Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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5

Wegen des Sprengstoffattentates auf einen Straßburger Regiezug waren alle Rheinbrücken gesperrt, die berühmten spanischen Reiter waren vorgefahren, die schwarze Wache patrouillierte vor den Eisengittern.

Auf der badischen Seite, in Mannheim, stauten sich die Menschen vor dem Brückeneingang, hier herrschte ein betriebsames und verzweifeltes Leben. Menschen jeglicher Art fanden sich zusammen, eine bunte Mischung von Spekulanten, Schiebern und sonstigen Dunkelmännern gab sich ein abenteuerliches Stelldichein. Regsam tätig und lauernd auf dem Sprung waren alle jenen, die immer und überall das Geschäft witterten, die Zinsen und Provisionen und plötzliche Gewinne aus dem Elend der andern zogen, aus der Schamlosigkeit einer Zeit und aus der Verkommenheit gestrandeter Existenzen.

Es galt die Zeit zu wahren, man konnte handeln, man konnte im Handumdrehen verdienen, das elende und dreckige Geld lag buchstäblich auf der Straße. Ein Glück, daß es so viele Dumme gab, die es nicht sahen, die in ihr Elend marschierten, in die Verbannung und Verzweiflung, ha ha ha, aus Vaterlandsliebe, ha ha, Patriotismus, Nationalstolz, ha ha, zum Totlachen. Hier konnte man Anilindollars handeln und Regiefranken, nur eine Nase mußte man haben. Witterung, sonst nichts.

Anilindollars. Und dann die Kursspanne zwischen der besetzten Reichsmark und der unbesetzten Reichsmark.

Wie bitte, Spanne, was für eine Kursspanne denn? Tölpel, in Ludwigshafen drüben rannte die Mark mit mehr Tempo in die Latrinengasse, habt ihr das noch nicht gemerkt? Drüben ging der Mark, wie den Bewohnern, die Luft aus. Sie strampelten schon, von Westen abgesperrt, von Osten abgesperrt, keine Post, kein Telephon, keine Autos und Beförderungsmittel, dafür ein Heer von Arbeitslosen und Unzufriedenen, von Gedemütigten und Zerbrochenen. Und die französischen Regimenter, die schwarzen Kolonialbataillone im Land. Alle Gefängnisse überfüllt mit Deutschen, viele unter ihnen deportiert und in die Hölle der Strafkolonien verschleppt. Ja, die Mark hatte drüben Vorsprung, man konnte verdienen mitten im Fegefeuer, es 491 gab zu profitieren zwischen den Geschlagenen und Gefolterten. Ein Volk, das am Sterben lag, warf noch Gewinn ab, wenn man nur schlau und skrupellos genug war, die erbärmliche Gelegenheit beim Schopf zu fassen.

Wie stand denn heute die Mark in Berlin? 61,12 Millionen. Und wie wurde sie in Ludwigshafen an der wilden Börse gehandelt? Mit 97,95 Millionen. Wem ging jetzt noch kein Licht auf, von den begehrten Anilindollars sollte gar nicht geredet werden?

Brücken gesperrt? Ho hoo, das Geschäft schlüpfte durch die engsten Maschen, es machte weder Halt vor den spanischen Eisenreitern, noch vor den übel duftenden marokkanischen Soldaten. Das Geschäft sickerte und zwängte sich durch die unsichtbaren Ritzen, für Geld gab es kein Hindernis.

Vor der Rheinbrücke brodelte ein Menschenbrei. Da waren auch üble Frauenzimmer und Zutreiber, da waren Händler mit Bauchläden und Händler mit falschen Pässen, da waren Spione und Spitzel, Lumpen, Bettler und Hasardeure, Agenten und Werber für die Fremdenlegion und wunderliche Seefahrer, die ihre Segel in den Wind der Niedertracht und Volksverräterei stellten, die mit jedem gewünschten Lappen über die Toppen flaggten und die hier nichts mehr zu verlieren hatten, als den letzten schäbigen Rest ihres Gewissens.

»Kaufen Sie ihn, den kleinen Polli-Molli!«

Ein Händler verkaufte Gummipuppen, wenn man ihnen auf den Leib drückte, blähten sie das Gesicht zu einer furchtbaren Fratze auf. Man konnte auch eine Rheinschutzmitgliedskarte von ihm haben.

Industriepapiere. Wieder um dreißig Prozent gestiegen. Norddeutscher Lloyd achtzig Prozent auf der Kletterstange. Zucker kaufen, war jemand da, der Zucker anbot?

