Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13

Am gleichen Tag wollte der alte Pfau seinen Siegeszug durch die Rheinlande beginnen, die erste gewaltige Interpellation war mit großem Pomp und einem schillernden Reklameapparat angesagt. Während die französischen Sûreté-Beamten nach dem Fähnlein der Aufrechten fahndeten, sie mittelalterlichen Folterungen unterwarfen und mit den Reitpeitschen um sich schlugen; während wehrlose Gefangene so unmenschlich gefoltert wurden, daß sie wochenlang in Wasser gebettet liegen mußten; während Familien vertrieben, Gelder erpreßt, Wohnungen ausgeraubt und alte Keller in Gefängnisse für Deutsche umgewandelt wurden; während ein höherer Kriminalbeamter einem Studenten, den er fünf Tage hatte hungern lassen, erklärte, er werde ihn nach Cayenne verschicken lassen, dort könne er an den Knochen seiner Kameraden nagen; während dieser Taten einer 580 Kulturnation besaß Maurice Barrès, der alte Pfau, die Großmannsucht, das linke Rheinufer durch die Magie seines Geistes zu erobern.

An diesem Tage auch traf der kleine General in Germersheim zufällig mit dem Capitaine Marcel Foreste zusammen.

»Hier ist meine Republik!« sprach er lächelnd, »der Erfolg entscheidet!«

»Aber der Enderfolg!« antwortete lakonisch der Capitaine.

Und wiederum am gleichen Tage reiste der Präsident der Autonomen Pfalz, der Marquis d'Orbis, ins Rheinland. Er wohnte dort auf einem Gut, wo eine Frau schlaflose Nächte seinetwegen verbrachte. Nun gut, er war ein großer und stattlicher Mann, er trug einen rotblonden Bart und eine sonderbare Pelzmütze, er war brutal und hatte interessant kalte Augen. Die Hysterie dieser Frau ging so weit, daß sie behauptete, sie könnte, wenn ein Mensch bald sterben müßte, den Tod in seinen Augen voraussehen. Der Präsident fuhr, nachdem er eine Nacht auf dem Gut verbracht hatte, zur großen Rheinlandinterpellation. Aber die Rheinlandinterpellation fand nicht statt. Gott hatte eine kleine Handbewegung gemacht.

Am Bett des Dichters und Staatsmannes standen drei Ärzte.

Der große Kammerredner, der Mann, der das Chaos unter versklavten Menschen gewünscht hatte, rang mühsam nach Luft. Die Fenster mußten geöffnet werden, die Ärzte richteten ihn hoch, er sah glasig aus und grau, der Tod hatte ihn geschminkt.

Er hatte am 7. Dezember 1923 ein prunkvolles Begängnis.

Niemand fühlte in den schwersten Tagen, daß diesem Tod eine ungeheure Bedeutung zukam. Er war wie ein erhobener Zeigefinger.

Der Präsident fuhr nach Speyer zurück, er hatte vorgehabt, diese tolle Frau noch einmal zu besuchen, aber er vermied es jetzt, wer weiß, was diese Törin aus seinen Augen herausgelesen hätte. Er kam nachts an, in seinem Zimmer im Wittelsbacher Hof stellte er sich vor den Spiegel und brachte sein Gesicht nahe an die Scheibe heran. Forschend schaute er in seine eigenen Augen hinein, aber da kam nichts heraus als Kälte und Entschlossenheit.

Ihm fiel ein, daß er nicht einmal ein Testament gemacht hatte. Verrückte Vorstellungen, verfluchte Weiber!

Der kleine General konnte nicht schlafen, er saß bis spät in die Nacht hinein in seinem Privatbüro und grübelte.

Der Erfolg ist da, hatte er zu diesem Schwärmer Foreste gesagt. Und was hatte der Schwärmer geantwortet? Drei Worte nur. Nicht 581 der Enderfolg. Was sollte das überhaupt heißen, waren das nicht Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien?! Schließlich gab es niemals einen Enderfolg, der zeigte sich erst bei Sintflut und Weltuntergang.

