihn hinwehte, schon hing er im Gestöber der Funken, schon sah er die glühenden Fontänen vor sich aufsteigen.

Da fing ein wildes Kreisen an, das Feuer wurde zu einem Rad, das sich rasend drehte, ihm war, er wüchse mit dem Baum aus dem Irrsinn des Feuerrades heraus, er stiege empor über die gesetzlose Glut, immer höher und höher bis in das Gebirge der Wolken hinauf.

Er schrie, furchtbar schrie er in das Antlitz des Todes hinein, der im Flammenmantel des Feuers daherkam und voll Kälte war inmitten seiner glühenden Trabanten.

Er schrie nach Gott.

Mit der letzten Kraft seines geschundenen Körpers schrie er nach Gott.

»Herr und Gott im Himmel, warum hast du mich verlassen?« So schrie er.

378 Und Gott kam über die Meere des Himmels, auf einer Wolke kam er dahergesegelt, wunderlich groß und schweigsam stand er am Ruder, ein rätselvoller Steuermann durch das Schicksal der Welten.

Sein Schiff war eine nässeschwere Wolke, eine Sintflut von Wasser, von Blitzgezack und Donner.

Die schwarze Wolke stürzte mit schauriger Gewalt in den roten Wälderbrand. Das Feuer rückte gegen die entfesselten Wolken an, Element stand gegen Element, das Feuer kämpfte mit der ganzen Herrschsucht seiner einsamen Kraft, aber das Wasser setzte zu vernichtendem Gegenstoß an. Der überladene Himmel, von Blitzen zerspalten, von der Faust des großen Unsichtbaren zerschmettert, barst unter Dröhnen auseinander. Wassermassen verloren den letzten schwebenden Halt und stürzten in Abgrund und Schlucht. Der Sturm schleuderte neue Wolken gegen die Berge, ihre bleierne Schwere entlud sich über den Wäldern, Wasserfälle und Ströme ohne Damm brachen nieder, in den Katarakten der Wolkenbrüche geisterte der Hagel mit wütendem Prasseln. Sein jagendes Eisgestöber war die letzte Fanfare des Sieges.

Wie durch Zauberhand versank der Wetterspuk.

Zwischen dem fliehenden Sturm, zwischen den trunkenen Wolkenhaufen schwamm die Sonne.

Schon sangen die Vögel im Gezweig.

Sturzbäche, Furchen und Kanäle fressend, rauschten zu Tal, Schutt und Geröll taumelte in ihrem blasigen Schaum. Der Wald triefte von Nässe.

Odem von Wälderboden, von Pilz und Moos und Wurzelwachstum brach aus den Poren der Erde. Ein schwermütiger Glanz lag über den Bergen.

Es rauchte aus verkohltem Baumgetrümmer, in der Senke war alles zu Asche geworden, aber bergwärts standen noch hager die halb verbrannten Stämme, schwarz verkrümmte Pfähle des Grauens, die erst Halt machten vor einer Lärche, die einsam stand und die fürchterliche Walstatt voll Ergriffenheit überragte.

Und an der Lärche ein Mensch, an Stricken in rieselnder Nässe hängend, den Kopf vornübergebeugt, die triefenden Haare im Gesicht, die Augen geschlossen. –

– Es geschah ein Wunder im Walde.

Jemand kam über die Brandstätte daher und löste des Gekreuzigten Stricke, daß er frei stand und aufatmete im Strom des Windes.

379 Und der Unbekannte bedeutete Andreas Aust, in die Senke hinabzuschauen.

Und Andreas Aust tat, wie ihm geheißen, und er sah die Eichen stehen im Glanz des Lichtes.

Ein feierlicher Gesang wehte aus ihren Kronen zu ihm herauf und ihm war, als ob sich irgendwo Kirchentüren geöffnet hätten. –

– Nie hat Andreas Aust etwas gesagt, wer es war, der ihm die Stricke löste. Ein Hauer behauptete einmal, es sei ein Mensch gewesen in hohen Flößerstiefeln, mit einer grünen Jägerjoppe und mit fuchsroten Haaren. Nein, er täusche sich gewiß nicht, er habe diesen sonderbaren Menschen genau gesehen.

Es ist kein Verlaß auf die Aussage eines einzelnen. Wer Andreas Aust fragte, dem antwortete er: ich weiß es nicht.

 


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