Immer mehr Menschen stauten sich, Autos, Motorräder und Schlangen von Fahrzeugen aller Typen. Hochbeladene Wagen mit aufgekauften Waren warteten auf den Passierschein nach Westen. Ausverkauf in Deutschland.

»Wer hat noch keinen, wer will noch einen Polli-Molli?«

Dunkelgrün flutete der Rhein zu Tal, Lastkähne wurden von qualmenden Schleppern zu Berg gebracht, blasig und schaumig wühlten ihre schappernden Radschaufeln das geheimnisvoll düstere Wasser aus.

Es gingen auch viele Schiffe zu Tal, mit Holz beladen aus pfälzischen Wäldern, mit Schwellen und Masten und bis zur Bordlinie geladener Schnittware, vielleicht in Maximiliansau verladen, auf 492 dem Wasserweg nach Holland und Belgien. Holz aus kahlgeschlagenen pfälzischen Wäldern, Eichen aus dem Bienwald und aus den Gräfensteiner Gemarkungen, Kiefern und Buchen aus den Staatsforsten bei Johanniskreuz, auch Kanadierpappeln und die letzten Eichen aus dem Wasgenwald.

Die toten Wälder reisten zu Tal, sie sahen den Rhein, sie sahen die Welt, aber sie waren blind und tot, was sollten ihnen die Wunder der Weite. Andere reisten per Achse, in ganzen Güterzügen Tag und Nacht, in Dutzenden von 20-Tonner-Langholzwagen als Rundhölzer; wieder andere gestapelt und geschichtet in offenen 15-Tonnern, belgische Schwellen, französische Schwellen, Leitungsmasten und Sinistriertenbauholz. Sie feierten alle einen großartigen, einen historischen Tod, sie waren Beute der Pfänderpolitik, viele schmutzige Hände hatten sich beim Verschachern in ihrer Reinheit gewaschen, sie reisten via Wissembourg, via Saarbrücken und via Luxembourg.

»Nehmen Sie doch den Polli-Molli – – Anilindollar meinen Sie? Psst, 367 frei Hand.«

»Mensch, wenn du Zaster hättest, ein Waggon französische Schuhe!«

»Französische Sch – –?!«

»Na ja, es gibt französische Offiziere, die gerne mal ein Nebengeschäft machen. Schscht, Maul halten, die Weiber kosten Geld, die französischen Weiber – – Mensch, so was! Glaubst du, die waschen sich? Rien du tout, Wasser nix gutt, Puder drauf und Schminke drauf, so was von Geruch, hast du schon gehört, mit dem passiven Widerstand soll es am A – – sein?«

Aus den Schloten der Anilinfabrik stieg dick und giftig der Rauch hoch, er lagerte sich grünlich und gelb über dem Rhein, in fürchterlich penetranten Fahnen wehte er an den sonderbaren Flaggenmasten.

Da waren auch Menschen, die nichts von alledem hörten, sie saßen stumm auf Kisten und Kasten und warteten. Sie wollten nach Hause, sie hatten nur den einen armseligen Wunsch: heim, auch wenn es noch so erbärmlich war, heim, auch wenn die Heimat in Fesseln sich wand, wenn Blut und Peitsche herrschten und Menschenunwürde umging. Heim, auch unter den schlimmsten Bedingungen!

Sie saßen vor der Brücke am Straßenrand und warteten mit gesenkten Köpfen, manche schlafend, denn unter ihnen waren welche, die schon zwei und mehr Tage und Nächte saßen und nur immer warteten. Sie hatten Kinder, die zwischen den Gepäckstücken lagen, andere trippelten umher, einige hatten den Polli-Molli, aber sie waren schon zu 493 müde zum Spielen. Sie hatten bleiche Gesichter und eingesunkene Augen, sie waren entstellt vom Straßenschmutz, ihre Kleider waren zerdrückt und die Schuhe voll Staub.

Um fünf Uhr heute nachmittag sollte die Brücke geöffnet werden, wer dann Glück hatte, kam hinüber, man mußte auf dem Sprung sein.

Die Senegalneger mit den langen Bajonettgewehren liefen wie Uhrwerk auf und ab. Auf dem Wachhaus wehte die Trikolore.

Ein Glück, daß es noch Menschen gab, die für Zerstreuung sorgten. Es waren Orgelmänner da, die alte Moritaten drehten und gut verdienten, es wurde nicht geknausert, fünf Millionen, da nimm, es soll uns nicht darauf ankommen, schau uns an, wir sind Milliardäre.