Der kleine General trat vor das Bildnis des Kardinals.

Sie schauten sich gegenseitig an. Dem General war plötzlich, als ob der Kardinal sich verändert hätte, in den Augen lagen Schatten, der Mund war skeptischer geworden.

»Maurice Barrès est mort!« sprach er zu dem Bild hinauf. Wo war die Kognakflasche?

Ja, der alte Pfau war tot.

Stand ein anderer hinter seinem Grab?!

Verflucht schnell ging es mit dem Sterben.

Kognak. Marcel Foreste. Schwärmer. Verständigung hatte der Narr gesagt. Verständigung zwischen einer Katze und einer Maus.

Konnte vielleicht jemals aus einer Maus eine Katze und aus der Katze die Maus werden?

Ha ha ha ha. Verständigung. Wo also beginnt die Verständigung? Beim Verzichten, nicht beim Fordern!

Voilà un bon mot.

Kognak.

Ich habe schwere Träume, aber niemand soll mir mit dem Gewissen kommen. Ich darf kein Gewissen haben, ein Instrument hat kein Gewissen, merken Sie sich das, Foreste. Hier steht Frankreich! –

– Einige Tage später geschah die schwarze Tat an dem fünfzehnjährigen Bernhard Hagen, dem zweiten Sohn Dietrich Hagens. Der Knabe hatte im Dienst der Selbstschutzorganisation Flugblätter, die jener Buchdrucker Binder, der den Überfall der »Fliegenden Ems« auf das Berghaussche Gut miterlebt hatte, fortlaufend im geheimen druckte, zur Verteilung gebracht.

Beim vierten Mal war der Verrat hinter ihm her, er wurde ertappt, es gelang ihm aber, zu flüchten. Sein Vater brachte ihn nachts auf dem Dreibord über den Rhein ins Badische, wo er weiterhin bei der Abwehrstelle tätig war. Er war ein Knabe; das Heimweh trieb ihn zurück, er schwamm in der Dezemberkälte über den Rhein, nur um eine Nacht zu Hause schlafen zu können. Ein Denunziant hatte ihn gesehen, er stiftete ein Kind an, ihn zu verraten. Marlena, die zehnjährige Tochter eines Aalfischers, der oberhalb Speyer seinen Schokker hatte, verriet ihn. Als die Sepas in die Wohnung Hagens eindrangen, konnte der Knabe mit dem Vater durch den Garten 582 entweichen. Sie flüchteten in das Dickicht der Rheinwälder, verfolgt von den Separatisten. Dietrich Hagen riß den Dreibord von der Kette und wollte den Knaben über den Rhein bringen. Es war zu spät, schon kamen die Verfolger hart hinter ihnen her. Der Knabe warf sich in den Strom, er strebte dem offenen Wasser zu, er schwamm in den freien Rhein hinaus und kämpfte gegen die Strudel. Der Vater ruderte im Dreibord hinterher. Da kam die Lichtsense vom Zollboot. Im Scheinwerferlicht tauchten die Separatisten und dann der schwimmende Knabe auf. Ein Schuß, zwei Schuß, der Knabe versank und tauchte wieder auf. Noch schwamm er mit Mühe und letzter Kraft. Der Vater zog ihn aus dem Wasser, immer noch fielen Schüsse, aber die beiden strebten dem badischen Ufer zu, es war schwer, denn die Schiffbrücke war nahe.

Der Vater trug den Knaben an Land, er legte ihn auf den Damm, und dann rief er ihn beim Namen.

Er schlug noch einmal die Augen auf, dann starb er.

Als der Vater aufschaute, stand der Kommandeur des Patrouillenbootes vor ihm. In der Dunkelheit erkannte er ihn, es war Marcel Foreste.

