Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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Jetzt brannte die Lampe im Haingeraidehaus, die Knaben schliefen, es war still draußen, als hielte die Welt den Atem an. Der Tag war mit dem Licht gewandert und mit der Zeit. Tag und Nacht kamen nie 214 zueinander, eine Ewigkeit lang wanderte das eine hinter dem andern her und war kein Ende abzusehen des Wanderns.

Tag und Nacht strichen über die Menschen hinweg wie Scheinwerfer und Schattenwerfer, das Wachsein zaubernd und die Träume.

Und der Tag gehörte dem Verstand, die Nacht aber dem Herzen. Daher man sich leichter offenbarte, wenn die Dunkelheit zum Helfer wurde und zum Türöffner der menschlichen Brust.

Nein, der Förster Andreas Aust hatte es nicht gewußt, was Frau Gertrud ihm in dieser Nacht erzählte, wie auch hätte er es wissen sollen, da doch seine eigene Herkunft dunkel war und voll Wirrnis. Was wußte er denn von seinen Eltern und von der Zeit, da er, ein träumender Knabe, aus dem verkohlten Labyrinth des brennenden Waldes gekommen war, um diese Eltern zu suchen im letzten Rest der geschändeten Heimat? Was wußte er von jener Zeit, da die stille Frau ihm wie eine Mutter gewesen war und jener fremde Mann sich als sein Vater ausgegeben hatte!!

Er wußte nur, daß seine Eltern erschlagen waren, daß viele tote Soldaten im Schnee der Wälder lagen und daß er den Kaiser Napoleon irgendwo auf einem weißen Pferd gesehen hatte, begleitet von riesigen Vögeln, die über seinem Haupte schwebten.

Nein, Andreas Aust wußte nicht, daß die Frau, die ihm wie eine Mutter gewesen war, später ein Kind mit welschem Blut geboren hatte; wie hätte er es wissen sollen, man fand später nicht Zeit, zurückzudenken und aufzuhellen, was besser verhüllt bliebe.

Gut denn, ein alter Schulmeister, getrieben, sich das Leid seines Lebens von der Seele zu wälzen und Marksteine eines Erdenwallens festzuhalten, gut denn, ein solcher Schulmeister hatte aufgeschrieben, wessen Art sein Schicksal und das seiner Kinder gewesen war. Nüchtern hatte er diese Aufzeichnungen gemacht und ohne irgendwelchen Urteilsspruch. Den Tod von Menschen hatte er in trockenen Sätzen mitgeteilt, etwa in diesen, wie sie Frau Gertrud hier vorlas beim gelben Lampenschein, während die Nacht hinter dem Tag herwanderte und der Tag hinter der Nacht, immer wieder und ohne Ende.

›Am einundzwanzigsten Oktober achtzehnhundertundzwölf hat der Kaiser Napoleon zu den Garden geholt meinen Schwiegersohn Friedrich Lang, Mann meiner Tochter Magdalena. Ist fortgezogen des Nachts, sind nach Rußland marschieret. Ob er wiederkehret zu Frau und Kind, das stehet in Gottes Hand.

Hab ja noch zwei Söhne, wovon einer, Peter geheißen, heimlich 215 fort ist und zum Condé gegangen, wider den Korsen zu fechten. Weiß nur der Himmlische, wo er mag verblieben sein. Wovon der zweite, Robert geheißen, nicht handelt nach meinem Sinn, sondern ein Schwärmer ist, der es mit dem burgundischen Reich hält und die rote Kokarde trägt. Ist ein Narr, daß er glaubet, das Glück könne von den Jakobinern kommen und Sansculotten. Sind aber alle von Gott geführet und vom Teufel.‹ –

Er war nicht wiedergekommen, der Gardist Friedrich Lang, Vater der Frau Gertrud, nur Gott könnte heute noch sagen, wo er geblieben war, verhungert und erfroren in den Schneewüsten Rußlands.