Ein Zauberkünstler machte ganz verrückte Sachen, er hatte sechs Stahlringe, man durfte sich die Ringe anschauen, er warf einzelne unter das Publikum, dann fing er sie wieder auf und klingelte mit ihnen, um noch mehr Milliardäre anzulocken. Jeder hatte sich überzeugt, daß die Ringe massiv und fest und ohne Einschnitt waren. Jetzt waren also die Ringe auseinander, jeder einzeln für sich, und jetzt – zack, zack, hingen die Ringe zusammen, sie bildeten eine Kette, ach du lieber Gott, war es denn möglich?

Manchmal starrten die Senegalesen herüber, sie waren fürchterlich fremd hier, vielleicht träumten sie vom Wüstensand oder von Schnaps und Bordellen mit weißen Frauen.

Es bildete sich ein Kreis um den Zauberer, die Menschen gafften und staunten, sie kratzten sich an den Hinterköpfen und sannen nach, wie das wohl möglich wäre.

»Spiegelfechterei«, riefen sie, »er begaunert uns. Es gibt überhaupt nur noch Schwindel.«

»Hexen kann keiner«, mischte sich ein Mädel ein und machte ein großartig freches Gesicht. Sie war fast bäuerlich aufgemacht, trug ein geblümtes Kattunkleid und ein sauberes Kopftuch, gelb, mit roten Tupfen.

»Ein Spiegelfechter«, meinte sie lachend und gab fünf Millionen. Eine wahre Hexe, wie sie dastand und die Zähne bloßlegte. Die beinahe schwarzen Haare kringelten sich unter dem Kopftuch hervor, sie hatte dunkle Augen, ein rundliches Gesicht und einen üppigen Mund, Gott hatte sie nicht im Zorn erschaffen, nein, sie war ihm gut geraten, alle Hochachtung.

Nebenbei, war das nicht Franziska, die Tochter vom Fischer Pistorius in Sandheim? Was wollte der Sausewind denn im Badischen? 494 Vor ihrem Vater hatte man sich in acht zu nehmen, der riß bei den freien Bauern den Mund gefährlich auf.

»Mach's mal nach, du Schlampe«, schimpfte der Zauberer und klingelte mit den Ringen, »immer frech wie die Laus im Grind.«

Die Leute lachten und schauten mit einemmal alle woanders hin. Ein Sanitätswagen kam, eine Frau hatte Krämpfe bekommen; dort lag sie, zwei Sanitäter luden sie in den Wagen. Der Wagen fuhr fast lautlos ab.

Der Schwarzkünstler wartete mit einem Kartenkunststück auf, die Menschen schenkten ihm wieder Beachtung. Er ließ eine Karte ziehen, mischte, die Karte war verschwunden. Nein, der Herr hier hatte sie hinterm Hut stecken.

Es war längst fünf Uhr, aber die Brücke war immer noch geschlossen. Die Sonne sank schon in den Qualm und Brodem, der über der Stadt Ludwigshafen lagerte. Die Schlote der Anilin stießen ihren schwefelgelben Qualm aus. Die Menschen warteten, Kinder weinten, Frauen saßen mit baumelnden Köpfen, die Haare hingen in die Stirn, knochige, abgearbeitete Hände lagen im Schoß.

»Mas que coisa, mit dem Kartenkniff, das mache ich im Schlaf.«

Schon wieder einer, der welsche Brocken kaute?

Die Leute drehten die Köpfe. Ho hoo, ein sauberes Zweigespann. Kurios, ein Großer und ein Kleiner, wie aus einem amerikanischen Film. Der Große war blond, hatte schlaue Grauaugen und ein unternehmungslustiges Gesicht. Wenn er lachte, sah man gleichmäßige, große Zähne, nicht ganz weiß, sondern mit einem gelblichen Schimmer. Der Kleine wollte gar nicht zu ihm passen, er hatte dunkle Augen und Haare, ein sonderbar mürrisches, beinahe verschlagenes Gesicht, leicht gebogene Säbelbeine und eine fleischlose stumpfe Nase. Über der Nasenwurzel standen einige steife Haarborsten. Beide waren flott gekleidet, prima Homespunanzüge, graue Hüte und Handschuhe aus Schweinsleder, gar nicht zu reden von den eleganten, amerikanischen Schuhen mit Doppelsohlen und reichen Einsätzen. Börsenjobber? Nein, sie hatten mit den fliegenden Börsen nichts zu tun, der Himmel mochte es wissen, wie sie hierher kamen, vielleicht wollten sie aufkaufen; Waren aufkaufen, Antiquitäten, Häuser, Grundstücke, Bauerngüter. Waren sie durch das berühmte Loch im Westen gekommen?