»Wir sind einander nicht fremd, monsieur le Capitaine. Ich will nicht vergessen, was Sie für uns getan haben, für Richard Aust und Ringeis und den Buchdrucker Binder aus Neustadt.«

Foreste beugte sich nieder.

»Was ist mit dem Knaben, Dietrich Hagen?«

»Er ist tot, Marcel Foreste.«

»Wer ist der Knabe?«

»Mein Kind, Marcel Foreste. Der Scheinwerfer – –!«

»Der Scheinwerfer – –?!«

Foreste schwieg, er wandte sich langsam um und schaute nach dem Patrouillenboot, das mit laufender Maschine an einem Brückenjoch festgemacht hatte.

»Ich habe das nicht gewollt, Dietrich Hagen.«

Und plötzlich, übermannt von der fürchterlichen Düsternis dieser Stunde, stieß er beide Arme beschwörend in die Luft, der Abscheu würgte ihm die Kehle, es brach sich gewaltsam Bahn aus seinem Innern, wie eine Flamme loderte es aus ihm heraus. Er schrie in die Nacht hinein.

»Wie ich das alles verfluche! Wie ich mich ekle, – – ekle!!«

Dietrich Hagen legte ihm eine Hand auf die Schulter.

583 »Sie haben keine Schuld, Marcel Foreste, wir sind nichts als getriebene Menschen, die Opfer eines Wahnsinns.«

»Ist denn keiner da, der dieses Völkergift vernichtet!«

Wieder beugte er sich nieder zu dem toten Knaben, er strich ihm die nassen Haare aus dem Gesicht, er nahm den Kopf in beide Hände und versuchte, in der Dunkelheit die erloschenen Züge zu erkennen.

›Ich darf nicht weinen‹, dachte er, ›es wäre eine Schande für einen Soldaten, ich habe in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern viele tausend Tote gesehen, mich darf der tote Knabe nicht erschüttern.‹

Langsam erhob er sich, er war still und gefaßt, eine düstere Ahnung hatte ihn gepackt. Ihm war, er könnte mit seherischer Kraft sein Schicksal auf den dunklen Hintergrund dieser schwermütigen Nacht zaubern.

»Mein Freund!« sprach ergriffen der Franzose und umarmte den Deutschen. »Ich glaube, ich werde Frankreich nicht mehr sehen.«

So standen sie einige Sekunden lang in der Nacht, zwei Menschenbrüder. –

Dietrich Hagen blieb allein mit dem Toten bis zum ersten Frühlicht. Im Morgengrauen trug er den Knaben über die Schiffbrücke nach Hause. Der Brückenposten trat zurück, als er mit seiner trübseligen Last an ihm vorüberschritt. –

– Als Foreste die Zollräume in der kleinen Festungsstadt betrat, wollte ihn der Polizeichef Pistorius sprechen, und zwar in jener Angelegenheit rätselhaft verschwundener Häftlinge.

»Ich habe Nachtdienst gehabt«, sprach Foreste schroff, »wenden Sie sich an den Offizier vom Dienst.«

Er ließ ihn stehen und wollte den Raum verlassen, da sah er einen Sûreté-Beamten, dessen Gesicht ihm merkwürdig bekannt vorkam. Er trat auf ihn zu und schaute ihn scharf an.

»Woher kenne ich Sie?«

»Sie haben mich einmal zu Boden geschlagen, weil ich meine Pflicht tat.«

Foreste erkannte monsieur Batouche, er sah das brutale Gesicht, gedunsen vom Alkohol, er sah die feucht umränderten Augen und den haßerfüllten Blick. Eine sonderbar düstere Vorstellung nahm ihn gefangen, verschiedene Gedanken kreuzten sich in rascher Folge, es zog wie verhängte Bilder an ihm vorüber.