Kein Urteil, dachte der Förster Aust, und kein Murren, wider Gott nicht und nicht wider die Menschen. Es mußte ein jeder seine Straße allein gehen in diesem Leben, war keiner da, der mit ihm gleiches Ziel gehabt hätte.

Lies weiter, was hier steht, mit zitternder Hand geschrieben, vielleicht mit Tränen benetzt, jenen glitzernden Gebilden, die ein Vorrecht der Menschen sind, weil unter allen Kreaturen sie allein genügend Ursache finden, zu weinen.

›Am einunddreißigsten Dezember achtzehnhundertunddreizehn kam ein gar trauriger Kondukt in unser Dorf und machte Halt vor meinem Hause. War ein Bauernwagen aus Sandheim und brachte mir meine Söhne Peter und Robert heim, waren beide tot und lagen nahe beieinander, wie sie im Leben nie so nahe beieinander gewesen waren. Hat der Bruder den Bruder erschossen und sich dann selber gerichtet. Nunmehr kamen sie heim, von Kosaken geleitet, war kalt und nebelig, aber davon spürten sie nichts mehr.

Haben sie zusammen in die Grube gelegt, den Peter mit der Uniform der Sementschenko-Kosaken und neben ihn den Robert; der himmlische Gott gebe ihnen im Tod den Frieden, den sie im Leben nicht gefunden haben. Wie wir alle ihn nicht finden, weil wir im Grenzland leben zwischen den Völkern, und sind doch zu Hause hier und daheim und wollen bleiben und nicht auswandern übers Wasser, wie viele es getan haben, weil sie nichts mehr ihr eigen nannten, als das nackte Leben. Bleibt mir nicht mehr viel, Herr im Himmel, darf aber nicht verzagen, sintemalen im Frühjahr der Acker bestellt sein muß, die Wiese und der kleine Wingert im Gäu. Was verbliebe dem Menschen, so er die Hoffnung verlöre?‹

Schwer, was einem einzelnen aufgebürdet war, und ist dennoch einundneunzig Jahre alt geworden, das war ja so, als ob das Leid 216 einen Menschen am Leben hielte, mehr als Glück und Wohlleben und Tage ohne Sorgen.

Der Bruder hatte den Bruder getötet, die Welt war nicht stehengeblieben, Gott hatte nicht gemurrt, er war still geblieben über den Wolken. Kein Urteil also und keine Verdammnis; wer in diesem Menschenleben war so rein, daß er, vor sich selber wie vor einen Spiegel gestellt, ohne Makel bliebe und sich freisprechen dürfte vor der Unbestechlichkeit des Gewissens!?

Kein Murren, denn wie käme es einem Menschen zu, aufzubegehren, wo Gott geschwiegen hatte!

Lies weiter, Gertrud, was hier geschrieben steht mit zitternder Hand, welch ein Wunder, daß ein Mensch die Kraft fand, in Worte zu fassen, was doch wortlos kaum zu tragen war. Lies es und bleibe stark, und bedenke, daß dieser stärker sein mußte, die Bürde seines Schicksals zu tragen. Es ist eine gute Stunde, sich Klarheit zu schaffen, jetzt, wo es still um uns ist, wo die Nacht an uns vorbeigeht, immer hinter dem Tag her, unaufhörliches Kreisen ohne Anfang und Ende.

So mußte es wohl sein im Rätsel der Welt, es war alles Kreis, es war kein Ausgang und kein Ziel, Aufgang mündet in Niedergang und Niedergang in Aufgang, es war nirgends ein Haltepunkt, denn ein Kreis ist ohne Anfang und Ende, ist ein Sinnbild der Ewigkeit.

Das Geschriebene verharrt, es macht den rasenden Kreislauf der Jahre nicht mit, das Geschriebene ist neben der Zeit, bleibt heute, was es vor tausend Jahren gewesen ist.

Es sollte daher wohl überlegt werden, was man niederschreibt und wie man einen ruhenden Stein neben die Flucht der Gezeiten stellt. Seht, dieser Schulmeister zeichnete auf, was einzig und allein Bestand hat: Gerippe eines unerhörten Menschenschicksals.