Der Große zeigte die gelben Zähne, er konnte wirklich herzlich lachen, Kotz und Kaffer, er hatte am Ende die Tasche voll Dollarscheine, er war ein Prinz aus dem fernen Märchenlande. Man konnte 495 nur so staunen, er trug eine goldene Krawattennadel, einen sich schlängelnden Salamander darstellend. Sie trugen auch beide Ringe, breite Goldringe mit Totenköpfen und funkelnden Steinen, der Kleine gar konnte mit Ohrringen aufwarten.

»Meine Herrschaften«, fuhr der Artist fort, »ich habe diesen Trick in ganz Europa gezeigt, jetzt kommt der Pappdeckel-Yankee dort und will Katzendreck aus mir machen.«

Er schob die Hemdärmel hoch und nahm die Karten mit spitzen Fingern. »Hundert Millionen demjenigen, der mir den Trick nachmacht, hundert sage ich in die blanke lamäng.«

Da grub der Große mit dem Homespun und der Salamanderkrawattennadel beide Arme in die Menge, bahnte sich einen Weg und stieß zum Schwarzkünstler vor.

»Her damit, Bugio!« sprach er lachend, zog die hellen Lederhandschuhe aus und griff nach den Karten. Er mischte mit behender Emsigkeit und schaute sich freundlich grinsend seine Zuschauer an. Sein Begleiter, der kleine Säbelbeinige mit den steifen Brauenhaaren über der Nasenwurzel, stand außerhalb und wühlte mit den Händen in den weiten Hosentaschen. Er hatte ein Auge auf das appetitliche Mädel mit dem getupften Kopftuch. Natürlich, er machte sich immer näher an sie heran, schon stand er an ihrer Seite.

»Puxa!« sprach der Große und ließ eine Karte ziehen. Auch er schob die Rockärmel hoch, mischte wiederum und gab dem Mann die Karten mit der Aufforderung, er möchte die von ihm gezogene Karte suchen.

Sie war verschwunden.

»Paß auf«, sprach der Kleine zu der hübschen Bauernkröte, die neugierig den Hals reckte, »er ist ein verfluchtes Tatu.«

Was wäre er, ein Tatu?! Der Teufel verstand diese Sprache. Der Teufel auch sollte aus der nächsten Ofenröhre fahren, wenn das nicht die Fischerstochter Fränz war!

Wo befand sich denn nun die Karte, bitte etwas mehr Tempo, aha, es ging wohl schief, der Pappdeckelyankee hatte das Maul zu voll genommen. Er schaute sich ängstlich um, hatte ihm jemand einen Streich gespielt?

Er bohrte die Blicke drohend in den Zauberer. Die Leute lachten, der Polli-Molli-Verkäufer schob gaffend seinen Bauchladen in die Zuschauermenge.

»Du Gamba«, rief der Lange mit der Salamandernadel, »du hast mir die Karte genommen!«

496 »Ich?!« Der Zauberer war empört, er lachte laut und freute sich, weil der andere an der Fliegentüte klebte.

»Du hast sie weggenommen, morra merda!«

»Fällt mir nicht ein, du hast wohl lange kein Mundenheimer Kandelwasser mehr gesoffen?!«

»Dann schau in deinen Rocktaschen nach!«

Daran sollte es nicht fehlen, der Artist wendete die linke Rocktasche um, er wendete – – –

»Jetzt schau hin!« tuschelte der Säbelbeinige dem Mädel zu, »jetzt platzt die Bombe!«

– er wendete die rechte Tasche um und hielt die gesuchte Karte in der Hand.

Großes Gelächter, Beifall, verfluchter Kalendermacher.

»Apoiado!« brüllte sein Freund und klatschte in die Hände, sein Gesicht aber blieb finster, er zog furchtbare Falten in die Stirn und trampelte mit den Beinen.

»Wer seid ihr denn eigentlich?« fragte das Mädchen und nahm das Tuch vom Kopf, vor lauter Aufregung juckten ihr die Haare.

»Brasilianer. Du gefällst mir, du Borboleta.«

Er schaute sie mit funkelnden Augen an, er trat von einem Bein aufs andere und war ganz unruhig vor lauter Verlangen nach diesem schmackhaften Bissen.

»Brasilianer?« Sie stieß ein kurzes spöttisches Lachen aus, »das kannst du Dümmeren erzählen.«

Jetzt zerteilte der Große wiederum mit seinen kräftigen Armen die Menge und kam stolz und lachend herbei. Die hundert ausgesetzten Millionen sollte der Kartenkünstler nur behalten. Nein, er brauchte keine hundert Millionen, das wäre noch schöner. Er zog die Ledernen wieder an.

»Du hast dir einen sauberen Kolibri gefangen«, sprach er lachend zum Freund und betrachtete das Vögelchen mit Wohlgefallen.