»Weil Sie Ihre Pflicht getan haben? Nein, weil Sie sich schändlich benommen haben. Sind Sie jetzt in diesem Revier?«

»Ja, ich bin beim Sepa-Fahndungsdienst.«

584 »Sepa-Fahndungsdienst?! Was haben wir damit zu tun?!«

Der Gendarm lächelte verschlagen, Foreste sah, daß er zwei Pistolen im Gürtel trug.

›Was für sonderbare Vorstellungen‹, dachte Foreste; ›natürlich, ich wollte an meine Mutter schreiben. Tage und Nächte im Fels. Eine neue Variante beim Dent Blanche. Madonna Maria – – Madonna Maria!‹

Vielleicht war er müde und abgespannt, weil ihm nun alles so durcheinanderlief. Ich gehe schlafen, beschloß er, ich will lange schlafen, im Schlaf ist man so schmerzlos, so ganz ohne schwarze Gedanken.

Aber er ging nicht schlafen, es trieb ihn ruhelos umher.

Madonna Maria, das Bild quälte ihn. Dann sah er den toten Knaben.

Er fuhr im Kraftwagen davon, durch das enge Queichtal, er kam zwischen den Wälderbergen hindurch und sah die verwitterten Sandsteinfelsen zwischen den Kiefern herauswachsen. Es müßte schön sein, hier einmal mit Richard zu klettern; kranker Stein, aber viele Griffe. Bei Rinnthal bog er rechts ein und fuhr durch das Wellbachtal nach dem Johanniskreuz. Es war nicht still in den Wäldern, er hörte überall Axthiebe und Sägegeräusche. Manchmal schlug es mit dumpfem Krachen an seine Ohren. Bäume stürzten. Es war trostlos in diesen Wäldern, naß und kalt und grau wie Tod.

Über Leimen fuhr er ins Tal hinunter, kam bei einem Forsthaus vorüber, fuhr durch das stille Dorf und sah die tote Sägemühle Gerhard Huß' liegen.

Nachmittags kam er nach Bergweiler, dort wurde ihm plötzlich leichter zumute, er wußte nicht warum. Als er aber das dreckige und verluderte Stationsgebäude sah, wo er einige Zeit gehaust hatte, wurde ihm übel vor Ekel. Auf dem Bahnsteig sah er vier Sepasoldaten stehen. Zwei von ihnen waren zerlumpt, sie hatten nicht mal ein Hemd an, die beiden andern aber trugen Uniformen, und zwar deutsche schwarze Militärmäntel, österreichische Mützen mit grünweißroten Mützenringen und französisches Lederzeug. Auf den Aufschlägen stand RR, was République Rhénane heißen sollte.

Foreste wandte sich ab. Warum war er denn eigentlich hierhergefahren in dieses gottverlassene Nest? Was wollte er in diesem Nebeltal, inmitten von Armut und Bedrücktheit, wo sich kahlgeschlagene Bergrücken fröstelnd zusammenschoben, wo in den letzten Wäldern 585 ringsum die Bäume stürzten und wo das Gespenst des Hungers umging?!

Er zögerte noch, was er beginnen sollte. Das beste, wieder in die Ebene hinauszufahren, an den Rhein, oder auch zwischen die Weinberge, wo die Menschen noch mehr Mut besaßen, weil der Wein lebendig war in den Fässern.

Er fuhr nicht in die Ebene hinaus. Er ging in ein bekanntes Haus hinein und stieg die elende alte Holztreppe hoch.

Als er in die dürftige Dachkammer trat, hörte er deutlich den rasenden Schlag seines Herzens. Es war ein wildes und ungestümes Klopfen.

›Madonna Maria‹, dachte er beklommen und sah, wie die junge Frau mit den dunkelblonden, gescheitelten Haaren ihm zögernd und erschrocken entgegentrat.