›Am heutigen Tag, den zwölften Januar achtzehnhundertvierzehn, habe ich Nachricht erhalten, wo meine Tochter Magdalena verblieben ist, welche hat müssen flüchten, da man sie sonst füsilieret hätte ohn Gnad und Barmherzigkeit, indem sie im Dienste russischer Parteigänger gewesen ist, so vom Korps Wittgenstein sind gewesen, bei Fort Louis über den Rhein setzeten, um als Streifkorps hinter der Armee Marmont zu operieren. Besagte Parteigänger, des Landes unkundig, hat meine Tochter Magdalena, deren Mann in Rußland verblieben, hinter die französischen Linien geführt. Hat der eigene Bruder sie verraten, Gott vergebe ihm die Sünde, so sie 217 flüchtig gehen mußte in die Wälder der Haingeraide, allwo sie, wie mir heute Kunde wurde, Unterschlupf gefunden hat in einem Försterhaus, wo die Försterleute erschlagen sind und der Wald weithin durch Feuer zerstört. Will kein Ende nehmen des Schreckens, müssen aber Gott auf den Knien danken, daß er uns den Franzos aus dem Land gebracht hat und wir wieder sollen Deutsche werden, was wir immer gewesen sind, nur etzliche Hitzköpfe nicht und die Meute derer, so sich bereichern und in Amt und Würden bringen am Elend des Vaterlandes. Wollen nur von Gott erflehen, daß der Kosak und Kalmücke, so im Land ist, nicht barbarischer hause, denn der Franzos, als welcher uns kaum das nackte Leben gelassen hat.‹

Seltsam war der Zauber einer Stimme, die leise und einförmig, fast als ob sie ein Gebet murmelte, die Vergangenheit beschwor und einen niederen Raum wundersam bevölkerte mit auferstandenen Toten, die schattengleich in das Lichterspiel der Bergnacht traten und ihr Geheimnis preisgaben. Seltsam der Zauber einer Stimme, die klingende Saite war in einem Haus, das Schauplatz gewesen war dessen, was diese Stimme an Geschehnissen verkündete und gespensterhaft wiedererstehen ließ, also daß der Raum ganz erfüllt war von einem fernen Brausen, das über der Stille schwang und zum Echo der Vergangenheit wurde.

Der Wald hatte sein eigenes Leben und seine wundersamen Geheimnisse, das wußte der Förster Andreas Aust, es war nicht so, daß der Wald sich jedem mitteilte, der in seine Dämmerstunde eintrat; bewahre, es bedurfte vieler Jahre, bis man endlich staunend seinen ersten Herzschlag verspürte.

Nein, der Wald verschenkte sich nicht, er war auch schwer zu finden, man durfte nur nicht müde werden, ihn zu suchen.

Hatte es nicht ihn, den Förster Andreas Aust, schon gerufen, manchmal zwischen Nebelfall und Nässerieseln, während die Schleier zwischen den Stämmen geisterten und alles Starre unheimlich bewegt wurde?! War dann nicht die Stille zum geheimen Laut geworden und zum hintergründigen Ruf, und schien es nicht, als wäre die Einsamkeit zwischen den lebendigen Pfeilern bevölkert von den unsichtbaren Trabanten jenes zweiten Lebens, das nur manchmal und auch dann verstohlen an uns rührte mit der tastenden Spitze eines Zeigefingers?

Heda, rannte dieses zweite Leben, hier bin ich, dies ist mein Finger, der dich berührt, denke nach über mich, ich will zu gegebener Stunde 218 wiederkommen. Einmal aber werde ich ganz bei dir sein und alle Schleier von mir nehmen, dann werden wir zusammenbleiben und ineinander überströmen. Es wird sein, als schautest du in einen klaren Wassertümpel und begegnetest dort dir selber, um nun, deinem zweiten Ich im Wasser dich immer mehr nähernd, mit ihm dich zu vereinen und vollends zu zerrinnen. Solche Verbrüderung nennt der Mensch Tod, denke daran jedesmal, wenn ich dich berühre mit der Spitze meines Fingers.