»Willst du auch über die Brücke?«

»Natürlich will ich über die Brücke, glaubt ihr vielleicht, ich stehe mir wegen euch die Beine hier in den Bauch?«

Sie hielt seinem Blick stand, sie schauten sich unternehmungslustig an, der Kleine runzelte gefährlich die Stirn und spielte nervös an einem Ohrring.

»Damit du es weißt«, sprach er hart, »den Kolibri habe ich gefangen.«

497 Vielleicht hätte es eine kleine Sache gegeben, aber die allgemeine Aufmerksamkeit wendete sich dem Brückenkopf zu. Über die Brücke wurde nämlich ein Trupp Männer gebracht. Sie trotteten in einem Haufen und waren von schwarzen Soldaten flankiert. Voraus schritt ein französischer Offizier, ein Chasseur d'Afrique, er schwang die Reitpeitsche und rauchte eine Zigarette.

Bewegung kam unter den dumpfen Menschenhaufen. Sie erhoben sich aus Schlaf und Teilnahmslosigkeit, sie rüttelten ihre Kinder hoch, sie drängten alle zusammen angstvoll staunend zur Brücke vor, es war wie ein großer Brei, der auf den eisernen Rachen sich zuschob, sich drängte und staute mit Pack und Sack, Kisten und Bündeln und Koffern. Auch unter die Autos und Fuhrwerke, unter die Karren und Handwagen kam Bewegung. Motore wurden angeworfen, Peitschen knallten, Pferde schüttelten sich im Geschirr, es stank nach verbranntem Öl und Auspuffgasen, ein höllisches Getöse wurde plötzlich wach.

Und der eiserne Rachen spaltete sich, die Zähne schoben sich zum Fraß auseinander, man hörte Kommandos, dann war der Rachen gähnend geöffnet.

Aber er fraß noch nicht, er spie zuerst aus.

Einen Trupp traurige und trübsinnig dreinschauende Menschen spie er aus. Die Menschen trugen nur das Notwendigste in Bündeln, Packen und Rucksäcken.

Es bildete sich eine Gasse, sie schritten schweigend und verstört durch diese Menschengasse, sie gingen weiter, bis sie fast allein unter sich waren. Dann blieben sie wie auf Befehl stehen und schauten sich um.

Wohin schauten sie denn?

Zurück.

Ins Leere.

Nur undeutlich sahen sie die Brücke, den gelben Qualm und den dämmerigen Abendhimmel. Manche waren verzagt, andere wieder versuchten, die Verzagten aufzuheitern, sie hatten den Mut nicht verloren, nein, sie schauten voll Hoffnung in die neue Welt, die sich vor ihnen auftat.

Der Rachen schloß sich wieder, alle, die gehofft hatten, fielen in neue Zerknirschung.

Sie warteten weiter, es war nun schon einerlei, man konnte hier auch verhungern und verkommen, es war wirklich ganz einerlei. Die Senegalesen lachten, nur die schwarze Wache lachte nicht, mit dem 498 Stahlhelm schritt sie auf und ab, stumm und mit starrem Gesicht, in dem nur die unheimlichen Feuer der Augen brannten.

In einer Stunde, hieß es, ginge die Brücke auf, die meisten glaubten es schon nicht mehr. Die Aufmerksamkeit wandte sich dem Trupp Menschen zu, die man wie eine Herde über den Rhein getrieben hatte.

Es waren ausgewiesene Forstleute, viele trugen noch die grünen Joppen und die Wäldlerhüte. Auch einige vertriebene Eisenbahner waren noch unter ihnen, es waren die letzten, das Land war bald frei von ihnen. Dafür gab es von Tag zu Tag mehr Erwerbslose, ihre Zahl wuchs wahrhaftig erschreckend, schon waren es beinahe 50 000. Ihnen standen über 5000 ausgewiesene Reichsbeamte gegenüber mit ihren Angehörigen, dazu kamen die ausgewiesenen Landes- und Gemeindebeamten und die Angehörigen der freien Berufe. Insgesamt waren bereits 18 000 Pfälzer von ihrer Scholle vertrieben.

Der Trupp wurde jetzt von Abgesandten der Abwehrstelle Heidelberg in Empfang genommen. Sie setzten sich in Bewegung, langsam und schlurfend, sie hatten den Rest von aufrechter Haltung verloren, sie wankten wie eine müde Herde dahin, es war nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregen konnte.

Manche von ihnen schauten sich immer wieder um, als ob das Unheil hinter ihnen herkäme. Immer noch sahen sie die Brücke, die flatternde Trikolore und den qualmgeschwängerten Himmel.

 


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