»Sie bringen mir eine schlechte Nachricht?« hauchte sie, und er sah, wie das Blut aus den Wangen trat. »Was ist mit Richard?«

»Ich bringe nichts, madame

»Nichts?!«

»Nein, nichts. Ich weiß nicht, warum ich gekommen bin.«

Maria Aust verstand ihn nicht, sie schob ihm einen Stuhl hin, aber er blieb vor ihr stehen und war ratlos, der friedliche Anblick schnürte ihm fast die Kehle zu.

»Ich wollte nicht hierherkommen, glauben Sie mir. Ich wollte weiterfahren, ja, das wollte ich. Jetzt stehe ich hier. Wo ist der Knabe?«

»In der Schule.«

Er wandte sich betreten um, er sah auch das Bild an der kahlen Wand hängen, er schaute in das offene Dachgebälk hinein, die Ziegel glitten an seinem wandernden Blick vorüber.

»Sie haben Feuer hier, das ist schön, das ist warm.«

Er hörte auf das Knistern des Holzes im kleinen Ofen, es roch nach Harz und Kiefernscheiten.

»Was wissen Sie von Richard?«

Foreste fuhr zusammen.

»Richard!«

Er sprach den Namen aus, als ob er Furcht davor hätte, als rüttelte er etwas in seinem Gewissen wach.

»Ich glaube, Richard wird bald zurückgerufen, er kann dann hier wieder seinen Dienst versehen. Es wird alles wieder gut, madame

586 »Wollen Sie sich denn nicht setzen?«

»Danke. Jetzt weiß ich auch, warum ich gekommen bin. Ich wollte hier ein wenig ausruhen, Sie werden das nicht begreifen.«

Er schaute sie an und war bewegt, weil hier ein Mensch zwischen Gerümpel hauste, der ihn so tief ergriff, was hatte sich denn nur ereignet? Immer in den Nächten war ihm die Frau erschienen, er hatte sie gesehen, genau wie sie hier vor ihm saß, mit diesem aufgeschlossenen Gesicht, mit den blauen Augen und dem blutvollen Mund.

Was war denn geschehen, warum trieb es ihn umher in diesem unglückseligen Land, warum stand er in der Kammer der Armut und Verlassenheit und fühlte die Nähe der Frau wie eine Gnade des Himmels! Rätselhafte Regungen einer Menschenbrust, die den fremden Soldaten bezwangen; die auftauchten aus einem Winkel der Seele und sich nicht mehr verjagen ließen.

Er nahm das Bild von der Wand und vertiefte sich in den Anblick. Wenn er damals im Gletscher geblieben wäre, dann hätte sich nichts geändert im Ablauf der Dinge und Ereignisse. Kein Rad wäre stehengeblieben, keine Minute dieser rasenden Zeit hätte den Atem angehalten. Aber etwas wäre nicht geschehen, die Begegnung mit der Frau des Freundes. Der Zwiespalt des Herzens wäre ihm erspart geblieben, der Kampf gegen die Flut der Gefühle, der niederträchtigen Vorstellungen und der frevelhaften Wünsche.

»Ich kann Ihnen keine Annehmlichkeiten hier bieten, Marcel Foreste, es ist dürftig genug, was Sie sehen. Vielleicht haben Sie mir etwas zu sagen.«

»Ich hätte Ihnen viel zu sagen.«

»Wenn es meinen Mann betrifft – ich bin stark, wir sind hier an schwarze Botschaften gewöhnt.«

Er hing das Bild wieder an die Wand und setzte sich auf den wackeligen Stuhl.

»Ich habe keine schwarze Botschaft, es sei denn die meines eigenen Schicksals.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das zu sagen ist schwer. Es muß Sie befremden, daß ich hier bei Ihnen eingedrungen bin, aber glauben Sie mir, mich trieb kein schändlicher Vorsatz. Ich glaubte nur, mir müßte wohler werden, wenn ich Sie noch einmal gesehen hätte.«

Ihre Augen wurden groß, als er diese Worte sprach, der Schreck trat in ihr Gesicht, sie atmete tief und schwer.