Es war so, der Wald gab Verborgenes preis, der Wald summte und plauderte ein Endlein Rätsel aus, was aber nur dem Waldbewohner hörbar war und keinem andern, das wußte der Förster Aust, denn er gehörte dem Wald wie keiner im Umkreis, die feurige Lohe, aus der er gekommen war, hatte ihm das Zeichen eingebrannt.

Vieles hat der Schulmeister aufgezeichnet in den fliehenden Jahren, es muß einer lange lesen, um damit fertig zu werden, wir wollen es dir danken, daß du als Toter Reinheit schaffst unter den Lebendigen.

›Am sechsundzwanzigsten September des Jahres achtzehnhundertundvierzehn gebar meine Tochter Magdalena, so bei mir im Hause wohnte, ein Töchterlein, das wir später auf den Namen Martha tauften. Es starb aber die Mutter im Bett der Wehen, Gott sei ihrer armen Seele gnädig. Zuvor sie mir ein Geheimnis anvertrauete, das ich aber um des Kindes willen niemand sollte mitteilen, nämlich daß es einen welschen Vater habe, einen französischen Douanier, Martin Laroche geheißen. Selbiger habe sich für den Förster Peter Aust in der Haingeraide ausgegeben und mit ihr einige Tage zusammen gehauset dazumalen, als sie auf der Flucht vor der Garde mobile gewesen sei. Sie habe auch gebetet jegliche Nacht, daß ihr Kind sollte ein guter Mensch werden und keiner von den Zweiblütigen, die weder hüben noch drüben eine Heimat haben. Und solle auch ich, ihr Vater, die Jungfrau anflehen, daß ihre Kinder geführet würden unter Gottes Schirm und Schutz, insonderheit man sich dieses Kindes annehmen solle, auf dem die Sünde laste, auf daß diese Sünde von ihm genommen werde und man nicht sagen müsse, besser, es wäre nie geboren worden.‹

Der Förster Andreas Aust war aufgestanden, fast hager stand er im Dämmerlicht des Zimmers, staunend und ergriffen, wie bewegt und zerfurcht ein Menschenleben sein könne und wie die Tragödie eines Landes hinübergreife auf das Schicksal seiner Bewohner als mit ihm unlösbar verbunden.

219 Und in diesem Augenblick sah er deutlich den Fremden, jenen französischen Holzsachverständigen, der an ihm vorübergegangen war und ihn angeschaut hatte wie einer, der seine Gedanken verbergen muß.

War es nur ein Zufall, daß dieser Franzose auch Laroche hieß oder gab es Zusammenhänge, die sich erst offenbaren mußten? Spannten sich zwischen Martha Huß, der welschen Schwester seiner Frau, und dem verdächtigen Franzosen unsichtbare Fäden?!

Gertrud Aust trat zum Fenster und öffnete, um den Duft des Waldes hereinzulassen.

Da erschienen, schreckhaft hingezaubert und nur schwach beleuchtet, zwei Gesichter im dunklen Rahmen.

»Martha!« stieß die Försterfrau erschrocken hervor und trat einen Schritt zurück. Was sie sah, war wie eine hexenhafte Spiegelung.

Im Dunkeln standen Martha Huß und der Franzose Laroche, und als das gelbe Lampenlicht ihre Gesichter traf, war eine unheimliche, fast gespenstische Ähnlichkeit zu erkennen. Die gleichen Augen, der gleiche mißtrauisch abwägende Blick, die gleichen stahlig glänzenden schwarzen Haare.

Martha Huß, ein wenig verstört, deutete nach rückwärts, wo ein Pferd mit einem Zweiradwagen stand, und sprach mit einer Stimme, die vor Erregung zitterte.

»Wir haben uns verirrt, Gertrud, darf ich wohl zu euch hineinkommen?«

»Kommt beide herein«, antwortete Frau Gertrud benommen.

Sie trat vom Fenster zurück und ging zur Tür, dabei schaute sie ihren Mann fragend an.

Die beiden kamen ins Zimmer, der Franzose blieb eine Weile zögernd unter der Tür stehen, als besäße er kein Recht, diese Räume zu betreten.

»A votre permission!«

»Kommen Sie herein!« Der Förster trat auf ihn zu, die Hündin Flora schlich grollend näher und beschnupperte argwöhnisch den späten Gast.

Der Franzose blieb mitten im Raum stehen und das Dämmerlicht der beschirmten Lampe warf Schatten über ihn, er schaute sich um mit einem grüblerisch suchenden Blick. ›Dies ist ein unfaßbares Schattenspiel‹, dachte der Förster, ›vielleicht hat hier auch sein Vater gestanden, genau so mißtrauisch und spähend, von einem dünnen Licht umflossen, genau so suchend und mit schwarzen Gedanken hinter der Stirn, genau so von dieser unbeschreiblichen Fremdheit umhüllt.‹

220 »Ihr habt euch verirrt«, fragte Gertrud, »wie ist das denn möglich?«

Marthas Blick war unstet, sie strich die ungeordneten Haare zurecht und schaute den Franzosen von der Seite furchtsam an.

»Wir waren in Erlenbach bei meines Mannes Eltern und wollten über die Anhöhe zurück, da habe ich im Dunkeln den Weg verloren.«

Gertrud wußte, daß dies nicht die Wahrheit war, ihre Schwester kannte genau Wege und Stege, sie hätte bei tiefster Finsternis nach Hause gefunden, auch das Pferd wäre mit verhängten Zügeln auf dem kürzesten Weg in den Stall gelaufen. Die Lüge, die sie sprach, stand verräterisch auf den brennenden Wangen.

Nein, da mußte etwas anderes sein; wie war es überhaupt zu begreifen, daß der Sägemüller seine Frau allein mit einem fremden Menschen in den Wäldern umherkutschieren ließ! War es denn möglich, daß ein Mann um schnöden Vorteils willen seine eigene Frau ausspielte?!

»Wollen Sie sich nicht setzen?« sprach Andreas Aust; »ich könnte mir vorstellen, daß Sie sich hier so halb zu Hause fühlen.«

Der Franzose erfaßte nicht die Anspielung, die hinter diesem Satz stand; er lächelte verbindlich und wehrte ab.

»Non non, wir wollen nix länger bleiben, wir aben eine kleine Verirrung gemakt, eine falsche Weg. Das sein nix gutt, wenn wir nach Hause kommen su spät.«

Er ging langsam zum Tisch und sah das aufgeschlagene Tagebuch liegen. Es war fast, als ob ein Unsichtbarer ihn zu dem Buch getrieben hätte, das im Lampenlicht lag.

»Wir aben Sie gestört im Schreiben, vous excusez – –«

Er beugte sich über das Buch, richtete sich aber sofort wieder auf und trat zurück, heimlich erschrocken und mit dem ewigen Mißtrauen im Gesicht. Er hatte blitzhaft kurz seinen Namen gelesen.

Martha Huß folgte einer plötzlichen Eingebung, sie wollte nach der Handschrift greisen, da hielt die Försterfrau sie am Arm zurück.

Es waren Augenblicke voll eigentümlicher Spannung, der Förster runzelte die Stirn und beobachtete scharf den Franzosen.

Martha schaute den Fremden plötzlich an, ihre Blicke begegneten sich, Martha senkte die Lider. Dies war ein unheimliches Zusammentreffen. Zwei Menschen, von einem Schicksal geführt, begegneten einander in einer alten Handschrift. Da nahm auch Gertrud schon das Buch und verschloß es im Sekretär. Sie tat es mit unbewußter Eile 221 und weil sie für etwas fürchtete, das sie im Augenblick sich selbst nicht erklären konnte.