587 »Ich verstehe Sie nicht«, sprach sie beklommen.

»Ich verstehe mich selber nicht.«

»Es wäre vielleicht gut, wenn wir nicht länger allein blieben, verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, es ist gewiß nicht bös gemeint.«

»Ich will hier nur ausruhen und vor mir selber flüchten. Ich habe manchmal sonderbare Gesichte. Vergessen Sie nicht, daß ich es Ihrem Mann zu danken habe, wenn ich hier sitze und mich eine Viertelstunde geborgen fühlen darf. Es gibt Pfade, die von Mensch zu Mensch führen, sie sind schmal und verborgen, aber es wandert sich gut auf ihnen. Auf einem solchen Pfad sind wir uns begegnet, das ist vielleicht nur Schicksal.«

»Aber nicht das meine, Capitaine Foreste.«

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen klarmachen soll, es ist so verworren in seinen dunklen Ursachen. Manchmal wacht einer auf und trägt das Zeichen. Mir ist aber, es dürfte nichts ungesagt bleiben zwischen uns Dreien. Sie sollen Richard einmal später erzählen, was ich Ihnen hier gesagt habe; nur jetzt nicht, das müssen Sie mir versprechen. Ich habe Sie gesehen droben im Wald, ich wußte nicht, wer Sie sind, am wenigsten wußte ich, daß Sie die Frau jenes Menschen sind, mit dem ich soviel glückselige Stunden verlebt und dem ich mein Leben zu verdanken habe. Ich habe Sie nur gesehen, aus der Höhe, zwischen den Bäumen, unter dem Himmel – – ist es ein Verbrechen von mir, daß Sie mir begegnet sind?«

»Nein, das ist kein Verbrechen.«

»Es könnte auch kein Verbrechen sein, wenn ich Sie liebte.«

»Capitaine Foreste!«

»Ein Verbrechen wäre nur, wenn ich Sie jetzt noch begehrte.«

»Das könnte jeder andere tun, aber Sie nicht.«

»Niemals, madame!«

Sie kam lächelnd auf ihn zu, sie war nun ganz ohne Furcht, als sie ihn fragte:

»Und warum nicht, Capitaine Foreste?«

Er dachte eine Weile nach und suchte nach den rechten Worten, um auszudrücken, was er so stark fühlte.

»Treue und Ehre, madame, stehen über der Liebe!«

»Treue und Ehre?!«

»Die Treue dem Freund, die Ehre für Sie und mich!«

Sie schwiegen beide, das Feuer schwatzte und manchmal strich der Dezemberwind über das Dach und rüttelte an den alten Ziegeln.

588 »Sie haben viel an uns getan, Foreste, nicht nur an Richard. Wir können schweigen, aber wir vergessen es nicht. Ein einziger wie Sie kann bewirken, daß man den Glauben nicht verliert.«

»Welchen Glauben?«

»Daß es einen Weg gibt, der zum Frieden führt in der Welt.«

»Nicht in der Welt, aber zwischen den zwei tragischen Völkern Europas.«

Foreste erhob sich und trat vor die Frau hin.

»Ich habe manches getan, was man vielleicht vom Standpunkt des Besatzungsoffiziers verurteilen könnte. Möglich, daß Sie vieles, was ich tat, als angenehm empfunden haben, im stillen aber haben Sie mich vielleicht um dieser Handlungen willen verachtet.«

»Foreste! Was Sie getan haben, wiegt schwer.«

»Es muß ausgesprochen werden, weil Klarheit herrschen muß. Ich habe nichts gegen, alles nur für mein Volk getan.«

»Wer wollte etwas anderes glauben!«

»Eines aber gestehe ich freimütig vor aller Welt und wenn ich dafür sterben müßte: ich habe nicht den Eroberungsplänen meiner Nation gedient!«

»Sondern?«

»Ihrem Ansehen!«

Er gab ihr die Hand, sie sah, daß er tief bewegt war.