Martha Huß hatte einen argwöhnischen Blick.

»Man könnte glauben, es enthielte ein Geheimnis.«

Als Gertrud das Zimmer verließ, folgte ihr Martha nach, draußen verlor sie den Rest von Beherrschung, es brach elementar aus ihr hervor.

»Du mußt mich hierbehalten, Gertrud, ich fürchte mich vor dem Menschen, ich kann mit ihm nicht in der Nacht durch den einsamen Wald fahren.«

Gertrud schaute sie voll an und antwortete verwundert, sie begreife nicht, daß Martha überhaupt mit einem fremden Menschen allein in den Wäldern umherstreife, noch dazu nachts und in einer Gegend, wo weit und breit kein Haus sei.

»Daß du dich verirrt hast, ist eine Lüge, Martha; du kennst den Wald.«

»Ja, ich habe gelogen. Ich wollte zum Forsthaus, um hier zu bleiben, weil diese furchtbare Angst mich packte. Begreifst du das denn nicht, Gertrud, wenn einem plötzlich das Herz bis zum Hals schlägt, wenn man schreien möchte, weil man weiß, daß etwas Schreckliches geschehen muß?«

Sie kam auf Gertrud zu und preßte beide Hände gegen die Schläfen. Wie vor einem drohenden Hieb zog sie den Kopf ein und die Schultern hoch.

»Mein Mann geht ja noch so weit, daß er mich verschachert, nur um Vorteil daraus zu ziehen. Er schickt mich wie eine Dirne – – aber ich bin doch keine Dirne, Gertrud.«

Tränen traten in ihre Augen.

»Du wirst doch nicht glauben, daß ich lasterhaft bin?«

Sie schaute furchtsam aus, eine häßliche Vorstellung trat aufdringlich vor sie hin.

»Er weiß nicht, wie gefährlich sein Ansinnen ist. Wenn man zu lange mit dem Feuer spielt, dann fängt das einmal zu brennen an. Ich habe solche Furcht vor dem Franzosen und vor mir selber.«

»Hat er dir denn etwas getan?«

»Nichts hat er mir getan bis jetzt, aber er wird es versuchen, das weiß ich bestimmt. Wenn ich mit ihm nach Hause führe, würde er es versuchen, und ich – –«

»– – und du?!«

222 Martha umschlang die Schwester, ihr Herz hämmerte, sie schaute von unten herauf mit einem wilden Blick; ihr Mund, feucht und rot glänzend, war halb geöffnet. Sie war hemmungslos und voll bebender Not.

»Und ich?! Gertrud, ich weiß nicht, ob ich mich wehren würde, es ist etwas in mir, als ob ich ihm ganz verfallen wäre, als ob ein geheimes Band zwischen uns beiden sich spannte. Das zieht mich zu ihm hin und stößt mich von ihm ab, kannst du das verstehen? Er hat mich in seiner Gewalt, ohne daß ich es weiß und mich dagegen wehren kann. Als ob ein Teufel uns zusammengeführt hätte.«

Sie hing sich ganz an die Schwester, die schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht, ein Strom von Wärme und Leidenschaft brach aus ihr hervor, ihr Atem floh in Stößen aus dem offenen Mund.

»Wenn es geschähe, Gertrud – – wenn es – – geschähe, es wäre mein Tod.«

»Bist du von Sinnen, Martha? Du weißt nicht, was du sagst.«

»Nein, es darf nicht geschehen, mein Mann ahnt nicht, wie verflucht nahe er mich an den Abgrund schickt. Ein Schritt nur und ich stürze.«

»Komm hinein, Martha, ich will sagen, daß du die Nacht hierbleibst.«

»Nein, ich gehe nicht mehr hinein, ich will ihn jetzt nicht sehen, ich muß hinausschreien, wenn ich ihn sehe. Laß mich hinaus in dein Schlafzimmer, bis er fortgegangen ist. Schickt ihn fort, Andreas soll ihm den Weg zeigen. Das Pferd findet allein nach Hause.«

Sie wollte leise die Stiege hinaufgehen, da blieb sie noch einmal stehen, es fiel ihr etwas ein, sie strich sich mit der flachen Hand über die Stirn und warf den Kopf nach hinten.

»Warum hast du das Buch so merkwürdig schnell eingeschlossen? Was für ein Buch ist es, Gertrud?«

»Es ist nichts, Martha, ich wollte nicht, daß der Franzose –«

»Aber etwas stimmt nicht mit dem Buch. Vielleicht hast du mir etwas zu verheimlichen? Doch, du verbirgst mir etwas.«

»Ich habe dir nichts zu verheimlichen, Martha. Geh hinauf, schlafen.«

»Wer mit einem Makel herumläuft, wie ich, der ist immer argwöhnisch. Meine verborgene Schande läuft wie mein Schatten mit mir herum und verläßt mich nicht. Ich bin gezeichnet, ich weiß nur nicht, wie. Manchmal nachts tritt es vor mich hin und steht riesengroß da, wenn ich mich aber aufrichte im Bett, ist es fort. Ich kann nicht 223 schlafen, nachts ist alles viel größer und schwärzer. Und mein Kind hat rote Haare und Sommersprossen, und quält die Tiere.«

Sie wollte nach oben gehen, da wurde die Tür geöffnet und der Franzose kam heraus.

Martha prallte zurück, sie stand auf halber Treppe, reglos und mit starren Augen. Mit den Händen griff sie rückwärts nach einem Halt. Sie fröstelte, es rieselte kalt über ihren Körper.

Das Dunkel verhüllte beide fast ganz, sie sahen nur gegenseitig ihre schattenhaften Umrisse. Martha hielt den Atem an, sie fühlte, wie ihre Hände feucht wurden vor Erregung.

»Ich komme – – nicht mit!« hauchte sie und ging rückwärts tastend die Treppe hinauf, »nein, ich komme nicht mit, sagen Sie unten, daß – – ich im Försterhaus geblieben bin. Ich bin – – zu müde, viel zu müde!«

Sie stand oben gegen die Wand gelehnt, sie schaute sich fragend um, von einem dunklen Gefühl überfallen.

»Mir ist manchmal, als – – ob – – ich hier zu Hause wäre.«

Sie suchte im Dunkeln nach einer Türklinke, sie lauschte noch einmal und hörte ihn rufen, seine Stimme drang kalt und klar zu ihr herauf.

»Aber, madame, kommen Sie, ne restez pas! Was werden sagen monsieur le directeur Uß!«

Leise öffnete sie die Tür, auf den Zehenspitzen schlich sie ins Zimmer, sie wollte etwas Sinnloses ins Leere stammeln, da hörte sie die ruhigen Atemzüge der Knaben. Reglos blieb sie stehen, jeden Schlag ihres Herzens hörte sie im Hals, im Kopf, an den Schläfen.

Ihr Körper, unsichtbar entzündet, brannte wie eine Fackel. Das Fenster war offen, sie schlich näher und spähte hinab. Im Zwielicht der Nacht sah sie den Förster Aust und den Franzosen Laroche in den Wagen steigen, die Hündin Flora sprang hinterher und setzte sich zwischen die beiden. Dann zog das Pferd an.

Martha sank langsam am Fenster nieder, sie griff noch nach einem Halt, ihre Hände krallten sich am Holz des Fensterrahmens fest.

»Ich liebe ihn nicht«, stöhnte sie, »Gott ist mein Zeuge, daß ich ihn nicht liebe! Es ist etwas ganz anderes. Ist denn niemand da, der mir sagen kann, was es ist?! Lieber Gott im Himmel, ich bin nicht lasterhaft!«

Ihr Kopf schlug gegen die Wand, der Schmerz brach in wilden Stößen aus ihrem Körper. 224

 


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