»Leben Sie wohl, ich glaube, wir werden uns nicht mehr sehen.«

»Das möchte ich nicht hoffen, Capitaine Foreste. Ich werde lange darüber nachdenken müssen, über das, was Sie mir anvertraut haben. Sie sind mir als Mensch so nahe gekommen, daß ich Sie, bevor Sie jetzt gehen, noch etwas fragen darf.«

»Ich will Ihnen gerne antworten, madame

Sie zögerte noch eine Weile, vielleicht war es schwer, diese Frage zu stellen, sie war mit sich selber unentschlossen, es war vielleicht mehr Neugierde als Drang um Aufklärung.

»Warum«, sprach sie endlich stockend, »warum, wenn Sie mich liebten, sind Sie bis jetzt nicht ein einziges Mal gekommen? Sie hätten genügend Gelegenheit gehabt. Sie hatten alle Freiheiten, ich keine; Sie konnten tun und lassen, was Sie wollten, mein Mann war vertrieben.«

Er hatte schon die Türklinke in der Hand, sein Mund verzog sich zu einem verständnisvollen Lächeln. »Um nicht den Eindruck zu erwecken, als wollte ich für das, was ich getan hatte, einen Dank in 589 irgendeiner mehr oder weniger verdächtigen Form. Wir Bergsteiger sind alle sonderbare Narren.«

Er griff nochmals nach ihrer Hand.

»Leben Sie wohl, Frau Maria.«

Er ging.

Als er in die Ebene hinausfuhr, schob sich immer mehr Gewölk am Himmel zusammen. Er fuhr durch das Weinland, irgendwo bog er nach rechts ab und steuerte dem Rhein zu. Im Wiesengelände, abseits der Straße, sah er eine Pappel stehen, einsam ragte sie mit ihrem kahlen Astwerk in den dunkelgrauen Himmel hinein.

Er hielt an, stieg aus dem Wagen und ging über die nasse Wiese auf die Pappel zu. Erst als er davorstand, sah er einen alten Grabstein. Grüblerisch versonnen las er die verwitterte Inschrift:

Hier ruhet der Leutnant von Litinow vom
russischen Kosakenregiment Sementschenko
† 4. Januar 1814

Er stand still und sann, die Buchstaben verschwammen, aber das kleine Kreuz wuchs ihm entgegen. Was für ein Schicksal mochte dieser gehabt haben! Heimat und Mutter, Liebe, Kampf und Tod, so war es doch im Leben.

Seine Gedanken irrten ab, Madonna Maria sprachen seine Gedanken, Madonna Maria.

Wenn der andere tot wäre, – – die Zeit war hart und gefahrvoll, er war ein verwegener Bursche, – – wenn er umkäme, wenn etwas geschähe, mon dieu, es gab viele Tote in diesem Gespensterland, – – ja, wenn der andere nicht mehr lebte, dann – – dann – – könnte sich ein Weg öffnen, dann wäre das alles – nicht – mehr hoffnungslos, dann – –

Er schrak zurück vor der Schändlichkeit seiner Gedanken, wohin hatte er sich verirrt? In jeder Brust lebte ein Zweiter, und dieser Zweite war jeder niedrigen Handlung fähig. Wer anständig bleiben wollte, mußte zeit seines Lebens auf diesen Zweiten ein wachsames Auge haben.

Wieder las er, was auf dem Grabstein stand. Was für ein Schicksal, Kamerad unter dem Rasen?! Ist es dem meinen verwandt? Es geschah nicht viel Neues in der Welt. Uralt war das Spiel mit dem Herzen.

590 Was für ein Schicksal, Kamerad unter dem Rasen?!

Er hielt den Kopf gebeugt.

Vom Himmel fiel Schnee. Es taumelte lautlos auf ihn nieder, die Schwermut Gottes sank auf die Erde.

 


 << zurück weiter >>